Im Osten nichts Neues
SVP-Politikerin Esther Friedli schwärmt von ihren Kindheitsausflügen im Kofferraum und CVP-Präsident Gerhard Pfister vom unwiderstehlichen Appeal einer Mittepartei. Wahljahr-Serie «Homestory», Folge 19.
Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Goran Basic (Bilder), 10.10.2019
Eine der letzten Stationen unserer – bescheiden gesagt – epochalen Wahljahrserie führt uns ins Toggenburg. Eine Region, die für uns zwei Herzblutprotestanten eine grosse Bedeutung hat. Hier begann unser geliebter Reformator Zwingli seinen Kampf gegen den Ablasshandel, das Söldnerwesen und einfach sonst alles, was Spass macht. Noch heute spüren wir seine Nachwirkungen in der Zwinglistadt Zürich. Gut so. Wer braucht schon Hedonismus, wenn er ewiges Leben haben kann?
Unser Ziel an diesem wunderbaren Spätsommertag ist Ebnat-Kappel und der Landgasthof «Haus der Freiheit», der von SVP-Nationalratskandidatin Esther Friedli geführt wird, gemeinsam mit ihrem Lebenspartner, dem Alt-Nationalrat Toni Brunner.
Obwohl wir unsere Politkommissar-Fellmützen zu Hause gelassen haben, erkennt uns Brunner sofort als Republik-Mitarbeiter. Er selber sei hier nur der «Gango», sagt der ehemalige SVP-Präsident, während er uns an unseren Tisch geleitet. Wir bestellen Kalbsschnitzel, doch «Chef de Service» Toni schwatzt uns zur Vorspeise auch noch hausgemachte Mostbröckli von der geschlachteten Mutterkuh Violet auf. «Die besten Mostbröckli der Schweiz», wie er sagt. Wir sind ihm dankbar. Sie sind hervorragend.
Nach exquisiten Kalbsschnitzeln und einer Kugel Schokoladenglace dämmert uns, dass wir besser Restauranttester geworden wären als Politjournalisten.
«Wo drückt in diesem Land der Schuh, Frau Friedli?», fragen wir nach dem Dessert.
Wer hätte es gedacht: Esther Friedli stört sich an den zunehmenden Regulierungen.
«Ich würde mich stark dafür einsetzen, dass nicht alles bürokratisch geregelt wird», sagt die studierte Politologin und Sekretärin der St. Galler SVP. «Wenn ich sehe, wie wir in unserem kleinen Gastrobetrieb mit Auflagen konfrontiert sind: Wir ertrinken in der Bürokratie. Selbstverständlich braucht es gewisse Vorgaben betreffend Hygiene und Lebensmittel. Aber was wir alles im Detail auflisten müssen, bringt uns an die Grenze des Erträglichen. Und dann die ganzen Formulare und Umfragen vom Bundesamt für Statistik: eine Kontrollflut. Man muss über jede Übernachtung Buch führen.»
Der Staat breite sich immer mehr aus, sagt die ehemalige Generalsekretärin des St. Galler Bildungsdepartements. «Ich habe sechs Jahre in der kantonalen Verwaltung gearbeitet. All die Leute dort, die müssen ja etwas zu tun haben. Niemand würde sich selbst wegrationalisieren. Also erfindet man Projekt um Projekt.»
Der gesunde Menschenverstand gehe immer mehr verloren.
«Heute darf man Kinder unter zwölf Jahren nicht ohne Kindersitz transportieren», sagt Friedli. «Wir sassen als Kinder noch zu dritt im Kofferraum, Erlebnisse, an die man sich bis heute erinnert.»
Wir sind voll und ganz auf Friedlis Seite. Am liebsten wäre es uns, wenn die Kinder rauchend, alte Batterien aus dem Fenster werfend zu siebt im Kofferraum spielten. Aber diese Freuden passen leider nicht mehr in den Helikoptereltern-Zeitgeist.
Zwei seriöse Republik-Reporter touren kreuz und quer durch die Schweiz und suchen Politikerinnen heim. Sie wollen die Demokratie retten … obwohl, nein, eigentlich wollen sie sich vor allem betrinken und dass die Politiker sie nicht mit Floskeln langweilen. Das ist «Homestory» – die Wahljahr-Serie. Zur Übersicht.
