Am Gericht

Ein Gewalt­exzess

Ein rechtsradikalisierter junger Schweizer muss sich zum zweiten Mal wegen einer Messer­attacke vor Gericht verantworten. Und entschuldigt sich erstmals – ziemlich schmallippig – bei seinem Opfer, das er fast getötet hat.

Von Brigitte Hürlimann, 17.04.2024

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Am 25. Mai 2020 stirbt in Minneapolis, im US-Bundes­staat Minnesota, der damals 46-jährige Afro­amerikaner George Floyd. «I can’t breathe», fleht er den weissen Polizisten Derek Chauvin an, der 9 Minuten und 29 Sekunden lang auf seinem Hals kniet. Und weder aufs Flehen des schwarzen Mannes noch auf die Zurufe von Passantinnen reagiert. Drei Polizei­kollegen schauen Chauvin zu – und greifen nicht ein.

Der gewaltsame Tod Floyds wird von einer Passantin gefilmt, die Aufnahme geht um die Welt und führt noch Tage, Wochen und Monate danach zu Protesten und Kund­gebungen. Auch in der Schweiz gehen die Menschen auf die Strasse; am Samstag, 13. Juni 2020, sind es Zehntausende. Manche von ihnen tragen Shirts mit den Aufschriften «I can’t breathe» oder «Black Lives Matter».

Zwei Wochen später, am Samstag, 27. Juni 2020, schlendert ein Schweizer Student durch ein belebtes Zürcher Einkaufs­zentrum und kauft sich ein Rüstmesser, Klingen­länge acht Zentimeter. Er trägt ein schwarzes Shirt mit der Aufschrift «White Lives Matter». Wenige Minuten nach dem Messerkauf sticht er einen jungen Mann fast zu Tode, der ihn wegen der provokanten Aufschrift auf seinem T-Shirt angesprochen hatte.

Die Messerattacke ist der Höhepunkt einer Radikalisierung. Die Straf­untersuchung gegen den Studenten fördert andere Provokationen und vor allem Tausende von menschen­verachtenden, hass­erfüllten, terror­verherrlichenden Posts auf Twitter (heute X) zutage.

«Einer von uns» betitelt die Republik im Oktober 2022 ihre Recherche über den Messer­stecher aus Zürich. Der Vorfall ist bis heute nicht endgültig aufgearbeitet.

Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 12. April 2024, 9 Uhr (Urteils­eröffnung am 16. April 2024, 16.30 Uhr)
Fall-Nr.: DG230183
Thema: Versuchte vorsätzliche Tötung etc.

Ein weisses Langarm­shirt, ohne Message. Bluejeans. Gesichts­ausdruck: neutral bis gelangweilt. Ausser wenn Staats­anwältin Sabine Schwarzwälder aus den Dutzenden von Tweets zitiert, die in der Anklage­schrift gegen den heute 26-jährigen Schweizer aufgelistet sind. 64 davon stuft Schwarzwälder als strafrechtlich relevant ein.

Die Republik ihrerseits hat vor zwei Jahren 2430 online archivierte Tweets des Mannes analysiert und festgestellt, dass 615 auf eine eindeutig rechts­terroristische Ideologie hinweisen.

Die Botschaften des Beschuldigten, sagt Schwarzwälder, seien in «ihrer Gesamtheit zu betrachten».

Die Staatsanwältin liest nur wenig daraus vor. Der Student aus gutem und prominentem Haus wünschte sich Massen­mörder und Amok­läufer herbei und lud deren Manifeste herunter. Linke sollten hingerichtet werden, schrieb er auf Social Media. Schwarze seien minderwertig. Muslime, Feministinnen oder Homosexuelle: verabscheuens­wert (um es zurück­haltender auszudrücken, als es in den Original-Tweets steht).

Der 26-Jährige hört zu, und um seine Mundwinkel zuckt es leicht. Der Mann auf der Anklagebank kann ein Schmunzeln offensichtlich nur knapp unterdrücken.

