Auf lange Sicht

Das Dilemma des Euro in einer Grafik

Deutschland ist Exportweltmeister. Woran liegt das? An der Tüchtigkeit der Industrie – oder vielleicht doch bloss am Euro?

Von Mark Dittli, 16.04.2018

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Deutschland ist Weltmeister – im Export. 2017 hat Europas grösste Volkswirtschaft gemäss Hochrechnungen des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo) in München einen Leistungsbilanz-Überschuss von 287 Milliarden Dollar erzielt.

Das heisst vereinfacht gesagt: Deutschland hat im abgelaufenen Jahr für 287 Milliarden Dollar mehr Güter und Dienstleistungen ins Ausland exportiert als aus dem Ausland importiert.

Das ist ein Rekord. An zweiter Stelle steht gemäss den ifo-Zahlen Japan mit 203 Milliarden, auf Rang drei folgt China mit 135 Milliarden Dollar.

Wie ist das zu interpretieren?

Eine Erklärung lautet so: Produkte aus Deutschland erfreuen sich weltweit grosser Nachfrage. Die Wirtschaft des Landes hat sich dank hartnäckiger Tüchtigkeit eine nahezu unschlagbare Wettbewerbsfähigkeit erarbeitet.

Die andere Erklärung: Deutschland profitiert in enormem Ausmass vom Euro. Und zur Untermauerung dieser These dient die folgende Grafik:

Deutschland versus Frankreich

Saldo der Leistungsbilanz, in Prozent des BIP

19751989200220168,3 % Deutschland−0,9 % Frankreich−50510 %

Quelle: Weltbank

Die beiden Kurven zeigen den Saldo der Leistungsbilanz von Deutschland (rot) und Frankreich (blau), in Prozenten des Bruttoinlandprodukts (BIP) ausgedrückt. Der Zeitraum der Grafik erstreckt sich von 1975 bis 2016.

Zunächst einige Gedanken zur Entwicklung in Frankreich: Die französische Leistungsbilanz schwankte von 1975 bis etwa 1995 um null. Das heisst, Exporte und Importe hielten sich die Waage.

(Anmerkung: Die Leistungsbilanz umfasst nebst dem Handel mit Gütern und Dienstleistungen auch noch Erwerbs- und Vermögenseinkommen und Übertragungen, doch das ist für diese Betrachtung nicht relevant.)

Im Verlauf der 90er-Jahre stieg die Leistungsbilanz Frankreichs immer weiter in den positiven Bereich und erreichte 1999 rund 3 Prozent des BIP. Danach sank sie stetig. Sie erreicht gegenwärtig einen Stand von minus 0,9 Prozent.

Die Daten

Die Daten in der Grafik stammen aus der World-Development-Indicators-Datenbank der Weltbank. Die Datenbank umfasst 1574 ökonomische Messgrössen für 264 Länder und Ländergruppen. Die Datenreihen gehen bis 60 Jahre zurück. Die hier für Deutschland und Frankreich verwendete Datenserie heisst «Current Account Balance (% of GDP)».

Und nun Deutschland: Auch die deutsche Leistungsbilanz schwankt über weite Strecken um die Nulllinie. In den 90er-Jahren, nach der Wiedervereinigung, bewegt sie sich ohne Unterbruch im negativen Bereich. Das heisst: Deutschland importierte damals mehr, als es exportierte.

Der Wendepunkt, ähnlich wie in Frankreich, wird um die Jahrtausendwende markiert. Seither steigt Deutschlands Leistungsbilanz-Saldo fast ungebremst. Im Jahr 2016 erreichte er 8,3 Prozent des BIP.

Was ist der gemeinsame Nenner dieser beiden Entwicklungen in Frankreich und in Deutschland? Die Antwort liegt auf der Hand.

Der Wendepunkt

Es war die Einführung des Euro im Jahr 1999.

In einem System flexibler Wechselkurse wirkt die Währung als Korrektiv für Ungleichgewichte im Aussenhandel. Vereinfacht gesagt: Wird der Exportüberschuss zu gross, erstarkt die Währung des betreffenden Staats.

Das verteuert automatisch dessen Güter auf dem Weltmarkt. Und es vergünstigt gleichzeitig die importierten Güter. Die Folge: Die Exporte sinken, die Importe steigen – und die Leistungsbilanz kommt wieder ins Lot.

Das gleiche Muster gilt auch umgekehrt: Fällt die Leistungsbilanz weit in den negativen Bereich, schwächt sich die Währung ab. Die Exporte steigen, die Importe sinken – und die Leistungsbilanz kommt wieder ins Lot.

Dieses Spiel funktionierte in Frankreich und Deutschland von 1975 bis 1999 recht gut. Doch mit dem Euro haben die Mitgliedstaaten der Währungsunion ihre eigene Währung aufgegeben und sich mit fixen Wechselkursen aneinandergekettet. Das bedeutet: Die einzelnen Staaten haben kein Druckventil mehr, das Ungleichgewichte in ihren Leistungsbilanzen behebt.

Konkret gesagt: Deutschlands Exportwirtschaft hat die vergangenen 18 Jahre von einer schwachen Währung, dem Euro, profitiert. Hätte die grösste Volkswirtschaft Europas noch die D-Mark, hätte diese sich signifikant aufgewertet und das «Exportwunder» rasch wieder verblassen lassen.

Wie es der deutsche Ökonom Heiner Flassbeck kürzlich im Interview mit der Republik sagte: «Deutschland war der grösste Nutzniesser des Euro».

PS: Es gibt übrigens noch eine weitere Interpretation für Deutschlands Leistungsbilanz-Überschuss von 287 Milliarden Dollar. Die Zahl entspricht nicht nur den Exporten minus den Importen, sondern sie entspricht auch dem Betrag, den die deutschen Haushalte, Unternehmen und der Staat zu viel sparen. Mehr dazu in einem der nächsten Beiträge unter dieser Rubrik.

Debatte

Soll Deutschland weiter die Exportlokomotive für Europa spielen? Oder müssen sich die Volkswirtschaften innerhalb der Eurozone mehr aneinander angleichen? Diskutieren Sie im Forum der Rubrik «auf lange Sicht»: Hier geht es zur Debatte.

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