Folge 3
Protestantische Disziplin, katholischer Genuss
Folge 4
Lust for Life
Folge 5
Highway to the Danger Zone
Folge 6
Und täglich grüsst das Murmeltier
Folge 7
Like a Prayer
Folge 8
Black Hawk Down
Folge 9
Brokeback Olten
Folge 10
Kommando Leopard
Folge 11
In einem Land vor unserer Zeit
Folge 12
Straight White Male
Folge 13
When the Man Comes Around
Folge 14
Die Posaune des linksten Gerichts
Folge 15
Guns N’ Roses
Folge 16
Wir Sonntagsschüler des Liberalismus
Folge 17
Alles wird gut
Folge 18
Höhenluft
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Folge 20
Here We Are Now, Entertain Us
Ein weiteres Beispiel für sinnlose Regulierungen sei das Hundegesetz, sagt Friedli. «Es gab diesen tragischen Vorfall, wo Hunde ein Kind totgebissen haben. Wegen dieses Einzelereignisses wurde ein riesiger Kontrollapparat aufgefahren, der nichts gebracht hat. Wir hatten einen Hund, der auf Toni registriert war. Damit ich den vorgeschriebenen Hundekurs besuchen konnte, musste ich den Hund von Toni adoptieren. Ich unterstütze keine Politik, die aus Einzelereignissen gemacht wird. Das ist nicht meine Art.»
Auch hier sind wir voll mit Friedli. Schon kurz davor, eine SVP-Parteimitgliedschaft zu beantragen, kommt uns im allerletzten Moment der leise Verdacht, dass es Friedlis Partei selbst ist, die Weltmeisterin darin ist, Einzelereignisse zu Staatskrisen hochzuschrauben.
Zum Beispiel, als im Juli dieses Jahres ein geistig verwirrter Mann aus Eritrea in Frankfurt am Main ein Kind vor einen Schnellzug stiess.
«Ihre Partei hat dieses Ereignis instrumentalisiert, um mal wieder gegen die Asylpolitik von Simonetta Sommaruga zu schiessen. Es wurde gebrüllt, dass einem übel wurde.»
«Aber nicht von allen», sagt Esther Friedli.
«Aber von der grossen Mehrheit. Aeschi und Köppel sind vermutlich heute noch heiser.»
Wir schweigen uns an und merken beiderseits, dass das mit der SVP-Mitgliedschaft vielleicht doch nichts wird.
Die Schweizer Fahne weht, die Sonne scheint, der Blick auf die Churfirsten ist ungetrübt: Im «Haus der Freiheit» ist jeden Tag ein bisschen 1. August. Toni Brunner, der Star der Beiz, begrüsst mit seinem Strahlegesicht alle Gäste persönlich. Dann trägt er eine alte Frau im Rollstuhl die Treppe hoch und fährt sie mit seinem Auto zum nächsten Bahnhof. Hier, auf der gut gefüllten Terrasse, merkt man, dass die SVP mehr ist als eine Partei, sondern eine Bewegung, ein Lebensgefühl. Der Ort ist ein Gegenstück zu den linken Kulturzentren in den Städten: Man veranstaltet Jassturniere, Musiknachmittage, Lesungen, Diskussionsrunden, und das Kalb, das wir verspeisen, hiess auch Toni und kommt aus dem Stall, der zur Beiz gehört.
Themawechsel: «Gibt es einen Klimawandel, Frau Friedli?»
«Klimawandel hat es immer gegeben. Auch wir Menschen tragen einen Teil dazu bei. Aber jetzt wird unter diesem Deckmantel eine linksgrüne Politik durchgeboxt: mehr Steuern, mehr Abgaben, mehr Staatsausbau. Dagegen wehre ich mich. Die Erhöhung einer CO2-Steuer auf Diesel trifft vor allem die Landbevölkerung. Wir sind hier ja auch auf Autos angewiesen. Wir haben kein Tram und keine Bahn vor der Haustür. Traktoren brauchen ebenfalls Treibstoff. Deshalb, ja: Diese ganzen Massnahmen treffen die Menschen auf dem Land überdurchschnittlich hart, und ich glaube, dessen sind sich viele Menschen einfach noch nicht bewusst.»