Wir befinden uns im Saal 31 am Bezirks­gericht Zürich, an einem sonnigen, milden April­freitagmorgen. Es ist der grösste Gerichts­saal an diesem grossen Gericht, und der Platz wird dringend benötigt. Neben dem 26-Jährigen müssen sich auch sein Bruder und drei weitere junge Männer verantworten. Hinter und neben ihnen sitzen die Staatsanwältin, die Verteidiger und Rechts­vertreter, auf den Zuschauer­bänken Journalistinnen und Publikum, darunter eine Schulklasse.

Das Opfer will seinem Angreifer nicht begegnen

Einer ist nicht im Saal anwesend beziehungs­weise dann nicht, wenn der 26-jährige, von uniformierten Polizisten flankierte Haupt­beschuldigte drin ist. Es ist das Opfer des Messer­stechers, das darum gebeten hat, nicht direkt mit seinem Angreifer konfrontiert zu werden. Er verfolgt den Prozess in einem Nebenraum, per Video­übertragung. Nur wenn er selbst vom Gericht befragt wird, tritt er in den Saal – aber erst, nachdem sein Widersacher ins Neben­zimmer verfrachtet worden ist.

Und zwar so, dass sich die beiden Männer im Gang nicht begegnen müssen.

Das Opfer, ein heute 21-jähriger Schweizer aus dem Kanton Zürich, beantwortet sämtliche Fragen des dreiköpfigen Gerichts­gremiums. Und nicht nur das: Er gibt zu, den Messer­angreifer vor dessen Attacke gestossen und am Kragen gepackt zu haben; dabei wurde das provokante T-Shirt zerrissen. Der 21-Jährige interveniert, wenn der Gerichts­vorsitzende, Peter Rietmann, dem Messer­stecher Unzutreffendes vorwirft.

Nein, widerspricht dann das Opfer, der Angreifer sei nicht mit Fäusten auf ihn losgegangen und habe vor der Attacke nicht gedroht, es werde etwas Schlimmes passieren.

Was allerdings geschah, Sekunden später.

Warum es zum Messer­angriff kam, darüber gehen die Auffassungen meilenweit auseinander.

Der Angreifer sagt, er sei im Einkaufs­zentrum von einer Gruppe von elf jungen Männern verfolgt worden – wegen seines T-Shirts mit der Aufschrift «White Lives Matter». Er selbst habe sich normal und unauffällig verhalten, niemanden provoziert. Draussen, in der Nähe einer Bushalte­stelle, hätten ihn drei aus der Gruppe gestellt und aufs Shirt angesprochen. «Sie traten als Kleider­polizisten auf», wird sein Verteidiger, Duri Bonin, später im Plädoyer sagen. «Leider beschränkten sie sich nicht auf verbale Äusserungen.»

Im Gegenteil, sein Mandant sei mit Füssen und Fäusten geschlagen worden, zu Boden gegangen – um sich dann «in Todesangst» mit dem soeben gekauften Rüstmesser zu verteidigen. Fünfmal stach er auf sein Gegenüber ein, stets auf dessen Oberkörper, und verletzte ihn lebens­gefährlich. Doch das sei in Notwehr passiert, so der Verteidiger, in einer Situation, die von «Bedrohung, Zeitdruck, Angst und Panik» geprägt gewesen sei.

Der Messerstecher müsse freigesprochen werden.

Er habe nicht schuldhaft gehandelt.

Eine Überraschung zum Prozessauftakt

Lauter Lügengeschichten, Fantastereien, frei erfunden, völlig unglaubhaft und lebensfremd, reine Schutz­behauptungen: So reagieren die Staats­anwältin und die Rechts­vertreter der anderen drei Männer, die bei der Auseinander­setzung mit dabei waren.

Der ebenfalls angeklagte Bruder des Messerstechers, das muss betont werden, hat mit dem Vorfall vom 27. Juni 2020 nichts zu tun.

