Briefing aus Bern

Nationalrat will präventiven Freiheits­entzug, keine Förderung für Online­portale – und: «Da wird mir übel»

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (107).

Von Andrea Arežina, Elia Blülle, Dennis Bühler und Bettina Hamilton-Irvine, 25.06.2020

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Nicht mehr ausserordentlich, sondern nur noch besonders: So sieht der Bundesrat die Lage, in der wir uns seit letztem Freitag befinden. Auch in der besonderen Lage hat der Bundesrat noch deutlich mehr Macht als normalerweise – er kann gemäss Epidemien­gesetz zum Beispiel ein Impf-Obligatorium für gewisse Personen­gruppen erlassen. Der Unter­schied zur ausser­ordentlichen Lage ist aber: Der Bundesrat muss zuerst formell die Kantone konsultieren, bevor er Mass­nahmen anordnet.

Neue Einschränkungen sind im Moment jedoch kein Thema: Am Montag wurden die meisten Massnahmen aufgehoben. So sind nun Veranstaltungen mit bis zu 1000 Personen wieder möglich, in Restaurants besteht keine Sitz­pflicht mehr, und die Polizei­stunde ist aufgehoben.

Der Mindest­abstand zwischen zwei Personen wird zudem von 2 auf 1,5 Meter reduziert. Die Homeoffice-Empfehlungen werden genauso aufgehoben wie die Vorgaben zum Schutz der Gruppe besonders gefährdeter Personen. An Demonstrationen gibt es keine Ober­grenze für die Anzahl teilnehmender Personen, es gilt aber eine Masken­tragpflicht. Andere Gross­veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen bleiben bis Ende August verboten.

Die weitgehende Rück­kehr des öffentlichen Lebens gefällt nicht allen. Matthias Egger, Chef der Corona-Task-Force des Bundes, kritisiert den umfassenden Lockerungsschritt in diversen Zeitungen. «Für die jüngsten Lockerungen sind wir noch nicht bereit», sagt er. Denn die Mass­nahmen zur Bewältigung eines erneuten Anstiegs der Infektionen seien noch nicht vollständig bereit. So sei es beispiels­weise noch unklar, wie gut das Contact-Tracing funktioniere. Die Schweizer Covid-App ist ab heute einsatzbereit.

Der Bundesrat hat indes bereits «eine Aussprache» über die Bewältigung einer allfälligen zweiten Welle geführt, wie er mitteilt. Für die Regierung ist klar: Die Haupt­verantwortung soll bei einem Wieder­anstieg der Covid-19-Fälle bei den Kantonen liegen. Kantone, die eine Zunahme der Fall­zahlen fest­stellen, «sollen diese mit geeigneten Mass­nahmen bewältigen».

Und damit zum Briefing aus Bern.

Antiterrorgesetz: Nationalrat will präventive Massnahmen

Worum es geht: Eine minder­jährige Person präventiv unter Haus­arrest setzen, obwohl sie noch keine strafbare Handlung begangen hat? Geht es nach dem Nationalrat, soll das in Zukunft möglich sein: Er hat dem neuen Antiterrorgesetz zugestimmt, das der Polizei neue Möglich­keiten geben soll. Bereits heute können die Behörden einschreiten, wenn jemand einer Terror­organisation angehört oder einen Anschlag vorbereitet. Neu soll die Polizei aber auch gegen sogenannte Gefährder vorgehen können, bei denen das Straf­recht bisher nicht greift. Abgelehnt hat der Nationalrat den Vorschlag der Sicherheits­kommission, Personen präventiv ins Gefängnis zu stecken.

Warum Sie das wissen müssen: Der Gesetzes­vorschlag wurde im Vorfeld heftig kritisiert. Bereits Mitte Mai hatte die Menschenrechts­beauftragte des Europarats dem Parlament mitgeteilt, die Vorlage entspreche in mehreren Punkten nicht den Menschenrechten. Fünf Uno-Sonder­bericht­erstatterinnen schrieben Justizministerin Karin Keller-Sutter einen 16-seitigen Brief, in dem sie warnen, das Gesetz bereite den Weg für willkürliche Freiheitsentzüge und werde «zu erheblichen Verletzungen der Menschen- und Grundrechte» führen. Auch Rechts­professor Andreas Donatsch warnt in einem vom Justiz- und Polizei­departement selber in Auftrag gegebenen Gutachten vor einer Verletzung der Menschenrechts­konvention. Es genüge nicht, jemanden als gefährlich einzustufen, um ihm präventiv die Freiheit zu entziehen. Wie wenig es braucht, um Personen als gefährlich zu deklarieren, zeigt die Geschichte von Sami A., über den die Republik berichtet hat.