SVP-Nationalratskandidatin Friedli sagt, sie halte die Klimaproteste für gesteuert, und wir fragen, von wem, und sie sagt, sie wisse es auch nicht so genau: «Da stehen Organisationen dahinter. Vermutlich Umweltorganisationen. Ich höre von Kantonsschulen, wo man die Leute regelrecht zu den Demonstrationen geschickt hat. Man hat auf jeden Fall den Eindruck, es poppt orchestriert auf. Aber ich habe das nicht recherchiert. Sie sind die Journalisten. Recherchieren Sie mal.»
Wir lassen Friedlis Behauptung stehen und sagen, dass es schon bemerkenswert sei, dass sogar die SVP sich wegen der Proteste veranlasst gesehen habe, ein Klimapapier zu verfassen.
«Lässt die SVP sich von der Klimabewegung durch das Dorf treiben?», fragen wir.
«Wenn ein Thema im Raum steht, muss man Antworten geben», sagt Friedli. «Die FDP hat sich treiben lassen, nicht wir. Sie hat sich von ihren Grundhaltungen verabschiedet.»
«Aber kann man zu einem wichtigen Thema wie dem Klima nicht auch seine Meinung ändern und zum Schluss kommen, dass der Markt nicht alles selber regelt?»
«Ich kann nicht für die FDP reden. Ich sehe nur, dass die Klimapolitik zu neuen Verboten führt. Wir in der Schweiz können das sowieso nicht allein lösen. Was mich zudem stört, das ist die Inkonsequenz der Leute. Sie wollen Billigmöbel. Sie wollen nichts zahlen. Man gibt sich umweltfreundlich, aber kauft Ramsch. Der Onkel von Toni ist Zimmermann. Wir haben alle Möbel von ihm. Und wir fliegen nie. Unsere Ferien verbringen wir in der Schweiz. Da kann ich es mit vielen Sozialdemokraten und Grünen aufnehmen. Ich kenne viele Menschen im Toggenburg, die wenig zum Leben haben. Fünfköpfige Familien, die mit 4500 Franken auskommen müssen. Wenn der Benzinpreis raufgeht, führt das zu grossen Herausforderungen. Die Löhne sind im Toggenburg zudem oft tiefer als in der Stadt.»
Wir finden es schön und gut, dass sie nicht fliegt, was wir zwei Freunde des Jetsets von uns nicht behaupten können. Wir fragen Friedli, ob man bei einem derart wichtigen Thema wirklich alles der Eigenverantwortung überlassen könne oder ob es nicht notwendige Regulierungen brauche wie beispielsweise beim Katalysator in den Achtzigern.
«Ich kenne die Geschichte vom Katalysator nicht. Wer hat das verordnet? Die Unternehmen? Der Staat?»
«Der Staat.»
«Ich halte es nicht für den richtigen Weg, wenn der Staat der Wirtschaft Verbote auferlegt. Wir müssen der Wirtschaft gute Rahmenbedingungen ermöglichen. Wenn Unternehmungen sich selbst Regulierungen auferlegen, weil sie besser werden wollen, halte ich das für den richtigen Weg. Aber ich glaube, meine Herren, Sie und ich, wir werden heute nicht mehr einer Meinung sein.»
«Glauben wir auch nicht.»
«Habe ich auch nicht erwartet. Arbeiten bei Ihnen eigentlich auch Journalisten, die eine abweichende Meinung haben?»
«Wir zwei sind ja die Minderheit. Wir sind Kommunisten.»
«Es gibt bei der Republik Leute, die keine Kommunisten sind?»
«Es gibt Leute, die waren vorher beim ‹Schweizer Monat›. Kein linkes Blatt.»
«Ein liberales.»
«Was lesen Sie denn so?»
«Die ‹Weltwoche›. Soll ich Ihnen eine mitgeben?»
Wir sitzen am Küchentisch von CVP-Präsident und Peter-Handke-Experte Dr. Gerhard Pfister. Sein Wohnort Oberägeri als Austragungsort der Schlacht von Morgarten ist für uns zwei Eidgenossen historisch nicht weniger bedeutsam als Zwinglis Herkunftstal Toggenburg. Doch Zwingli, von Luther auch liebevoll «Zwingel» genannt, lassen wir an diesem Tag beim katholischen CVP-Präsidenten besser aussen vor. Wir wollen keine schlafenden Hunde wecken, auch wenn wir die grausame Vierteilung im Zweiten Kappelerkrieg bis heute nicht vergessen haben.