Er sitzt wegen anderer Delikte auf der Anklagebank. Zusammen mit dem Haupt­beschuldigten hat er zwei Bäume beschädigt – mit einer Machete. Die Geschwister sollen ausserdem mit Marihuana gehandelt haben. Davon, dass der nun wegen deutlich geringerer Vorfälle mitangeklagte Bruder als Minder­jähriger einen Mann invalid geschlagen hat, ist an diesem Prozess nur am Rande die Rede.

Auch damals wurde Notwehr geltend gemacht. Der Jugendliche gab an, sein späteres Opfer habe in einem Park hinter einem Baum onaniert. Er habe sich bedroht gefühlt. Der Minderjährige lief aber nicht einfach weg, sondern direkt zum Mann hinter dem Baum. Und schlug mit der Faust zu. Auf den Kopf. Mit voller Wucht.

Doch zurück zur Messer­attacke des haupt­beschuldigten Bruders, die beinahe mit einem Toten geendet hat. Warum bloss müssen sich an diesem Prozess auch das schwer verletzte Opfer und dessen zwei Kollegen verantworten?

In der Anklageschrift wird allen vier Männern, die am Streit ums rechtsextreme T-Shirt beteiligt waren, Raufhandel vorgeworfen. Also dem Messer­stecher und der dreiköpfigen Gruppe, lauter Fans des Fussball­clubs Zürich übrigens.

Doch es kommt zu einer Überraschung, gleich zu Beginn der Verhandlung.

Staatsanwältin Sabine Schwarzwälder, die erst vor einem guten Jahr den Fall übernommen hat, sieht die Sache anders als ihr Vorgänger, der heute nicht mehr als Strafverfolger tätig ist. Schwarzwälder fordert neu für alle vier Männer Freisprüche in Sachen Raufhandel.

Das habe lange gedauert, meint einer der Fussball­fans. Seit vier Jahren müssten sie mit dem Vorwurf des Raufhandels leben. Und das, obwohl sie doch nur Zivil­courage gezeigt und den T-Shirt-Träger angesprochen hätten. Es sei einfach krass, dass einer mit einer solchen Botschaft in einem Einkaufs­zentrum herumspaziere.

An einem Ort notabene, wo sich Menschen jeglicher Herkunft treffen. Das sei kein Zufall gewesen, sagt auch Staats­anwältin Schwarzwälder. Der Student habe die Provokation gesucht und sich mit dem Messerkauf auf einen Streit vorbereitet.

An der Grenze zum versuchten Mord?

Die Fussballfans sagen überein­stimmend, der Angreifer sei von ihnen nicht verprügelt, sondern nur verbal angegangen und geschubst worden. Ja, das Gespräch sei zunehmend gehässig geworden.

Doch der 26-Jährige sei nie zu Boden gegangen, habe keine Verletzungen aufgewiesen. Sie alle hätten irgendwann eingesehen, dass diskutieren nichts bringe. Sie seien weggegangen, hätten sich entfernt, als ihnen der andere plötzlich nach­gerannt sei, mit dem Messer in der Hand. Mit schwungvollen Bewegungen und voller Kraft habe er auf jenen Kollegen eingestochen, der ihn zuvor geschubst und am Shirt gepackt habe.

Hätte die Attacke nicht mitten in der Stadt Zürich stattgefunden, sagt Rechts­anwalt Michael Brülhart als Vertreter des Opfers, wären die Notretter nicht innert Minuten vor Ort gewesen und hätten Soforthilfe geleistet: Sein Mandant wäre heute tot. «Der Messer­stecher hat alles dafür getan.»

Brülhart sagt, der Angriff liege an der Grenze zum versuchten Mord. Die Mord­merkmale müssten ernsthaft geprüft werden. Diese Meinung vertritt auch Staats­anwältin Schwarzwälder. Dass allenfalls versuchter Mord vorliege, sei ein naheliegender Vorwurf. Doch das könne nicht bewiesen werden.

