Einheitsstil? Von wegen!
Ist die Erzählliteratur der Gegenwart gleichförmig und marktkonform? Drei Schweizer Debütromane zeigen, dass das Unsinn ist.
Von Daniel Graf, 06.03.2023
Vorgelesen von Dominique Barth
Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!
In den aktuellen Frühjahrsprogrammen stechen mit Blick auf die Deutschschweizer Literatur vor allem zwei Tendenzen ins Auge.
Erstens: Die Klimakrise wird in den belletristischen Neuerscheinungen der kommenden Monate noch einmal ungleich stärker präsent sein als in den Vorjahren (später im Jahr mehr dazu).
Zweitens: Es ist eine Saison mit ungewöhnlich vielen Romandebüts.
Drei dieser Schweizer Erstlingsromane sollen hier näher vorgestellt werden, und zu den Gründen, warum gerade diese drei besonders bemerkenswert sind, muss man kurz ausholen und das böse Wort vom «neuen Midcult» in die Diskussion bringen, das seit einiger Zeit durch die Debatten um die Gegenwartsliteratur geistert.
Geprägt hat den Begriff der in Münster lehrende Literaturwissenschaftler Moritz Bassler in Anknüpfung an Dwight Macdonald und Umberto Eco – zunächst in einem kontrovers aufgenommenen Essay, dann in seinem im Herbst erschienenen Buch «Populärer Realismus». Basslers Grundthese lautet: In der Erzählliteratur der Gegenwart dominiere mittlerweile ein internationaler Einheitsstil, der auf «leichte und schnelle Lektüre» aus ist und sprachlich auf vertraute Textwelten setzt, die sich widerstandslos konsumieren lassen. Das gelte, so Bassler, eben nicht allein für die Genres der Unterhaltungsliteratur, sondern gerade auch für Literatur mit Kunstanspruch: Dem (doppelten) Begehren der Leserschaft, sich zwar nicht sonderlich anstrengen, aber doch an etwas kulturell Wertvollem teilhaben zu wollen, begegneten die Autorinnen zunehmend nur noch mit einer Tiefgründigkeits-Simulation.
Zwar war Basslers Argumentation schon in seinem Aufsatz deutlich komplexer, als es die polemische Zuspitzung seiner These und sein Furor gegen den «Murakami-Franzen-Schlink-Knausgård-Ferrante-Kehlmann-Komplex» vermuten liessen. Dennoch stiess der Text auf teils heftige Kritik – mitunter völlig zu Recht. Denn Bassler operierte nicht nur mit einem allzu pauschalen Scheingegensatz von marktkonformer und «echter» Kunst – als würden sich das Erfolgreiche und das künstlerisch Herausragende automatisch ausschliessen.
Seine Thesen wurden vor allem dort problematisch, wo er in autofiktionalen Romanen, die Fragen von race, class und gender verhandeln, bloss politische Botschaften an die ohnehin schon Gleichgesinnten erkennen wollte, aber die literaturhistorischen Errungenschaften dieser Texte übersah.
Dass aus dem Essay ein äusserst lesenswertes Buch geworden ist, hat dann auch viel damit zu tun, dass Bassler erkennbar auf die Kritik reagierte und seine Analyse deutlich ausdifferenzierte. «Populärer Realismus» ist schon jetzt ein Referenzwerk. Doch ist seine Grundthese nicht deshalb interessant, weil sie eine brauchbare Diagnose zur Gegenwartsliteratur in ihrer Bandbreite liefern würde (dafür ist sie zu pauschal); sondern weil sie einen Massstab setzt. Literatur, so liesse sich daraus ableiten, braucht eine Vielfalt von Macharten und Stilen statt die Verengung auf ein einziges Erfolgsmodell. Und um nicht im Konventionellen und Marktgängigen zu erstarren, müssen die literarischen Ausdrucksmöglichkeiten immer wieder durch neue Formen erweitert werden.
Warum also nicht häufiger da hinschauen, wo Autoren genau das tun – neue Schreibweisen finden?
Es ist die grundlegende Paradoxie von Mangeldiagnosen, wie Bassler sie vorbringt, dass sie letztlich zu genau der Verengung beitragen, die sie beklagen. Jedes Lamento über einen angeblichen Mainstream schaut bei seiner Beweisführung ja wieder nur da hin, wo die Aufmerksamkeit eh schon ist – und spricht zu wenig über die angeblich so ersehnten Gegenbeispiele.
Das ist beim Thema Gegenwartsroman besonders ironisch, weil die Fixierung auf Erzählliteratur selbst schon die literarische Bandbreite eklatant einschränkt. Und weil beim Fokus auf den Roman als die alles dominierende Gattung sogar innerhalb der Prosa aus dem Blick gerät, wie vielgestaltig aktuell erzählt und mit Formen experimentiert wird.