Wie es weitergeht: Die Vorlage geht nun zurück an den Ständerat, der in einer ersten Runde bereits zugestimmt hat. Ebenfalls zurück an den Ständerat geht eine zweite Vorlage, die das Anwerben, die Ausbildung und Reisen im Hinblick auf einen Terror­akt unter Strafe stellen will. Der Nationalrat hat sie am Dienstag gutgeheissen.

Medienförderung: Onlineportale gehen leer aus – vorerst

Worum es geht: Zum Ende der Sommer­session hat sich der Ständerat am vergangenen Donnerstag mit der Medien­förderung befasst. Nach einer mehr als vier­stündigen Diskussion sprach er 120 Millionen Franken und somit 50 Millionen mehr, als der Bundesrat beantragt hatte – profitieren soll jedoch ausschliesslich die gedruckte Presse. Ein Grossteil des Geldes wird an die vier grossen Verlage TX Group, Ringier, NZZ und CH Media gehen, obwohl diese «im letzten Jahr zusammengezählt 370 Millionen Franken Gewinn erwirtschafteten», wie der parteilose Ständerat Thomas Minder vorrechnete.

Warum Sie das wissen müssen: Viel zu reden gab die Frage, ob auch Online­medien staatlich gefördert werden sollen. Zwar schuf der Ständerat die dafür nötige gesetzliche Grund­lage knapp mit 22:19 Stimmen, doch entschied er sich dagegen, die Ausgaben­bremse zu lösen. Somit kann bis auf Weiteres kein Geld fliessen. «Eine absurde Situation», wie die Gewerkschaften monierten. Dennoch ist es alles andere als ausgeschlossen, dass ab kommendem Jahr auch Online­medien gefördert werden. Denn es gilt als wahrschein­lich, dass der Nationalrat im September sowohl dem Gesetz als auch der Lösung der Ausgaben­bremse zustimmt – und der Ständerat danach auf seinen Entscheid zurückkommt.

Wie es weitergeht: Am Dienstag beginnt die zuständige Kommission des Nationalrats mit der Beratung des Geschäfts, im September kommt es in die grosse Kammer. Danach ist wieder der Ständerat an der Reihe. Ziel von Bundesrat und Parlament ist es, die Medien­förderung bis Ende Jahr neu ausgerichtet zu haben – in der Hoffnung, dass die zuletzt durch die Pandemie beschleunigte Medienkonzentration bis dahin nicht noch weiter fortgeschritten ist.

Zivildienst: Keine höheren Hürden für Wechsel aus Armee

Worum es geht: Der Nationalrat hat in der Schlussabstimmung eine Vorlage versenkt, mit welcher der Bundesrat die Zulassung zum Zivildienst erschweren wollte. Er hatte unter anderem vorgeschlagen, dass bereits geleistete Militärdienst­tage nicht mehr angerechnet werden. Damit hätte er die Einsatz­zeit für Soldaten verlängert, die ab dem ersten Wiederholungs­kurs in den Zivil­dienst wechseln.

Warum Sie das wissen müssen: Die Armee befürchtet, dass ihr die Soldaten ausgehen. Seit der Abschaffung der Gewissens­prüfung im Jahr 2009 leisten sehr viel mehr Männer Zivil­dienst. Mit dem neuen Gesetz wollte der Bundesrat den Zivil­dienst weniger attraktiv machen, obwohl er bereits heute anderthalbmal so lange dauert wie der Militärdienst.

Wie es weitergeht: Obwohl der Ständerat die Vorlage akzeptiert hat, ist sie nach der nationalrätlichen Schluss­abstimmung nun vom Tisch. Ausserdem: Seit zwei Jahren sinken die Zivildienst­zulassungen wieder. Gut möglich, dass damit auch die Bestands­sorgen der Armee wieder verschwinden.

Einkommen von Frauen: Bund soll Datenlücke schliessen

Worum es geht: Unerwarteter­weise hat der Nationalrat vergangene Woche ein Postulat angenommen: Es verpflichtet den Bund zu klären, wie regel­mässig Statistik geführt werden könnte über geschlechter­spezifische Einkommens­unterschiede und andere wichtige Daten zu unbezahlter Arbeit und Lohn­diskriminierung.

