Auf lange Sicht

Wie viele Schulden hat die Schweiz?

Sieben komplizierte Antworten auf eine banale Frage zeigen: Man darf es sich mit Finanzstatistiken nicht zu einfach machen. Teil 1 einer Serie über die Verschuldung der Schweiz.

Von Simon Schmid, 05.03.2018

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Wie viele Schulden braucht die Schweiz? Vielleicht haben Sie sich vor einer Woche diese Frage gestellt, als Finanzminister Ueli Maurer vor die Medien trat und bekannt gab, dass der Bund im abgelaufenen Jahr statt des prognostizierten Defizits einen Milliardenüberschuss erzielt habe.

Wir haben uns diese Frage jedenfalls gestellt: Ist weiteres Sparen angesichts der guten Finanzlage immer noch nötig – oder hat die Eidgenossenschaft in den letzten Jahren schon genug Schulden abgebaut?

Während der Recherchen ist jedoch eine andere Frage aufgetaucht: Wie viele Schulden hat die Schweiz überhaupt? Wir gehen ihr zuerst nach – denn die Antwort ist gar nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint.

Beginnen wir mit einer absoluten Zahl: 192,7 Milliarden Franken.

So viele Schulden hat der Staat gemäss Finanzstatistik der Eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV) ausstehend. Die Zahl datiert vom vergangenen September und bezieht sich aufs Jahr 2016. Sie entspricht dem Schuldenstand der Schweiz gemäss Maastricht-Definition, die auch in der EU angewandt wird.

Knapp die Hälfte der Schuld entfällt auf den Bund, den Rest teilen sich Kantone, Gemeinden und Sozialversicherungen (diese Unterscheidung wird dann in den Teilen 2 und 3 dieser Serie über die Verschuldung wichtig sein – in diesem Teil verweilen wir noch etwas bei den Grundlagen).

Schuldenbeträge in Franken und Rappen sind wichtig für den Kassenwart. Doch zur ökonomischen Einschätzung taugen sie kaum. Darum werden Staatsschulden üblicherweise in Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) angegeben. Die resultierende Quote gibt einen Anhaltspunkt dafür, wie hoch die Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftskraft sind – und wie einfach oder schwierig es für einen Staat ist, die Zinsen auf diese Schulden zu bezahlen.

Das BIP der Schweiz lag 2016 in der Gegend von 660 Milliarden Franken. Die Schuldenquote betrug in jenem Jahr demnach 29,2 Prozent.

So weit, so gut. Doch leider fangen die Schwierigkeiten an diesem Punkt erst richtig an. Denn: Staatsschulden lassen sich nicht nur nach der Maastricht-Methode messen, sondern auf die verschiedensten Arten.

So publizieren etwa der Internationale Währungsfonds (IWF) in Washington, die Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) in Paris und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel ihre eigenen Zahlen zur Verschuldung. Die Quoten weichen teils nur minim, teils aber auch deutlich voneinander ab, weil sie sich konzeptionell unterscheiden.

Was tun? Blicken wir zuerst einmal auf das Zahlenmaterial. Hier sind sieben* verschiedene Kurven zur Staatsverschuldung – zur Illustration, wie knifflig diese Frage eigentlich ist: Wie viele Schulden hat die Schweiz?

Vier Datenquellen, sieben Schuldenkurven

Staatsverschuldung der Schweiz, in Prozent des BIP

BIZ: Schulden zum Marktwert
EFV: Fremdkapitalquote
EFV: Schuldenquote
IWF: Bruttoverschuldung
IWF: Nettoverschuldung
OECD: Bruttoverschuldung
OECD: Nettoverschuldung
199019992007201624 %43 %29 %42 %34 %42 %0 %03060 %

Quelle: IWF, OECD, BIZ, EFV

Die Daten

Dieser Beitrag stützt sich auf diverse Quellen ab. Die Kennzahlen der EFV sind als Excelsheet verfügbar (Blatt «gfs_quote»: Fremdkapitalquote und Schuldenquote). Die BIZ macht eine langfristige Statistik über Kredite an den Nicht-Finanzsektor ebenfalls als Excelsheet verfügbar (Zeitreihen Q:CH:G:A:M:770:A und Q:CH:G:A:N:770:A im Blatt «Documentation» ansteuern). Bei der World-Economic-Outlook-Datenbank des IWF muss man sich durch einen Dialog durchklicken, um die Brutto- und Nettoschuldenquote zu erhalten. Die Daten der OECD zu den Bruttoschulden und dem Nettovermögen sind interaktiv als Chart einsehbar und können als CSV-Dateien von dort aus heruntergeladen werden.

