Ende der Roman-Versessenheit

Nein, der Roman ist immer noch nicht tot. Aber die Erneuerung der Erzähl­literatur speist sich zunehmend aus anderen Gattungen.

Von Daniel Graf (Text) und Paul Blow (Illustration), 11.04.2024

Vorgelesen von Regula Imboden
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Wer sich, im Wortsinn, ein Bild davon machen möchte, welche friedliche Revolution sich derzeit in der Erzähl­literatur der Gegenwart vollzieht, schaut sich am besten «Paare» an. Das international zu Recht gefeierte Debüt der US-Autorin Maggie Millner ist gerade auf Deutsch erschienen, und wenn man es an einer beliebigen Stelle aufschlägt, springt einem mit hoher Wahrscheinlichkeit schon auf den ersten Blick ins Auge, dass das hier kein konventionell erzählter Roman ist.

«Eine Liebesgeschichte» heisst das Buch im Untertitel, und diese Liebes­geschichte klingt zum Beispiel so:

Ich dachte, sie fände mich boring,
   denn sie war queer und Lektorin

und ich eine Dichterin und meine Erfahrung mit
   Frauen gleich null. Abends hatte sie Zutritt

zu schicken Events, wo alle Eckhaus und Givenchy trugen,
   ich hingegen ging in abgeranzte Bars, vor allem wegen

der Gratiskonzerte, oder in noch abgeranztere Bars
   ganz ohne Show. Oder wenigstens sah ich es so.

Millner erzählt von einer Ménage-à-trois, eines der ältesten Themen der Literatur. Aber sie erzählt über weite Strecken in gereimten Versen – und verkuppelt die lyrischen Passagen mit Abschnitten erzählerischer Prosa. «Paare» handelt immer auch von der Beziehung eines literarischen Paares namens Lyrik und Prosa und verbandelt beide zu einer neuen, hybriden Form, die Genre­grenzen allenfalls als Einladung begreift, sie lustvoll einzureissen.

Geschichten auf Buchlänge erzählen – das kann nicht nur der klassische Roman. Für Literatur­historikerinnen mag das eine Binsen­weisheit sein. Mit Blick auf den Buch­markt der jüngeren Vergangenheit hat sie geradezu Nachrichtenwert.

Jahrzehntelang galt: Der Roman ist nicht nur das Mass aller Dinge – sondern im Grunde auch die einzig akzeptierte Währung im Buch­markt. Kleinere oder unkonventionellere Erzähl­formen müssen, um gedruckt zu werden, irgendwie auf mindestens 100 Seiten gestreckt und mit dem Label «Roman» versehen werden können, um nicht von vornherein als unverkäuflich aussortiert zu werden.

Das scheint sich gerade zu ändern.

Noch signifikanter aber ist etwas anderes: Das merging, die Kombination von Textgenres und literarischen Gattungen, wie sie bei Maggie Millner besonders anschaulich vor Augen tritt, ist ein genereller Trend der gegenwärtigen Literatur.

Schreibende wie Kim de l’Horizon, Dorothee Elmiger, Mina Hava (oder international etwa Maggie Nelson und Teju Cole) haben auf neuartige Weise das literarische Erzählen mit dem Essay verschränkt.

Wie die Lyrik die Prosa entert (oder umgekehrt), lässt sich nicht nur bei Maggie Millner beobachten, sondern auch bei so unterschiedlichen Autorinnen wie Anne Carson, Claudia Rankine oder Ralph Tharayil.

Eher vom Drama als von der Lyrik geborgt sind die Zeilen­umbrüche bei Martina Clavadetscher; dem Duktus politischer Reden folgen sie bei Daniel de Roulet. Aber beide verweigern ihren Romanen durchgehend die typische Prosa­form und nähern sie mündlichen Vortrags­weisen an.

