Auf lange Sicht

Die Schweiz hat ein Föderalismusproblem

... und nicht ein Schuldenproblem. Dritter und letzter Teil der Serie über die Finanzen von Bund, Kantonen und Gemeinden.

Von Simon Schmid, 09.04.2018

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«Eigentlich» ist ein unscheinbares Wort. Man hängt es gern ans Ende von Fragen. Wie etwa diese: Wie viele Schulden braucht die Schweiz eigentlich?

Vor anderthalb Monaten haben wir hier eine solche Frage gestellt. Anlass war ein Auftritt von Finanzminister Ueli Maurer. Er verkündete der Öffentlichkeit glücklich und nicht zum ersten Mal, dass der Bund seine Rechnung mit einem Überschuss abgeschlossen hatte. Wie bereits im Vorjahr und im Vorvorjahr hatten die Einnahmen die Ausgaben übertroffen. Der Bund war weiter entlastet worden, obwohl er schon heute sehr solide Finanzen hat.

Ist das richtig? Soll der Staat weiter auf die Ausgabenbremse stehen? Oder stattdessen mehr Schulden machen? Ganz einfache Fragen – eigentlich.

Die Antworten sind allerdings etwas länger ausgefallen. Erst einmal wollten wir klären, wie viele Schulden die Schweiz überhaupt hat. Was gar nicht so eindeutig ist, je nachdem, wie man die Sache anschaut. Dann wollten wir zurückblicken und beleuchten, wie der Staat eigentlich in die komfortable Position hineinkam, in der er momenten ist. Und zwischendurch kam auch noch die Steuervorlage 17 hinzu, die sich ebenfalls auf die Finanzen auswirkt.

Der Umweg mag nötig gewesen sein, oder auch nicht. Immerhin sind wir nun bereit für ein einigermassen qualifiziertes Fazit. Es lautet: Wir müssen nicht über die Schulden der Schweiz diskutieren. Sondern über den Föderalismus.

Es gibt eine Grafik, welche dieses Fazit untermalt. Sie entstammt einem Bericht, den die Finanzverwaltung vor zwei Jahren veröffentlicht hat (mit Vorwort von Ueli Maurer): «Langfristperspektiven der öffentlichen Finanzen in der Schweiz». Die Publikation wird jeweils zu Legislaturbeginn erstellt, um die politischen Prioritäten der Regierung in einen grösseren Kontext zu stellen (sie ging im April 2016 übrigens noch von der Annahme aus, dass die später an der Urne verworfene Altersreform 2020 umgesetzt würde).

Warum wir diesen Bericht hier nochmals aufwärmen? Weil er zwei Dinge ganz klar hervorhebt: In den nächsten Jahrzehnten wird der Staat erstens bedeutende Mehrausgaben tätigen müssen. Davon betroffen sein werden zweitens – bei unveränderter Politik – vor allem Kantone und Gemeinden.

Hier die angesprochene Grafik. Sie zeigt die prognostizierte Schuldenquote von Bund, Kantonen und Gemeinden von 2013 bis 2045, und zwar unter der Annahme, dass sich die Gesetze nicht verändern, also die steigenden Ausgaben nicht durch zusätzliche Einnahmen kompensiert werden.

Auf die Kantone kommen grosse Lasten zu

Staatsschulden nach Ebene, in Prozent des BIP

Bund
Kantone
Gemeinden
201320450204060 %

Quelle: EFV

Die Balken zeigen einen markanten Anstieg. Gemäss der Prognose steigen die kombinierten Schulden von Bund, Kantonen und Gemeinden (ohne Sozialversicherungen, dort wäre die Bilanz mit der Altersreform ausgeglichen) auf 64 Prozent an. Das entspräche einer Verdoppelung gegenüber dem heutigen Stand.

Verantwortlich dafür ist vor allem die Demografie. Der Anteil alter Menschen an der Bevölkerung wird bis 2045 zunehmen. Das führt zu Mehrausgaben im Gesundheitssystem und in der Langzeitpflege. Die Kosten dafür fallen primär bei den Kantonen und Gemeinden an – weniger beim Bund, der seine Schulden über die nächsten knapp dreissig Jahre weiter abbauen kann.

Kantone in der Zwickmühle

Interessant ist eine Zahl, die in der Studie berechnet wird: die sogenannte Fiskallücke. Sie gibt an, wie viel Geld eingespart bzw. eingenommen werden muss, damit sich die Schuldenquote auf dem Basisjahr (2013) stabilisieren kann. Sie beträgt gemäss der Rechnung der Autoren insgesamt 0,9 Prozent des BIP. Dies ist der Konsolidierungsbedarf des ganzen Staates.