Warum sind diese Kurven so unterschiedlich? Drei Punkte sind wichtig.

1. Was zählt als Staatsschuld?
Gemäss IWF hatte die Schweiz letztes Jahr Schulden über 43,3 Prozent des BIP ausstehend. Die Differenz zur obigen Zahl von 29,2 Prozent ergibt sich daraus, dass der IWF mehr Dinge zu den Schulden zählt: Nicht nur Kredite an den Staat und ausgegebene Staatsanleihen fliessen mit ein, sondern auch (alters-)versicherungsbezogene Forderungen, Handelskredite, unbezahlte Rechnungen und im Voraus einkassierte Steuern. Unter Einbezug all dieser Dinge liegt die Bruttoschuldenquote nach IWF fast anderthalb Mal so hoch wie jene nach Maastricht. Analog zur IWF-Quote berechnen sich übrigens auch die Bruttoschuldenquote nach OECD (2016: 42,5 Prozent) und die Fremdkapitalquote der EFV (2016: 42,3 Prozent). Verantwortlich für die kleinen Abweichungen zwischen diesen Quoten dürften unterschiedliche BIP-Schätzwerte sein, die im Nenner der Kennzahl verwendet wurden.

2. Wie wird die Schuld bewertet?
Ein weiterer Grund, warum Schuldenquoten voneinander abweichen können, ist deren Bewertung: Man kann Schulden zum Marktwert oder zum Nominalwert ausweisen – also aus Sicht der Gläubigerin (wie viel Geld sie realistischerweise zurückerwarten kann) oder aus Sicht des Schuldners (wie viel Geld er bezogen hat). Was das ausmacht, zeigt sich anhand von Daten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Die BIZ-Quote zum Nominalwert ist identisch mit der EFV-Schuldenquote: 29,2 Prozent. Dagegen ist die BIZ-Quote zum Marktwert höher: Sie liegt bei 33,5 Prozent. Warum? Anleihen des Schweizer Staates werden am Markt zu einem höheren Preis gehandelt, als sie in den Büchern von Bund, Kantonen und Gemeinden stehen. Dies wegen des guten Rufs der Schweiz als Schuldnerin und wegen der aktuellen Tiefzinssituation.**

3. Bezieht man das Vermögen ein?
Ein dritter Punkt, in dem sich die Quoten unterscheiden, ist, ob die Schulden brutto oder netto gemessen werden – das heisst, ob das Staatsvermögen von der Schuld abgezogen wird (netto) oder nicht (brutto). Die Auswirkung davon zeigt sich anhand der Nettoschuldenquote gemäss IWF: Sie lag 2016 bei 24,1 Prozent und damit fast 20 Prozentpunkte unter der Bruttoschuldenquote. Der IWF rechnet Dinge wie Bargeld, Kredite und Obligationen im Besitz des Staates in seine Nettoschuldenquote mit ein. Noch weiter geht die OECD. Sie zählt auch Aktien- und Unternehmensbeteiligungen zum Staatsvermögen hinzu (aber nicht die Immobilien und sonstigen Anlagen in Staatsbesitz) und kommt so für die Schweiz auf eine Nettoschuldenquote von 0,3 Prozent.***

Wie viele Schulden hat die Schweiz? Auf diese Frage gibt es also keine eindeutige Antwort. Es hängt davon ab, wie weit man den Begriff der Schulden fasst, wie man sie bewertet und ob man das Vermögen abzieht.

Besonders interessant ist der dritte Punkt: der Unterschied zwischen Brutto- und Nettoschulden. Der internationale Vergleich legt auf den ersten Blick zwar nahe, dass die Situation meist ähnlich ist: Länder mit hohen Bruttoschulden haben vielfach auch hohe Nettoschulden. Doch es gibt Ausnahmen, wie eine Übersicht der Brutto- und Nettoschulden von 13 OECD-Ländern zeigt.