Schliesslich, um noch einmal auf Kim de l’Horizon zurück­zukommen: «Blutbuch» treibt die Hybridisierung der Gattungen so weit, dass man es fast als Anthologie der Textformen bezeichnen kann, von der Abhandlung bis zum Zauberspruch. Und apropos A bis Z: Auch Laura Leupis «Alphabet der sexualisierten Gewalt», als Textperformance beim letztjährigen Bachmann-Wettbewerb begonnen und nun in Buchform erschienen, verschreibt sich lieber der Collage von Essay, Prosaminiatur, Erinnerungs­protokoll, Recherche-Abschrift, Liste und Lexikon­eintrag als einem überwölbenden Erzählbogen.

Während Leupis Buch oder Dorothee Elmigers «Aus der Zuckerfabrik» ganz auf eine Gattungs­bezeichnung verzichten, lassen die meisten der eben Genannten ihre Werke zwar unter «Roman» firmieren. Das heisst aber auch: Wo «Roman» draufsteht, stecken immer häufiger andere Gattungen mit drin – und überschreiten fundamental die Konventionen des klassisch erzählten, realistischen Romans, wie er seit dem 19. Jahrhundert den Buchmarkt dominiert.

Mit anderen Worten: Ein Teil der gegenwärtigen Erzähl­literatur auf Buchlänge kommt gut ohne die Bezeichnung «Roman» aus. Und eine ganze Reihe relevanter Gegenwarts­romane schöpfen ihre literarische Kraft massgeblich aus anderen Gattungen.

Was also ist da los? Verliert der (herkömmliche) Roman gerade seine seit Jahrzehnten unbestrittene Stellung als höchste Gattung? Muss man ihm gar wieder einmal das Toten­glöckchen läuten?

Die Grabrede ist tot

Die These vom Tod des Romans ist in etwa so alt wie der moderne Roman selbst. Sie kehrt unregelmässig, aber zuverlässig wieder, und der Roman hat sie bisher noch immer so vital überstanden wie die Welt einst den angeblichen Millenniums-GAU (erinnert sich noch wer?).

Das Ende des Romans ist also mittlerweile eher ein Topos als eine Diagnose. Seine Funktion, so hat es der Literatur­wissenschaftler Pieter Vermeulen einmal in einem klugen Essay beschrieben, ist die rhetorische Intervention, nicht der empirische Befund – jedenfalls wenn mit Empirie die literarische Produktion gemeint ist. Denn die typische Grabrede auf den Roman handelt im Grunde nicht von Literatur, sondern von gesellschaftlich-medialem Wandel. Die kurzschlüssige Übertragung von gesellschaftlichen Gross­entwicklungen auf die künstlerische Produktion ist ein Haupt­merkmal dieser Textsorte. Der Roman geht dann wahlweise unter, weil die jeweils neuesten Medien ungleich attraktiver sind als das Lesen, weil die Zeitnot grösser, die Aufmerksamkeits­spannen der Menschen kleiner werden und ihre Konzentrations­fähigkeit vor die Hunde geht.

Die letzte Debatte dieser Art hat 2014 der englische Romanautor Will Self angestossen, und obwohl sein Essay allein schon wegen einiger glänzend gesetzter Pointen immer noch lesenswert ist, weist seine Intervention auch die üblichen Probleme auf: Die Thesen und die Ladung Kultur­pessimismus sind ein gutes Stück grösser als das Bemühen um Evidenz. In Zeiten der Digitalisierung, schreibt Self, habe der anspruchsvolle Roman keine Chance. Er sterbe gerade vor unseren Augen, weil die digitalen Medien «den Gutenberg-Geist» auflösen und die Bereitschaft, sich auf schwierige, literarisch ambitionierte Bücher einzulassen, immer weniger werde.

Hinter Selfs voraus­eilender Trauer um den Roman verbirgt sich also in Wirklichkeit eine Sorge um die Literatur insgesamt. Mit erstaunlicher Selbst­verständlichkeit setzt Self den Roman kurzerhand mit Literatur als Kunstform gleich. Das ist durchaus bezeichnend und selbst das Symptom eines verbreiteten literatur­betrieblichen Bias.