Sie fordert deshalb einen Schuldspruch unter anderem wegen versuchter vorsätzlicher Tötung – und eine deutlich strengere Strafe als noch ihr Vorgänger: zwölf Jahre. Adrian Kaegi hatte im Juni 2022 achteinhalb Jahre gefordert. Und das Bezirksgericht Zürich in einer ersten Prozess­runde ein Urteil von fünfeinhalb Jahren gefällt.

Doch dieses Urteil ist Makulatur.

Der damalige Strafprozess ist vom Obergericht für null und nichtig erklärt worden. Das Gericht sei «nicht verfassungs­konform zusammen­gesetzt gewesen» und die Verfahrens­mängel derart gravierend, dass die Sache wiederholt werden müsse. Mit einer anderen Gerichts­zusammensetzung.

Darum also sitzen im April 2024 nochmals alle im gleichen Gericht und beugen sich zum zweiten Mal über die gleiche Sache. Der Messer­stecher, der noch am Tag seines Angriffs verhaftet worden war, befindet sich seither im Gefängnis, darf aber schon in den Urlaub gehen. Zum Leben in der Haft, zu seinem Werdegang oder zur Tat sagt er nichts. Wie schon bei der ersten Prozess­runde verweigert er jegliche Aussage.

Erst als ihm der Gerichts­vorsitzende Peter Rietmann die Gelegenheit zu einem Schlusswort gibt, zückt er ein Stück Papier aus seiner Jeanstasche. Und liest vor, so rasch, wie es nur geht: Er entschuldige sich bei seinem Opfer. Es tue ihm aufrichtig leid, dass er ihn verletzt habe. Das sei nicht böswillig geschehen, sondern aus Angst: «Ich fürchtete um mein Leben.» Er verstehe jeden, der seine Tweets «aufs Schärfste» verurteile. Es bleibe ihm nur übrig, sich zu entschuldigen. Er habe sich in eine Ecke verrannt.

Einer der drei Fussballfans sagt, in einem spontanen, nicht vorbereiteten Schlusswort: Er hoffe, dass er und seine Kollegen Gerechtigkeit bekämen.

Dass die schreckliche Tat bestraft werde.

Ein strenges Urteil

Sein Wunsch geht in Erfüllung.

Die 9. Abteilung des Bezirksgerichts Zürich eröffnet am frühen Dienstag­abend fünf Entscheide. Der 26-jährige Messerstecher und Hass-Tweet-Verfasser wird unter anderem wegen versuchter vorsätzlicher Tötung schuldig gesprochen und zu einer Freiheits­strafe von neun Jahren verurteilt; plus zu einer Geldstrafe von 170 Tagessätzen à 30 Franken.

Von Notwehr, so das Gericht, könne keine Rede sein. Der Angreifer sei auf einen unbewaffneten, sich entfernenden Kontrahenten losgegangen: «Am hellichten Tag, an einem gut frequentierten Ort, aus einem Gefühl der Kränkung – und aus blankem Egoismus», so der vorsitzende Richter Peter Rietmann. «Es war eine völlig unverhältnis­mässige Reaktion. Ein Gewaltexzess.»

Der Bruder des Messerstechers wird mit einer Freiheits­strafe von acht Monaten und einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 30 Franken verurteilt, beides bedingt.

Die drei Fussballfans wiederum, darunter das schwer verletzte Opfer, kommen mit Freisprüchen davon – wie von der Staats­anwältin und ihren Rechts­vertretern beantragt.

Der Haupt­beschuldigte, sagt Richter Rietmann, sei sich bewusst gewesen, dass er mit seinem T-Shirt provoziere. Wie das Gericht dessen frühere Provokationen, auf der Strasse und im Internet, einstuft, darüber war an der mündlichen Urteils­eröffnung und -begründung nichts zu hören.

Das könne im schriftlich begründeten Urteil nachgelesen werden, so der vorsitzende Richter.

Man darf gespannt sein.

Illustration: Till Lauer

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