Die Prozentzahl entspricht beim aktuellen BIP einer Summe von knapp 6 Milliarden Franken. Diese Fiskallücke, die sich in Zukunft öffnet, ist ein Grund für das obige Fazit: Die Sorge der Schweiz sind nicht «zu wenig Schulden», wie es die aktuelle Finanzlage des Bundes nahelegt. Sondern steigende Ausgaben – die in den nächsten Jahrzehnten nötig werden.

Ein weiterer Grund offenbart sich, wenn man die Fiskallücke der einzelnen Staatsebenen isoliert betrachtet. Dann zeigen sich deutliche Unterschiede.

Auf der Stufe des Bundes erhält die Lücke dann mit -0,4 Prozent ein negatives Vorzeichen. Sie wird gewissermassen zum Fiskalüberschuss. Um die Schulden bis 2045 konstant zu halten, müsste der Bund demnach nicht weniger, sondern mehr Geld ausgeben – und zwar 2,6 Milliarden Franken pro Jahr. Umgekehrt sieht es bei den tieferen Staatsebenen aus. Dort ist die Fiskallücke tatsächlich eine Lücke, und zwar eine grosse. Für die Kantone liegt sie bei 1,1 Prozent, für die Gemeinden bei 0,5 Prozent. Das entspricht einem Konsolidierungsbedarf von 7,2 resp. 3,3 Milliarden Franken.

Die gegensätzlichen Vorzeichen zeigen an, dass die Schweiz kein Problem mit Schulden per se hat – sondern mit ihrer Verteilung. Das Thema betrifft den Föderalismus: Während der Bund über kurz oder lang fein raus ist, stecken die Kantone zunehmend in der Zwickmühle. Einerseits fallen höhere Ausgaben an, andererseits wird das wirtschaftliche Umfeld härter.

Das Umfeld, von dem hier die Rede ist, wurde bereits thematisiert: Es betrifft die Steuervorlage 17, die den Wettbewerb zwischen den Kantonen verschärft.

Die Daten

Der Bericht zu den Langfristperspektiven ist als pdf auf der Website des Bundes aufgeschaltet. Die Finanzverwaltung liefert die Daten zur Grafik auf Anfrage als Exceltabelle. Eine csv-Datei zur obigen Grafik finden Sie hier.

Die Steuervorlage 17 wird bei einer Annahme dazu führen, dass viele Kantone die Unternehmenssteuersätze senken werden – von heute 17,7 Prozent auf dereinst noch 14,3 Prozent im Schnitt. Das bringt Einnahmenausfälle mit sich: Der Bund beziffert sie auf 2,2 Milliarden Franken seitens der Kantone. Rund die Hälfte davon wird vom Bund kompensiert, sodass den Kantonen unter dem Strich 1,1 Milliarden Franken wegbrechen. Die Ausfälle verschärfen das föderalistische Problem der Schweiz zusätzlich.

Man könnte einwenden: 1,1 Milliarden Franken sind nicht viel. Die Summe entspricht gerade einmal 1,3 Prozent der gesamten Einnahmen der Kantone. Und vielleicht werden die Ausfälle durch die dynamischen Effekte der Gewinnsteuersenkungen sogar wieder wettgemacht (damit rechnet jedenfalls die Finanzverwaltung in ihrer Begleitstudie, die wir vor zwei Wochen erörtert haben – mit Vorbehalten zu den unsicheren Schätzungen).

Doch am Grundsatz ändert dies – eigentlich – nichts. Die Steuervorlage 17 heizt den Wettbewerb unter den Kantonen an. Finanzschwache Kantone wie Thurgau und Solothurn werden die Steuern senken und Ertragsausfälle hinnehmen müssen. Die Konkurrenz im Tiefsteuerbereich trifft auch Kantone wie Luzern, die bereits vor einigen Jahren eine Tiefsteuerstrategie beschlossen haben und noch immer auf die erhofften Erträge warten.

Die Steuertrends geben zu denken, angesichts einer demografischen Entwicklung, die den Staat in den nächsten Jahren auf die Probe stellen wird.

Und zwar asymmetrisch: Unter Druck kommen wird nicht der Bund, sondern die Kantone und Gemeinden. Diskussionen rund um die Finanzierung des Sozialstaats und rund um den Finanzausgleich sind somit programmiert.

Debatte: Muss die Schweiz noch weiter sparen?

Die offiziellen Finanzszenarien sagen eine düstere Zukunft voraus. Wie soll sich die Schweiz darauf vorbereiten: Indem sie weiter Sparprogramme auflegt, so wie es in den letzten Jahren Usus geworden ist? Oder indem sie den Steuerwettlauf unter den Kantonen eindämmt und ihnen über den Bund mehr Mittel zukommen lässt? Oder sind die steigenden Schulden am Ende nur Schwarzmalerei: viel zu pessimistisch, so wie es die jährlichen Finanzprognosen des Bundes und der Kantone zuletzt waren? - Hier gehts zur Debatte der Rubrik «Auf lange Sicht».

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