Dass gerade die anspruchsvolle Literatur auch in anderen Gattungen zu ihrem Recht kommt; dass die Alldominanz des Romans im Buchmarkt auch ein Problem sein kann, weil sie die Vielfalt der literarischen Möglichkeiten verengt; dass weniger Fixierung auf den Roman deshalb auch ein Versprechen bedeuten könnte; nicht zuletzt aber auch das Vertrauen darauf, dass die Autorinnen der Gegenwart dem Roman auch in digitaler Zeit neue Formen, neue Möglichkeiten und neue Leserinnen erschliessen werden – all das kommt Self vor lauter Abgesang gar nicht erst in den Sinn.

Schaut man jedenfalls auf die aktuellen Verschiebungen in der Erzähl­literatur, erblickt man nicht unbedingt die grosse Depression – sondern ein wachsendes Bewusstsein für die Bandbreite der literarischen Ausdrucks­möglichkeiten.

Das äussert sich in Werken, die sich, obwohl sie auf Buch­länge eine Geschichte erzählen, bewusst jenseits der Kategorie «Roman» verorten. Und in solchen, die den Roman gewisser­massen von innen heraus über die eigenen Gattungs­konventionen hinausführen.

Es lohnt deshalb, sich zwei exemplarische Neuerscheinungen dieses Frühjahres, eine internationale und eine deutsch­sprachige, näher anzusehen: das schon erwähnte Debüt von Maggie Millner. Und den Roman «Hasenprosa» von Maren Kames. Beide bringen sie auf je eigene Weise das Romanhafte und das Lyrische zusammen.

Literarische Paare

Ein «Proem» macht in Maggie Millners «Paare» den Auftakt. Darin kann man schon die Verschränkung von «Prose» und «Poem», von Prosa und Gedicht, erkennen, die diese «Love Story» prägt. Und weil darin zugleich das «Pro-», das Vorausgehende steckt, hat Eva Bonné die Headline über den Anfangs­versen treffend mit «Vorspiel» übersetzt:

Ich dachte, ich müsste den Blick
   nie nach innen richten, solange der Blick

auf ihn fiel, den ich liebte.
   Ich irrte mich. Ich liebte

alles, was ich sah.
   Und dann, eines Tages, sah

ich in einen Spiegel. Und er war nirgends
   in dem Spiegel, und sie war überall.

Eine Dreiecks­geschichte also, die von einer Hetero­beziehung ihren Ausgang nimmt und in eine queere Liebes­geschichte führt. Und was mit auf der Stelle tretenden Reimen beginnt, setzt sich von da an auch sprachlich in Bewegung, durch alle Reim­sorten hindurch: ironisch, spielerisch, formbewusst, aber nie pathetisch.

«Couplets» heisst das Buch im englischen Original, mit einem T, das aus den «couples», also Paaren, den englischen Ausdruck für Vers­paare macht.

In solchen Zwei­zeilern hat Maggie Millner einen Grossteil dieser Liebes­geschichte abgefasst, und weil sie genau weiss, dass die Form nicht zum Korsett werden darf, wird sie permanent umspielt, ironisch gebrochen, in eine Spoken-Word-hafte Leichtigkeit überführt.

Millners (und auf Deutsch eben auch Eva Bonnés) Verse sind an den Enden trotz der Reime niemals starr gehalten, weil sie elegant in die nächste Zeile oder ins nächste Couplet überfliessen, weil die Autorin ungewöhnliche Reim­paare findet, die Echo­erwartung in blosse Anklänge auflockert oder gleich ganz ins Leere laufen lässt. Auf «cloud» zum Beispiel folgt ein lässiges «could»: sorry, bloss ein Augen­echo. Es sind Verse wie ein Tanz: Das Muster ist immer da, aber der Witz liegt im Wechsel von bewusster Entfernung und Wieder­annäherung.

