Das nächste Mahl

«Aus der Zuckerfabrik» der Schweizer Autorin Dorothee Elmiger ist gleich für drei Buchpreise nominiert. Zu Recht: Virtuos verbindet sie das Alltägliche, das Obszöne mit dem Heiligen – immer auf der Suche nach mehr.

Von Tobi Müller (Text) und Maurice Haas (Bilder), 12.10.2020

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Zucker als Metapher für den Rausch: Ja, Dorothee Elmiger spielt mit dem Essen.

Wer abnehmen will, sollte dieses Buch meiden. «Aus der Zuckerfabrik» tischt ständig Speisen auf, die Leute öffnen nachts Tiefkühl­truhen oder schlitzen exotische Früchte auf, die in den Ausschnitt tropfen. Doch es geht nicht um richtiges oder falsches Essen, nicht um Moral, Körper­kult oder die Kunst der Connaisseure. Es geht um den Zustand vor dem Essen, um den Hunger. Und der ist grenzenlos und kann mehr als den Wunsch nach Kalorien bedeuten: den Drang nach Wissen, nach Kontinenten, nach Liebe.

«Vielleicht wäre es richtig zu sagen, dieser Hunger sei der eigentliche Gegen­stand meiner Forschung», schreibt Dorothee Elmiger mit der Stimme der Erzählerin schon nach einem Dutzend Seiten. Der Zucker im Titel ist der Treiber dieses all­umfassenden Hungers: Wer ihn konsumiert, wird bald noch hungriger.

Das klingt nach einem krassen Buch von einer krassen Autorin, nach Exzess und Über­schreitung. Doch alles wird ruhig und staunend auf dem Studier­tisch ausgebreitet, angeschaut, beschrieben. Das klingt zum Beispiel so:

Ich möchte, schreibe ich noch in dieser Nacht an C., dich gern zum Essen einladen, ich kann eine hingebungs­volle Gast­geberin sein, ich serviere drei Gänge, und zum Schluss reiche ich Käse und frische Feigen oder wir begeben uns, plaudernd und rauchend, zum Papaya­baum, wo ich die reifste Frucht direkt vom Stamm der Pflanze löse und mit einem Längs­schnitt öffne, sodass die von hellem, süssem Frucht­fleisch umgebenen schwarzen Samen zutage liegen und mit einem Löffel entfernt werden können.

(…)

Wie weit ich mich auf die Äste heraus­gelassen habe mit meinen Erklärungen, meinen Einladungen an C., für den eine Frucht nichts anderes zu sein scheint als ein Ding, das an einem Ast hängt oder in einer grünen Kiste im Super­markt liegt.

Knock, knock,
ich sehe etwas, was du nicht siehst,
es ist ein Ding, dessen Saft mir beim Essen übers Kinn und meine Brüste läuft,
oh mein Gott, ich will gleich noch eins.

Ein Blick auf die Autorin selbst hilft, den Ton zwischen Kontrolle und Rausch zu verstehen. Dorothee Elmiger hat keinen Twitter-Account, jedenfalls nicht unter ihrem Namen. Sie macht fast alles anders, als man es heute von einer 35-jährigen Autorin erwarten würde. Zumal von einer, die in diesem Herbst für drei Literatur­preise in den End­runden steht. «Aus der Zuckerfabrik», ihr dritter Titel, ist nominiert für den Schweizer Buch­preis und den Bayerischen Buch­preis, die beide im November verliehen werden. Und auch die Shortlist des Deutschen Buch­preises, der Oscar des deutschen Feuilletons, kommt nicht ohne Elmigers Anti-Roman aus.

Elmiger schreibt nicht besonders schnell, nicht besonders zugänglich, und wenn sie etwas in die Zoom-Kamera sagt, wie etwa im Vorstellungs­filmchen für den Deutschen Buchpreis, dann klingt das eher zögerlich und kreisend.

Definitiv kein Social-Media-Material.

