Poesie & Prosa

Das reichliche Vorhandensein von Blau

Maggie Nelson: «Bluets»

Ein Buch über die Lieblingsfarbe der Autorin? In Wirklichkeit ist «Bluets» ein berührender Text über Trennung und Traurigkeit.

Von Birthe Mühlhoff, 03.12.2018

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Am Anfang war Argwohn. Die US-amerikanische Autorin Maggie Nelson macht sich in ihren Büchern Gedanken über ihr eigenes Leben und garniert sie grosszügig mit Zitaten der üblichen Theorie-Verdächtigen: Wittgenstein, Deleuze, Judith Butler. Das klingt doch sehr nach postmodernem Müesli mit zu vielen Rosinen.

Es hat in der Tat den Anschein, als wollte Maggie Nelson möglichst viele Menschen davon abhalten, von sich aus ein ernsthaftes Interesse an ihren Büchern zu entwickeln. Denn wer nichts mit diesen Denkern anfangen kann, den schrecken die Namen ab. Und wer sie kennt, stösst sich möglicherweise daran, wie mit ihnen umgegangen wird. Dass es in ihren Büchern dann auch noch – ausser um Maggie Nelson selbst – um Themen geht, die bei oberflächlicher Betrachtung reisserisch oder trivial anmuten könnten, macht es nicht einfacher. «Die Argonauten» erzählt von der Geschlechtsanpassung ihres Lebensgefährten (und zwar auf eine hochsensible, geradezu anti-sensationistische Weise). In «Bluets», ihrem zweiten Buch, das jetzt auf Deutsch erschienen ist, geht es um die Farbe Blau.

Aber Nelsons Lieblingsfarbe ist nicht das einzige Sujet in «Bluets», ja nicht einmal das wichtigste. Man könnte sagen, Blau ist nur die Einfärbung des Gemüts, die sich aus dem eigentlichen Thema ergibt: der grenzenlosen Traurigkeit darüber, verlassen worden zu sein. Der Titel – die amerikanische Bezeichnung für Kornblumen – erinnert nicht ohne Grund an duets. Nur ist es ein Duett, aus dem sich der zweite Spieler verabschiedet hat. Die Liebe zu einer Farbe, die Liebe zu einem Menschen, beides gleichermassen unerklärlich. «Warum Blau? Man stellt mir oft diese Frage. Ich weiss nie, wie ich darauf antworten soll. Ich will sagen: Wir haben keine Wahl, wen oder was wir lieben. Wir haben einfach keine Wahl.»

Und weil sie keine Wahl hat, legt sie eine Sammlung an. Einen Fundus blauer Gegenstände, eine Kollektion von Wissenswertem über die Farbe Blau und ihre Bedeutung in der Natur, der Kultur und der Literatur. Dieser Auslese liegt kein Erkenntnisinteresse zugrunde, keine These, kein Prinzip, ausser dem, dass die Erzählerin sich an Dingen, die blau sind, irgendwie festhalten kann. Und ihr auch bei längerem Nachdenken keine Momente einfallen, «in denen mich etwas Blaues verzweifeln liess».

So schreibt sie über die Lapislazuli-Minen in Afghanistan, über Vögel, die blaue Gegenstände sammeln, um auf Balz zu gehen, oder über das «Cyanometer» – eine Farbtafel, mit deren Hilfe Horace-Bénédict de Saussure am Ende des 18. Jahrhunderts das Blau des Himmels bei verschiedenen Wetterlagen mass. «Wenn Blau irgendetwas auf dieser Erde ist, dann ist es reichlich vorhanden.»

«Bluets», das in den USA bereits 2009 veröffentlicht wurde, ist an vielen Stellen kryptischer und spiritueller, an anderen wiederum sachlicher als «Die Argonauten», das sechs Jahre später entstand, aber bereits seit einem Jahr auf Deutsch vorliegt – ebenfalls in der vorzüglichen Übersetzung von Jan Wilm. Die beiden Werke ähneln sich nicht nur in der Form, sie ergänzen einander auch, erzählen doch beide von der Liebe. «Bluets» von dem niederschmetternden Ende einer Liebe und «Die Argonauten» von der überbordenden Freude darüber, dass die zärtliche Liebe zwischen zwei Menschen manchmal erst der Anfang ist, der Anfang einer Familie.

So guter Dinge sind Maggie und Harry, dass es in den «Argonauten» an einer Stelle heisst, die Glückspolizei werde kommen «und uns festnehmen, wenn wir so weitermachen». Natürlich, das wird spätestens nach der Hälfte des Buches klar, zielt die Anspielung auf die Argo nicht nur auf die Geschlechtsanpassung von Harry ab – das Schiff in der griechischen Sage, das so oft umgebaut und repariert wird, bis kein Originalteil mehr da ist, nur noch der Name. Wir alle sind Argonauten, wir alle erleben die radikalen Veränderungen unseres Körpers und unserer Selbstwahrnehmung in Schwangerschaft, Alter und Todesnähe. Von solchen existenziellen Erfahrungen ausgehend, setzt sich Nelson anhand sorgfältig gewählter Passagen mit Theorietexten auseinander, findet bei Gendertheoretikern und Philosophen wahlweise Bestätigung oder widerspricht vehement.