Die Vers­passagen wechseln ab mit Prosa, aber auch da kann mitunter eine sprachliche Wiederholung eine erotische Steigerungs­bewegung in Gang setzen:

Sie hat dich gefragt, ob du dir vielleicht ein Taxi mit ihr teilen möchtest, und du hast ja gesagt; ob du sie an die Haustür begleitest: ja; ob du noch mit raufkommst: ja; ob du dich in ihr Bett legst: ja; …

In Millners Wechseln zwischen Prosa und Lyrik findet weniger eine Ablösung statt als vielmehr wechsel­seitige Durchdringung. Nicht nur fransen die Prosa­passagen am Ende wieder in quasilyrische Zweizeiler aus. Auch die Gleichklänge und Reime gehen bald in die Prosa­abschnitte ein, während die Zweizeiler auf einer permanenten Spannung zwischen Versschema und Satz­rhythmus gebaut sind.

Das rivalisierende Duo Lyrik und Prosa – hier wird es ins Nonbinäre geholt. Weil Millner die starre Entgegen­setzung auflöst, als Abstraktion entlarvt und die gemeinsamen Anteile an einer sinnlich-rhythmischen Literatur­sprache erkundet.

Dabei ist «Paare» alles andere als eine entrückte Hymne auf die Liebes­ekstase. Millner lotet die Ambivalenz von Liebe und Abhängigkeit ebenso aus wie den Umstand, dass auch progressive Liebes­modelle für den schlechten alten Egoismus anfällig sind. Und durch die luftig gesetzten Zeilen dringen auch die Krisen der Zeit:

… Draussen starben

Arten aus. Faschismus war wieder in Mode,
   das zeigte eine beliebige Leseprobe

aus dem Internet.

Fast zwangsläufig macht ein so formbewusster Text wie dieser auch die Literatur selbst zum Thema. An einigen wenigen Stellen gerät das etwas zu plump: die Liebe als eine Art Reim, als perfect match – ein Glück, dass Millner an solchen Punkten immer noch rechtzeitig abbiegt. Stark wird die poetologische Reflexion dann an Stellen wie diesen über die Lektüre eines Buchs von Nathalie Léger:

Einen Satz bemerkte ich gleich:
   Sie sagte, avantgarde zu sein sei leicht,

hingegen müsse man sich ziemlich quälen,
   um eine simple Geschichte gut zu erzählen.

Millner hat genau diese Lehre verinnerlicht. Sie weiss, dass rein oberflächliche Effekte und formalistische Tricks noch keinen guten Text ausmachen – allein am Konventionellen festzuhalten, aber ganz bestimmt auch nicht. Dafür, eine uralte «simple Geschichte» ganz neu zu erzählen, hat sie ihre eigenen Mittel gefunden. Nicht jede «Love Story» braucht den Roman.

Hasenprosa

Wie Maggie Millner kommt auch die deutsche Autorin Maren Kames von der Lyrik. Zwei grossartige Gedicht­bände oder besser lyrische Konzept­alben hat sie bisher vorgelegt. Und nun, im renommierten Suhrkamp-Verlag, den ersten Roman. Er heisst «Hasenprosa», ist neben vielem anderen auch eine Literatur­betriebs­satire, und wenn man bedenkt, dass die Branche das jährlich in Klagenfurt stattfindende Förder­programm für junge Schreibende gerne «Häschenkurs» nennt, dann ist ein wenig satirische Hasenprosa ja nicht ganz unangebracht.

Kames jedenfalls erzählt in «Hasenprosa» vom Coming of Age, vom Autorinnen­werden, vom Hochfliegen und Abstürzen, von Familie, Freundschaft, Liebe und von Familien-, Freundschafts-, Liebes­schmerzen, vom Ende des Lebens als «Unbekümmer» und «Leichtling» und von einigem mehr. Nur ist das Entscheidende bei all dem immer, wie sie das macht, nämlich mit übermütigem Sprachwitz, beneidenswerter Selbst­ironie und einem unwiderstehlichen Hang, im Alltäglichen das Absurde und Lächerliche anzunehmen:

Nichtsahnend stand ich auf Stelzen, die wankten, es bangte und knackte schon lang, dann barst es, ich krachte. (…) Das kommt vom Thronen, dachte ich noch im Sturz, das kommt davon.