Aber sie hat eines der meist­beachteten Bücher des Jahres geschrieben, und die Fans sind nicht klar in jung oder alt zu unterteilen. Sie spielt keine starken Karten wie Anklage, Generation, Krise oder Identität. Die verschiedensten Leute haben sie ins Herz geschlossen. Und um Liebe geht es am Ende auch Elmiger. Sie würde wohl Begehren sagen. Aber dazu später.

Etwas trippy, nie verpeilt

Zum Andersmachen gehört bei ihr, dass sie ihre aus der Zeit gefallenen Eigenschaften nicht als Marke abfeiert. Niemand hebt das modisch Unzeit­gemässe hervor, auch nicht Hanser, ihr neuer Verlag. Mit Dorothee Elmiger lässt sich noch nicht einmal eine Anti-Twitter-Persona entwerfen, so in der Art von: Da ist nun eine junge Frau, die viel liest, auch spät­mittelalterliche Mystik und Kleist und Psycho­analyse und Philosophie, und die keine Berührungs­ängste hat hinsichtlich der Gebiete alter weisser Männer. Das stimmt zwar ein bisschen und ist trotzdem falsch, weil es das Phänomen Elmiger nicht erfasst. Denn die Autorin ist dicht dran an den grossen Themen der Zeit, die in ihrer Generation noch einmal ein Stück grösser sind. Aber sie greift anders auf sie zu. Sie will mehr lesen, mehr wissen, und diesen Zuwachs neu oder anders ordnen. Nur in Ordnung bringen will sie nichts.

Das Thema Migration führt bei Elmiger nicht zu einer Geschichte über Einzel­schicksale auf der Flucht, die sie, wie es etwa T. C. Boyle machen würde, mit der Perspektive von Privilegierten kontrastiert. «Schlafgänger», 2014 erschienen, ist ein delirierendes Protokoll einer Tisch­runde, die in einer Diskussion über Grenzen durch die Nacht stolpert. Der subtile Trick: Elmiger lässt ihre Themen nicht einfach referieren, sondern redend nachempfinden. Jedes Gespräch stellt seine eigene Grenz­situation her, seine eigene Gefahr oder Ratlosigkeit. Auch wenn Konventionen wie Plot und psychologische Figuren­zeichnung ausser Kraft sind, entsteht ein Sog, der die Leserin, den Leser in die Wahr­nehmung der Sprechenden hineinzieht. Die Übersetzerin, der Logistiker, der Journalist bleiben so, wie sie heissen: Funktionen. Aber ihre Rede ist konkret, der Fokus liegt auf ihren Erfahrungen.

Schlägt man so ein Buch auf, schleichen die Texte in den Kopf, führen zum Torkeln, zu Schwindel. Wie hat sie das gemacht, dass das eine plötzlich mit dem andern zu tun hat, was sind das für magische Berührungen in der Sprache, in den Themen (würde sie Metonymien dazu sagen)? Die Texte sind etwas psychedelisch, etwas trippy, als würde man die Decke anstarren und das Universum darin entdecken.

Doch die Sprache ist nie verpeilt, ungefähr, blumig, sie ist nicht besoffen von ihren Eindrücken, die Sätze sind noch nicht einmal komplex. Dorothee Elmiger erinnert nur daran, was post­moderne Formen leisten können, gerade wenn man zeitgenössische, auch politisierte Texte schreiben will: Sie führen formal mitten in den Strudel der Probleme, statt so zu tun, als könne Literatur die Konflikte kontrollieren. Hier gibt es nichts zu beherrschen: Das ist der anti­autoritäre Realismus ihres Schreibens.

Zückerli aus Übersee

«Aus der Zuckerfabrik» intensiviert Elmigers Strudel der Wahrnehmung deutlich. Anti-Roman ist etwas harsch gesagt, die Autorin selbst nennt das Buch einen «Recherche­bericht». Doch das trifft es auch nicht ganz, denn wiederholt schreibt sie sich in die Recherche hinein und spielt das Gelesene neu durch, in neuen Rollen. Während die Autorin sammelt, wehrt sie sich ständig gegen das Material, das sie nicht deuten will, weil ihr dies übergriffig vorkommt wie die Analyse des Psychiaters Ludwig Binswanger über seinen berühmtesten Fall, Ellen West. In diesen Fällen setzt sie sich selbst in das Material und dichtet es in der Gegenwart fort, blendet in ihre Kindheit, leuchtet in die Gegenwart, vermischt das Material mit ihrer Biografie.