Auch in «Bluets» setzt sie sich konsequent mit den eigenen Gefühlen und Gedanken auseinander. Und sie beobachtet sich, fast entschuldigend, selbst in ihrer Neigung, das eigene Innere auszuleuchten. Aber funktioniert das: sich an den eigenen Haaren ziehen, um zu zeigen, dass man weiss, wie tief man im Sumpf der eigenen Selbstwahrnehmung feststeckt? Jeglicher Kritik ausweichen, indem man sie antizipiert: Ich sehe ja selbst, was ich hier mache?

Im schlechten Fall sorgt Selbstreflexion für Immunität, im besten Fall für Intimität. Eine Intimität, die einen anderen Menschen ins Vertrauen zieht, an den eigenen Gedanken und Zweifeln teilhaben lässt. Selbstreflexion ist dann eine Art, über das sehr Persönliche so nachzudenken, dass es sich anderen Menschen mitteilt. Ein Denken, das sich zwar um sich selbst dreht, aber dabei eine Zentripetalkraft entwickelt, die andere mit hineinzieht in das eigene Erleben.

Und so macht Maggie Nelson sich angreifbar, statt sich zu immunisieren. An manchen Stellen geht sie sogar bewusst das Risiko ein, auf eigene Kosten missverstanden zu werden. Sie habe sich, schreibt sie zum Beispiel, mit ihrem Buchprojekt für unzählige Stipendien beworben und immer wieder betont, «wie aufregend, wie originell, wie unverzichtbar» ihre «Erforschung des Blaus» sein würde. Aber das gab es doch alles schon!, ruft man innerlich aus. Und dann, etliche Seiten später, noch dazu beiläufig, erwähnt sie, dass sich «alle zwölf Jahre jemand genötigt fühlt», ein Buch über die Farbe Blau zu verfassen. Vermutlich eine eher konservative Schätzung. Doch ist das ein Grund, es nicht zu tun? Auch über unglückliche Liebe sind bekanntlich schon unzählige Bücher geschrieben worden. Es kommt halt darauf an, wie man es macht.

Maggie Nelsons Bericht berührt, weil sie ihrer Verzweiflung nicht den Anschein des Aussergewöhnlichen verleiht; einen höheren Sinn sucht man hier vergebens. Sie weiss, dass sie es mit praktischen Problemen zu tun hat, die sich praktisch lösen liessen, wenn es denn so einfach wäre. Wie aber soll man den einstigen Geliebten gedanklich trennen von dem, was man unter Liebe versteht, «ohne dabei einen gewissen Grad an Gemetzel zu verursachen»?

Während wir die Autorin von «Die Argonauten» in einen lebhaften Austausch mit ihren gesammelten Zitaten treten sehen, bleiben in «Bluets» die Worte von Mallarmé, Goethe oder Leonard Cohen lose Blätter, wie von einem Windstoss durcheinandergebracht. Eine Gedankensammlung zur Farbe Blau, der ein roter Faden fehlt. Im ersten Moment wirkt «Bluets» deshalb spröder und weniger kunstvoll komponiert als «Die Argonauten». Im zweiten bemerkt man, warum das so sein muss. «Bluets» ist ein Buch über die Leere, die ein geliebter Mensch hinterlässt, wenn er auf einmal einen anderen Menschen liebt.

Deshalb wird es auch von keinem Spannungsbogen zusammengehalten, von keinem ausgeklügelten Konzept, es ist kein Beitrag zu einer Debatte, kein Kommentar zu irgendeiner Theorie. Das Negative ist nicht produktiv, es ist keine eigenständige Kraft. Die Erfahrung, die «Bluets» zugrunde liegt, ist ein lautloses, langsames Auseinanderfliegen. Das ist, bei aller Traurigkeit, das Tröstliche an dem Buch: Das Schlechte hat keine eigene Substanz, es ist nicht sinnstiftend.

Mit solchen Schwierigkeiten setzt sich Nelson auch in den «Argonauten» auseinander, wenn sie erklärt, warum sie über alles, nur nicht über die schwere Krankheit ihres neugeborenen Sohnes schreibt. Ausgerechnet diese erste Zeit mit ihm im Krankenhaus, so heisst es, ist für die Autorin Nelson «weder kostbar noch ergiebig». Ein ungeheurer Satz. Doch literarisch bedeutet er: Maggie Nelson schöpft aus dem Vollen, wenn es um das Glück geht, und steht mit leeren Händen da, wenn sie ihr Unglück schildert. Beim Schönen kommt sie ins Schwärmen, beim Unschönen bricht Stille herein. Das ist eine Form von Redlichkeit, ein Selbstverhältnis, das sich von der Lust an der Selbstreflexion nicht hinreissen – sondern andere Stimmen zu Wort kommen lässt.

Zur Autorin

Birthe Mühlhoff, Jahrgang 1991, hat Philosophie in Hamburg und Paris studiert. Sie schreibt für «Zeit online», die «Süddeutsche Zeitung» und diverse Zeitschriften, ausserdem übersetzt sie aus dem Englischen und Französischen, unter anderem für den Merve-Verlag und den «Merkur». Zuletzt erschien «Werbung für die Realität» (2018), ein literarischer Essay über das Internet im Mikrotext-Verlag.

Das Buch

Maggie Nelson: «Bluets». Aus dem Amerikanischen von Jan Wilm. Hanser Berlin, Berlin 2018. 109 Seiten, ca. 26 Franken. Zur Leseprobe gelangt man hier.

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