Wo bei Lewis Carroll einst Alice dem Hasen ins Wunder­land folgte, hoppelt der Hase bei Kames bevorzugt in die reale Welt mit ihren Literatur­betriebs­härten und -gärten, aber auch mit ihren abgründigen deutschen Familien­geschichten.

Maren Kames’ Roman ist Autofiktion und Autofiktions­parodie in einem. Der Hase ist dabei ein Sancho-Panza-artiger Sidekick, der die Donquichotterien der Ich-Erzählerin Richtung fertiges Manuskript lenken soll.

Doch Hasenprosa, das heisst natürlich vor allem: Hakenschlagen. Anders als bei Maggie Millner enthält Kames’ Buch keinen einzigen Vers, aber an dieser Prosa schreibt trotzdem immer auch die Lyrikerin Kames mit.

Alles in diesem Buch ist durchdrungen von einem genuin poetischen Zugriff auf die Welt und die Sprache. Es sind Sätze voller Anklänge und Binnen­reime und voll übermütiger Wortart­mutationen. So geht es etwa durch «Hollywood oder eine andere abgewrackte, baracke Traum­fabrik», und wenn eine Ausfahrt ins prosaische Ernte­gebiet mal wieder ergebnislos war, lautet die Bilanz: «Es war so Schmach.»

Hier wird nicht stringent geplottet und dramaturgisch gewitzt durcherzählt. Das Lyrische ist aber auch nicht in der äusserlichen Form präsent wie bei Millner. Vielmehr bildet eine poetische Denk- und Sprechweise die Tiefen­grammatik, in der hier die Prosa gefertigt ist. Die Abfolge ist sprunghaft, oft ausschliesslich vom Sprach­material selbst vorgegeben. Die Handlung folgt keiner hero’s journey, sondern den Fliehkräften der poetischen Assoziation, einschliesslich herrlich absurder Wort­konstruktionen, Literatur­betriebs-Namenwitzen oder schlichtweg dem Prinzip Buchstaben­würfeln:

Also sass der Hase im Ginster und grinste.

Dennoch kreiert diese poetische Assoziations­maschinerie nicht bloss sprachspielerischen Übermut, sondern wird zum Motor für eine tief schürfende Erinnerungs­arbeit. Ausgestattet mit einem Fotoalbum und einem an Details geschärften Erinnerungs- und Beobachtungs­vermögen betreibt Kames’ Erzählerinnen-Ich ihre Familien­archäologie – und fördert dabei Sätze von lebenskluger Wucht zutage: «Solange diese Oma noch lebte, habe ich vom Tod nichts gewusst.»

Es ist das kleine Wunder dieser «Hasenprosa», wie darin das Leichtfüssige und das Schwere, das Lastende und das Schwebende nebeneinander bestehen, ohne dass es jemals unangemessen oder gar anrüchig wird. «Ich bin deine Absturz­versicherung», lässt Kames den Hasen einmal sagen, und tatsächlich ist der Hase ein genialer Kunst­griff, um der Story immer wieder einen Anstups zu geben, bevor sie in eine erzählerische Sack­gasse gerät. Und sei dieser Anstups nur die gelassene Erkenntnis, «dass Sprache auch nur ein Gas ist und genauso schnell vergeht».

«Schätzelein!», ruft der Hase dann irgendwann, «ich glaube wohl, der Bann ist gebrochen, wir sind auf Seite 114, haben die Hunderter­grenze überschritten, wir fliegen weiter.»

Eine dreistellige Seitenzahl also. Ansonsten hat Kames’ «Hasenprosa» mit einem handels­üblichen Roman ziemlich wenig am Hut.