Elmiger wird selbst zu Ellen West.

Und mehrmals legt der Text nahe, dass sie sich als Max Frisch in das Buch setzt und ein paar Dinge umdreht: Jetzt liegt nicht der ältere Schriftsteller-Star mit einer jüngeren Frau in einem Hotel in Montauk auf Long Island im Bett, sondern die junge Schrift­stellerin mit einem Lover.

Der Sex im Albatross Motel in Montauk,
als lägen wir im Ehebett unserer Eltern, der Älteren, als hätte in diesem Bett die ganze Welt schon gelegen, als hätten sie sich hier alle zueinander­gelegt, sich auf diesen Laken gewälzt, sich geliebt, einander verführt und ausgezogen, geschlagen, konsumiert, vereinigt, verletzt, sich fortgepflanzt.

Später F. unter der Dusche.
Ich zappe durch die Kanäle.

Nein, niemand hier ausser uns selbst.

«Recherchebericht» ist in solchen Passagen höchstens als prätentiöse Bescheidenheit zu verstehen. Wenn sie die Figuren verkörpert, statt sie nur zu deuten, verleibt sie sich den Stoff ein. Man könnte auch sagen: Sie ist ihr Material, oder: Sie isst ihr Material. Denn das Essen, der Mund, ist der Punkt, an dem der Körper am öffentlichsten seine Grenze markiert: Das ist das Zentrum dieser Zucker­fabrik, in der so vieles verrührt wird. Bauchweh bleibt nicht immer aus.

Ihr Buch kommt vom Zucker auf den Kolonialismus und zu Karl Marx, zu einer Erzählung von Kleist, die im revolutionären Haiti spielt, «Die Verlobung in St. Domingo». Und von dort zu Werner Bruni, dem ersten Schweizer Lotto­millionär, der 1979 alles gewann und wenig später wieder verlor. Auch Brunis Traum war diese Insel in «Übersee», Ellen West sei in «Übersee» geboren, der Sklaven­aufstand bei Kleist spielt in «Übersee». Da gibt es Zucker­rohr, süsse Früchte, da kommen Freuds Zuckerl her, die in den Träumen stets, na klar, für die sexuelle Befriedigung stehen, und auch die Zückerli im Eingang von Elmigers Tante aus dem Appenzellischen, wo die Autorin aufwuchs.

Die Texte der Appenzellerin führen mitten in den Strudel von Konflikten – und das kann halt auch Bauchweh auslösen.

Elmiger verliebt sich in die Szene, in der ein Weibel nach Brunis Konkurs zwei schwarze Holz­figuren versteigert und dabei einen sexistischen und gleich noch einen rassistischen Kommentar von sich gibt. Sind es Figuren aus Haiti, wie Elmiger zunächst denkt? Nein, das ist Wunsch­denken, Bruni hatte die Figuren wohl aus Kenia von einer früheren Reise mitgebracht, bevor er Lotto­könig wurde.

Der Traum des Goldes ist der Traum der Revolution und umgekehrt. Aber so, wie ihn Elmiger nachzeichnet und dabei manchmal ganz schön ins Referieren kommt, sind die schwarzen Figuren für Bruni nicht Stellvertreter für etwas anderes, keine Metaphern, die in den Sexismus oder in Ideologie kippen. Sie sind, was sie sind: Figuren, Gefährten, Schutz­patrone. Bruni, Elmigers Antiheld, hat das Symbolische über­sprungen und landete bei den Objekten selbst. Da ist sie, die Entgrenzung, die bedingungs­lose Liebe, die Mystik (und die irdische Armut).