Wir erzählen von unserem überwältigenden Ausflug ins schöne Toggenburg, wo uns das SVP-Lebensgefühl in Reinform präsentiert wurde. Abgesehen von den paar Raben, die bedrohlich in der Ferne am Himmel kreisten und immer wieder versuchten, uns unsere Schweizer Pässe aus den Händen zu picken, fühlten wir uns im «Haus der Freiheit» in Ebnat-Kappel wie die Maden im Speck: Coupe Dänemark, Schümli-Pflümli und ein flotter Jass – was gibt es Schöneres? Der Einzige, dem wir in der CVP zutrauen würden, uns in seiner Partei ein ähnliches Lebensgefühl zu vermitteln, ist unser Lieblingsabtreibungsgegner und Bierbrauer Alois Gmür, mit dem wir während dieser Recherchen in seiner Einsiedler Brauerei schöne Stunden verbracht hatten. Doch abgesehen von ihm sehen wir für die Partei schwarz.
«Was für ein Lebensgefühl hat uns die CVP zu bieten, Herr Pfister?»
«Die SVP und die Linken sind Bewegungen. Wir sind das nicht», sagt der CVP-Präsident. «Claude Longchamp hat einmal gesagt, die CVP sei die letzte staatstragende Partei. Recht hat er. Staatstragend zu sein aber beisst sich damit, eine Bewegung zu sein. Denn als solche muss man auch immer wieder gegen den Staat antreten. Es braucht in diesem Land eine starke bürgerliche Mittepartei. Sie können den Ausgleich in diesem Land nicht den Polen überlassen. Denn die haben kein Interesse an einem Ausgleich.»
Lange Zeit habe er gedacht, die Mitte zu besetzen sei kein politisches Programm. «Heute sehe ich das anders», sagt Pfister. «Ich bin überzeugt, dass Mittepolitik wieder zu einer Qualität wird. Eine Notwendigkeit, die das Überleben des Erfolgsmodells Schweiz sichert. Schauen Sie nach Bern: Alle wichtigen Reformen für dieses Land kamen in der vergangenen Legislatur aus dem Ständerat, wo der Konsenskultur noch viel stärker nachgelebt wird.»
Spricht hier wirklich der Intellektuelle Gerhard Pfister oder doch eher der gutmütige BDP-Präsident Martin Landolt, der die Langeweile zum Parteiprogramm erhoben hat? Vom wertkonservativen Pfister hätten wir ein flammendes Plädoyer für die Revitalisierung eines politischen Katholizismus erwartet, aber nicht diese alte Leier vom Konsens.
Da wir gerne in Wunden bohren, vollführen wir einen kleinen Schwenk ins geschätzte Nachbarland Deutschland, vermutlich bald wieder Deutsches Reich genannt: «Herr Pfister, was eigentlich treibt da unsere geliebte Christdemokratie jenseits der Grenze, in den teutonischen Wäldern?»
Deutschland habe aufgrund seiner Geschichte die Tendenz, Ängste, die in der Bevölkerung entstünden, nicht mehr richtig aufzunehmen. Der Aufstieg der AfD auch auf Kosten der Christdemokratie sei gefördert worden, weil sie von sich als einzige Partei habe behaupten können, sie spreche über Themen, die andere totschweigen würden. «In der Schweiz haben wir einen lockereren Umgang mit politisch Unkorrektem», sagt Pfister. «Bei uns muss man alles sagen können, sonst wird man bei den Wahlen abgestraft.»
«Die Christdemokratie hätte die Aufgabe, diese Sorgen aufzunehmen und sich gleichzeitig klar gegen rechts abzugrenzen», sagt Pfister. «Die Aufregung um die AfD ist berechtigt. Die Frage ist: Sind alle, die sie wählen, wirklich begeisterte Anhänger der Ideologie? Schauen Sie, man muss Themen besetzen und bessere Antworten geben als die AfD. Dann werden die Menschen sehr schnell nicht mehr AfD wählen.»
Die SVP sei stark geworden, indem sie als einzige Partei die EU kritisiert habe. «Wir haben die EU-Skepsis in der Bevölkerung unterschätzt», sagt Pfister. Heute könne man beim Rahmenabkommen beobachten, wie die Sozialdemokratie der SVP das Wasser abgrabe. «Das Wir-gegen-alle der SVP funktioniert nicht mehr. Deshalb ist ihr Wahlkampf nicht in die Gänge gekommen. Das System hat gelernt, mit der SVP umzugehen.»