Ende der Alldominanz

Die Bücher von Maggie Millner und Maren Kames sind vermutlich die beiden Extrempole der lyrisch-prosaischen Mischform: Was bei Millner auf den ersten Blick ins Auge sticht, zeigt sich bei Kames erst in der literarischen Tiefen­struktur. Zusammen stehen sie aber ohnehin für einen viel grund­legenderen Trend: Das, was neu und aufregend an der Erzähl­literatur der Gegenwart ist, speist sich zu einem beträchtlichen Anteil aus vermeintlich weniger erzählerischen Gattungen wie der Lyrik und dem Essay.

Man kann darin durchaus eine Rebellion gegen den Konventionalisierungs­druck erkennen, den der Buchmarkt in den vergangenen Jahren durch die Fixierung auf leicht konsumierbare «Pageturner» mit Highbrow-Gütesiegel erzeugt hat. Der «International Style» des Populären Realismus, wie ihn der Literatur­wissenschaftler Moritz Bassler konstatiert hat, mag in dieser polemischen Zuspitzung nie existiert haben; dass er als Erwartungs­horizont in den Verlags­lektoraten keine Rolle gespielt hätte, wird allerdings kaum jemand behaupten.

Wenn demgegenüber nun neue, hybride Spielarten des Erzählens nicht nur erprobt, sondern gelesen, gefeiert und ausgezeichnet werden, heisst das keineswegs, dass der klassische Roman tot oder in seiner literarischen Erneuerungs­kraft erschöpft ist. Es heisst nicht einmal, dass er seinen Status als mit Abstand beliebteste Gattung einbüsst. Es heisst aber sehr wohl, dass der Roman, zumal in seiner klassischen Form als realistisch-psychologische Grosserzählung, seine Alldominanz verliert – zugunsten einer grösseren Vielfalt, die schon lange existiert, nun aber endlich auch im breiten Publikums­markt ankommt.

Die experimentellen, hybriden, formal waghalsigen Werke der Erzähl­literatur hat es selbstverständlich immer gegeben. (Man denke nur an Werke wie James Joyce’ «Finnegans Wake», der so avanciert daherkam, dass das seinerzeit auch schon ein Grund war, dem Roman ein Sterbens­liedchen zu trällern.) Erst in den letzten Jahren aber haben Autorinnen wie Anne Weber, Kim de l’Horizon oder Martina Clavadetscher für formal ausgefallene Werke mit oder ohne Roman­label in schöner Regelmässigkeit die grossen Buchpreise abgeräumt und beim Publikum reüssiert.

Jüngstes Beispiel: Barbi Marković. An sie ging kürzlich der Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik, der von ähnlichem Gewicht ist wie der Deutsche Buchpreis (den Carl-Amery-Literatur­preis erhält sie dieser Tage obendrein). In ihrem Buch erzählt sie mit grandiosem Witz und präzise treffender Gesellschafts­kritik von kleinen Alltags­dramen im Leben von Mini und Miki. Wer jetzt an Micky und Minnie Mouse denken muss, ist auf genau der richtigen Spur. Marković unternimmt nicht weniger als die Kreuzung von sogenannter Hochliteratur und Comic – und das nicht in erster Linie, weil am Ende die Zeichnungen übernehmen. Das Comic-hafte findet hier von Beginn an Eingang in das Erzähl­prinzip selbst: in seine episodische Serien­struktur, die Text­organisation, die Lust an der Pointe. Das Buch heisst übrigens «Minihorror». Weitere Gattungs­bezeichnung? Keine.

Und noch etwas. Womöglich zeichnet sich gerade vorsichtig eine ganz neue Wertschätzung für jene Gattung ab, die, neben der Lyrik, stets am meisten im Schatten des Romans stand: die Kurzgeschichte. Erzählbände wurden lange Zeit vor allem dann gedruckt, wenn ihre Autoren im Markt längst mit Erfolgs­romanen durchgesetzt waren. Bei so unterschiedlichen Autorinnen wie Bora Chung oder Joy Williams hingegen sind ihre herausragenden Story­sammlungen gerade der entscheidende Faktor ihres internationalen Ruhms.