Man muss sich den verstorbenen Bruni einmal im Internet anschauen, um die Zucker­fährte weiter­zuverfolgen: Der Arbeiter­sohn aus dem Berner Oberland war sehnig, fast mager. Als junger Mann kantig, attraktiv, mit durchsichtig-blauen Augen, die trotz aller Boden­ständigkeit vergeistigt aussahen. Ein Heiliger. Eine Figur der Askese, des Verzichts. Und ausgerechnet der gerät in den Strudel von gewonnenen Millionen. Und hat nicht Bourdieu von einem Stamm geschrieben, der «essen und trinken» sagte, wenn er Beischlaf meinte, wie Elmiger zitiert? Selten wurden das Essen und die Nahrungs­aufnahme so sehr erotisiert und dennoch mit Gewalt, Besitz und moderner Expansion aufgeladen wie in Elmigers, nun was: Romanbericht?

Die Welt als Buch lesen

Der Zucker ist nur eine von vielen Metaphern für eine Art Droge, einen Rausch der Entgrenzung nach Wissen, Zusammen­hängen, Berührungen, ja, nach Liebe. Mal erscheint das Material unprozessiert und steht scheinbar ohne Deutungs­zusatz zum Lese­verzehr bereit. Dann kehrt es als Traum wieder, als Autofiktion, für die sie selbst in die Küche steigt, bis die historischen Zutaten in einem persönlichen Soufflé aufgehen. Oft sehen wir ihr zu, wie sie vor der Kraft und der Masse der Rohstoffe Angst hat, kein Rezept findet und keinen Namen. Immer wieder spürt man bei der Lektüre die Grenzen des Wahns, wenn alles mit allem zu tun hat und das alles zu gross erscheint. Kinder kennen das von Fieber­träumen, in denen das kleine Ich einer unfassbar grossen Zahl gegenübersteht. Elmiger beschreibt einmal eine Szene, als sie sich als Kind einer Ziege nähern will, plötzlich aber von einer Herde umringt wird, die sie anspringt. Die Neugier kippt in Bedrohung.

In manchen Büchern, Serien und Filmen essen die Leute, in andern nicht. Regale und Listen liessen sich so danach sortieren. Bei Dorothee Elmiger, der Appenzellerin in Zürich, steht die Nahrung im Mittel­punkt der Welt. Auch das ist heute alles andere als die Regel.

In Serien sieht man die Leute kaum noch essen. Von Donald Trump schreiben alle, er würde beim Fernsehen Burger futtern. Aber gibt es ein Bild? Die Nahrungs­aufnahme gilt mittlerweile als obszön, obwohl oder weil sie im öffentlichen Raum allgegen­wärtig geworden ist. Oder ist das Obszöne auch das Heilige? George Pelecanos, US-amerikanischer Autor von ruppigen Detektiv­romanen, schrieb einige Folgen von «The Wire», einer der Serien, die das Format geadelt haben. Sie spielt in Baltimore, einer kaputten Stadt. Im Off-Kommentar zu einer seiner Folgen wird Pelecanos gefragt, warum die Figuren bei ihm so oft essen, aber nur bei ihm. Seine Antwort: «You know, it’s always the next meal.»

Es geht immer um die nächste Mahlzeit, sagt Pelecanos lakonisch und liefert damit die Matrix auch für Elmigers Buch. Auf Deutsch klingt es noch besser: das nächste Mahl, das nächste Mal. Von einem Bissen zum nächsten Bissen. Oder nicht zum nächsten Bissen, wenn wir freiwillig hungern. Aber das nächste Mahl verbindet das Obszöne und das Heilige, den kruden Verzehr und das Teilen der Liebe. Es ist kein Zufall, dass «Aus der Zucker­fabrik» immer wieder von Auffahrten berichtet, von Ekstasen, von religiösen wie profanen. Dorothee Elmiger hat die ersten, aber auch die letzten Dinge im Blick und schaut ihnen zu wie ein Mönch in einer grossen Bibliothek, als es noch kein Netflix gab. Die Serie dazu muss nun jemand anders schreiben.

Zum Autor

Tobi Müller ist Kultur­journalist und Autor in Berlin. Er schreibt über über Popmusik, Theater und Digitalität. Für die Republik hat er zuletzt über die neue Höflichkeit während der Corona-Pandemie geschrieben.

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