Brutto ist nicht gleich netto

Staatsverschuldung, in Prozent des BIP

BruttoGriechenland0188 % Italien0156 % USA0127 % Frankreich0123 % UK0122 % Spanien0117 % Kanada0114 % Österreich0102 % Deutschland076 % Finnland075 % Niederlande075 % Norwegen043 % Schweiz042 % 0 90 180 % NettoGriechenland0149 % Italien0130 % USA0101 % Frankreich079 % UK092 % Spanien083 % Kanada046 % Österreich057 % Deutschland040 % Finnland*−53 % 0Niederlande041 % Norwegen*−289 % 0Schweiz00 % 0 90 180 %

Quelle: OECD. * Negative Werte bedeuten, dass diese Länder netto keine Schulden, sondern ein Vermögen besitzen.

Beispiele für grosse Abweichungen sind Kanada und die USA. Beide Staaten haben nach Bruttozählweise mit 114 Prozent bzw. 127 Prozent ähnlich hohe Schuldenquoten. Netto ist Kanada mit 46 Prozent aber deutlich weniger stark verschuldet als die USA mit 101 Prozent. Dies bedeutet, dass der kanadische Staat verhältnismässig mehr Vermögen besitzt als der amerikanische Staat. Das hilft den Kanadiern, die Zinsen auf ihren Schulden zu bezahlen.

Ähnlich verhält es sich mit Finnland und den Niederlanden. Beide Länder sind brutto mit 75 Prozent gleich stark verschuldet. Finnland weist gemäss der OECD aber eine Nettoschuld von –53 Prozent auf (sein Vermögen, das vor allem aus bereits einbezahlten Pensionskassengeldern besteht, übersteigt also die Schulden), während die Niederlande Nettoschulden über 41 Prozent haben. Das bedeutet zwar nicht, dass Finnland im Vergleich zu den Niederlanden unermesslich reich ist (die Buchungspraxis bei Rentensystemen ist nochmals eine Wissenschaft für sich) – doch es zeigt, dass man mit Vergleichen von Bruttoschuldenquoten sehr vorsichtig sein muss.

Auch der Vergleich zwischen Norwegen und der Schweiz ist interessant. Mit 42,5 Prozent haben beide Länder exakt dieselbe Bruttoschuldenquote. Netto ist Norwegen dank seinen Ölvorkommen allerdings kein Schuldner, sondern sitzt auf einem gigantischen Volksvermögen. Die Nettoschuldenquote liegt bei sagenhaften –289 Prozent. Der Reichtum der Eidgenossenschaft genügt demgegenüber nicht, um ihre Schulden zu kompensieren – die Nettoschuldenquote liegt bei 0,3 Prozent. Immerhin: Netto betrachtet ist der Schweizer Staat unter diesem Blickwinkel praktisch schuldenfrei.

Im zweiten Teil der Serie blicken wir weit in die Vergangenheit zurück – und fragen: Wann erholen sich Staaten von einer Krise? Wann nicht? Teil drei blickt in die Zukunft und die prognostizierte Schuldenentwicklung der Schweiz.

* Eigentlich wären es acht Kurven. Doch die Schuldenquote nach EFV und die Schuldenquote zum Nominalwert gemäss der BIZ sind identisch, deshalb ist letztere Kurve nicht eingezeichnet.

** Die Bruttoschuldenquote gemäss IWF, die Bruttoschuldenquote gemäss OECD sowie die Fremdkapitalquote der EFV (alle um 43 Prozent) sind ebenfalls zum Marktwert berechnet. Das erklärt neben der breiteren Auffassung von «Schuld» einen weiteren Teil der Differenz zur niedrigeren EFV-Schuldenquote nach Maastricht (knapp 30 Prozent).

*** Der OECD-Indikator heisst genau genommen nicht «Nettoschuldenquote», sondern «finanzielles Nettovermögen». In der Originalstatistik ist das Vorzeichen deshalb umgekehrt.

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