Thesen vom Tod des Romans wären allerdings schon deswegen völlig abwegig, weil die aktuelle Tendenz zu hybriden Formen nicht nur von der gegenwärtigen Roman­produktion mitgetragen wird – sondern ungeachtet aller Konventionalisierungs­zwänge seit jeher die Spezialität des Romans war.

Weil der Roman als Gattungs­begriff so offen, die Geschichte seiner Spielarten derart vielfältig ist, gibt es keine sinnvolle Roman­definition, die wesentlich mehr besagt, als dass es sich dabei um einen langen fiktionalen Erzähltext handelt. Das ist der Grund, warum die Gattungs­zuweisung «Roman» im Wesentlichen eine Frage der blossen Entscheidung geworden ist: Ein Roman ist das, was der Verlag als Roman ausgibt – und er gibt in aller Regel am liebsten Romane heraus.

Die sagenhafte formale Unbestimmtheit des Romans war aber schon immer auch die Voraussetzung, quasi sämtliche anderen Text­gattungen aufnehmen und integrieren zu können – als ganze wie auch in Form einzelner literarischer Techniken und Verfahrens­weisen. Genau dadurch hat sich der Roman über die Epochen hinweg als die flexible und wandlungsfähige Gattung schlechthin erwiesen – und als Raum der Freiheit, der ironischer­weise allein durch buchmarkt­mässige Normierungen und standardisierte Erwartungs­haltungen verengt wird. Wozu auch eine immer stärker Blockbuster-orientierte Literatur­kritik beiträgt, die sich auf das Nacherzählen von Plots und ein paar Klappentext­adjektive beschränkt.

Und jetzt? Was folgt? Und worüber debattieren, wenn es hier nicht mal eine ordentliche Grabrede gibt?

Nein, totsagen muss man ganz sicher nicht den Roman – sondern die Roman-Versessenheit im Buchmarkt. Zu verabschieden ist nicht der Roman als literarische Kunstform – sondern seine alles beherrschende Stellung als einzig goutierte Leitgattung.

Den «Prinzen aller Kunstformen», wie Will Self den Roman einst nannte, darf man ruhig von seinem hohen Ross holen, ohne sich gleich um seine Zukunft sorgen zu müssen.

Es wird auch weiterhin klassisch gebaute Romane geben, die dennoch auf der Höhe der Zeit Geschichten erzählen.

Es wird Romane geben, die auf unterschiedlichste Weise dem Hang zur erzählerischen Totale widerstehen: indem sie, wie Frank Witzel oder Terézia Morá, mit zusätzlichen Erzählspuren die Zentral­perspektive auflösen; indem sie, wie Hernan Diaz oder Paul Auster, das Geschehen in multiple Perspektiven und alternative Handlungs­stränge zerlegen; indem sie, wie Slata Roschal oder Dilek Güngör, ihre Geschichten neo­impressionistisch aus unzähligen Miniaturen, Moment­aufnahmen und Erfahrungs­splittern zusammensetzen.

Und es wird sehr vieles geben, was mit dem klassischen, in Prosa durcherzählten Roman nur noch wenig zu schaffen hat:

Romane, die ihre Energie­zufuhr aus anderen Gattungen beziehen – nicht als kurze Einsprengsel, sondern als fundamentale Veränderung der Erzähl­verfahren. Und Erzähl­literatur, die sich grundsätzlich jenseits des Romans verortet.

Diese Vielfalt gilt es zu feiern. Einen «Prinzen aller Kunst­formen» braucht es dafür nicht.

Nach Veröffentlichung dieses Textes, der ursprünglich die Überschrift «Roman­dämmerung» trug, sind wir auf einen 2012 erschienenen Artikel von Gregor Dotzauer mit demselben Titel gestossen. Wir haben unserem Text deshalb einen neuen Titel gegeben.

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