Warum Sie das wissen müssen: Lohn­diskriminierung, Teilzeit­arbeit und unbezahlte Arbeit sind weiblich – das zeigen Statistiken der Europäischen Union. Nun soll der Bund erklären, wie der «Gender Overall Earnings Gap» erhoben werden könnte. Damit ist eine spezifische Daten­auswertung gemeint, die sowohl die bezahlte wie auch die unbezahlte Arbeit von Männern und Frauen erfasst und daraus berechnet, wie gross die Lücke zwischen dem Einkommen von Männern und Frauen ist. Heute macht das für die Schweiz das statistische Amt der Europäischen Union – alle vier Jahre. Nach der Überweisung des Postulats von SP-Nationalrätin Samira Marti könnte das in Zukunft die Arbeit des Bundesamts für Statistik sein.

Wie es weitergeht: Das Postulat liegt jetzt auf dem Tisch des Bundesrates, der zwei Jahre Zeit hat, darauf zu reagieren.

Hochseeflotte: Prozess gegen Schweizer Reeder gestartet

Worum es geht: Am Berner Wirtschafts­strafgericht hat diese Woche der Prozess gegen den Reeder Hansjürg Grunder begonnen. Grunder soll sich vom Bund widerrechtlich überhöhte Bürgschaften für Schiffe verschafft haben – und sich selbst Vermögens­vorteile von über 100 Millionen Franken. Es handelt sich um einen der grössten mutmasslichen Betrugs­fälle der jüngeren Schweizer Geschichte. Publik geworden war er 2017 durch Recherchen der «Aargauer Zeitung».

Warum Sie das wissen müssen: Weil der Bund für ein gutes Dutzend der von Grunder bei japanischen und chinesischen Werften in Auftrag gegebenen Frachter und Tanker bürgte, verlor er weit über 200 Millionen Franken an Steuer­geldern, als dem Reeder das Geld ausging. Die Anklage wirft Grunder vor, er habe durch simulierte Verträge den Eindruck erweckt, dass die Bau­preise der Hochsee­schiffe um 20 Prozent höher waren als in Wirklich­keit. Dadurch habe er vom Bund überhöhte Bürg­schaften und von den Banken über­höhte Kredite erwirkt. Mit dem Gewinn habe er sich ein Leben in Saus und Braus finanziert. Schon vor zwei Jahren zog die Staatsanwaltschaft einen Grossteil seines Vermögens ein, darunter drei Luxus­autos, eine Harley Davidson, zwei Boote und neun Grundstücke. Vor Gericht ging Grunder nicht auf die Vorwürfe ein, da er ohnehin «seit Jahren schon verurteilt» sei.

Wie es weitergeht: Das Beweis­verfahren ist abgeschlossen, nächste Woche folgen die Partei­vorträge. Wie die übrigen Privat­kläger hat auch der Bund angekündigt, Schadenersatz geltend machen zu wollen. Das Urteil wird für den 9. Juli erwartet. Grunder ist nicht der einzige Akteur der Hochsee­schifffahrt, der dem Bund riesige Verluste beschert hat: Noch immer sind 375 Millionen Franken an Bundes­bürgschaften offen.

Wutausbruch der Woche

Hans-Peter Portmann hat die Schnauze voll. Ihm hänge das «Männer­bashing in diesem Saal langsam zum Hals heraus», sagte der FDP-Nationalrat am letzten Donnerstag im Parlament während einer Diskussion über Gleich­stellung. Auf Twitter schob er später nach: «Ich habe diesen linken Kindergarten langsam satt!» Und in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» schimpfte er weiter: Drei Wochen lang hätten linke Frauen «bei jedem Votum die Männer schlecht­gemacht». Dermassen abschätzig hätten die Frauen über die Männer geredet: «Da wird mir übel.» Nun mag man sich fragen, was Portmann denn so in Rage versetzt hat: Beleidigungen? Beschimpfungen? Dreckige Witze? Nein – er habe sich «pausenlos anhören» müssen, «wie sehr die Frauen während der Corona-Krise benachteiligt werden und wie böse die Männer sind», sagt Portmann. Und das Schlimmste? Mehrere linke Parlamentarierinnen hätten ihre Reden mit den Worten begonnen «Liebe Männer und noch mehr liebe Frauen». Wir verabschieden uns zum Ausgleich bei allen lieben Frauen und allerliebsten Männern und finden: Solange noch Liebe im Spiel ist, ist nicht alles verloren.

Illustration: Till Lauer

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