Womit wir wieder bei den drei Deutschschweizer Debüts wären. In ihnen geht es um so unterschiedliche Themen wie das Aufwachsen in einer Familie politischer Geflüchteter, den finnischen Winter als extreme Natur- und Selbsterfahrung oder um sexuellen Missbrauch. Gemeinsam ist den drei Büchern vor allem eines: dass die Autorinnen das Ausdrucksspektrum der Gegenwartsliteratur durch unkonventionelle Formen erweitern. Das macht die Texte per se interessant.
Allerdings: Eine Garantie auf ästhetisches Gelingen ist das noch nicht.
1. Coming of Age in Versen – Ralph Tharayil
Dass Ralph Tharayil in seinem Buch auf ungewöhnliche Weise erzählt, sieht man bereits, wenn man es an beliebiger Stelle aufschlägt. Dass es zugleich eines der hervorstechenden Debüts der letzten Zeit ist, merkt man dann etwas später.
«Nimm die Alpen weg» ist eine Coming-of-Age-Geschichte, aber kein klassischer Roman (obwohl das auf dem Cover steht). Der Text hat eine lyrisch gebundene Form, verzichtet aber auf die Rhythmik eines Versepos ebenso wie auf die Refrainstrukturen eines Langgedichts. Und wenn man sich bei den Versuchen einer Gattungszuschreibung mit einer Verlegenheitslösung à la «lyrische Prosa» behelfen muss, darf der Autor das getrost als Kompliment verstehen.
Erzählt wird im chorischen Wir eines Geschwisterpaares: Kinder, zu Beginn und gegen Ende des Textes zu jungen Erwachsenen geworden. Aber das ist vielleicht schon zu viel gesagt, denn so assoziativ aus Tharayils kurzen Verszeilen eine Abfolge heraufbeschworener Erinnerungsszenen entsteht, so wenig folgt der grosse chronologische Bogen einer streng linearen Entwicklung.
Wir hören Ma und
Pa.
Sie rufen uns.
Wir stellen uns stumm. Wir zupfen an den Halmen und beissen
uns
die Wimpern aus.
Die Kinder, Sohn und Tochter, bleiben namenlos, ähnlich wie auch der Vorname von «Ma und Pa» nur ein einziges Mal durch die Zeilen huscht. Wie kurze Kindersätze sind diese Gedächtnisnotate formuliert, zugleich poetisch überformt: eine Stenografie der Erinnerung. Aus immer neuen, nebeneinandergereihten Hauptsätzen entsteht allmählich eine Familiengeschichte, genauer: eine aus Erinnerungsfetzen zusammengesetzte Erzählung über das Heranwachsen in der Schweiz und eine Migration, die für die Eltern eine Erfahrung, für die Kinder eine Zuschreibung ist.
Das Land, in dem wir leben, kennt den Krieg nur von Weitem.
Das Land, in dessen Sprache Ma und Pa beten, kennt den Krieg
von allen Seiten.
Tharayils Buch ist keine Fluchterzählung, und im Zentrum steht auch nicht das Verhältnis der Ankommenden zur Mehrheitsgesellschaft, obwohl es auch hier eindringliche Szenen über den Alltagsrassismus der Xenophoben und den der Wohlmeinenden gibt.
Vielmehr geht es in diesem Text um die innerfamiliären Trennlinien, die von unterschiedlichen Erfahrungen gezogen werden: von der Entwurzelung der Eltern, den Erniedrigungen im neuen Land, ihrem eisernen Willen, den Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen; und der Sehnsucht der Kinder nach Zugehörigkeit. Von der Scham der Geschwister, wenn ihre Mitschüler zu Gast sind und die Eltern mit den Händen und offenem Mund essen, wie das in der Heimat üblich war; von der Selbstverständlichkeit, mit der die Kinder in der neuen Sprache gross werden – und der Entfremdung, die das für die Eltern bedeutet:
An einem winterlosen Tag sagen Ma und Pa:
Ihr sprecht wie Schlangen. Mit euren Zungen, die nicht zu uns
gehören.
Ralph Tharayil, 1986 als Sohn südindischer Migranten in der Schweiz zur Welt gekommen, hat in Basel studiert und lebt heute in Berlin. Für sein Schreiben, das von Lyrik über Hörstücke und Theatertexte bis zur Prosa reicht, wurde er unter anderem bereits beim Nachwuchswettbewerb Open Mike mit dem ersten Preis in der Kategorie Prosa und mit dem Alfred-Döblin-Stipendium ausgezeichnet. Sein Debüt ist nun in einem Berliner Haus erschienen, in der Edition Azur beim Verlag Voland & Quist, der sich langsam, aber sicher zu einer der ersten Adressen für neue Schweizer Literatur entwickelt.
Vor einigen Jahren hat Emilia Smechowski in ihrem autofiktionalen Buch «Wir Strebermigranten» über Integration und die Ambivalenzen eines vehementen Aufstiegswillens geschrieben. Ralph Tharayil hat nun dieses Phänomen aus einem ganz anderen Kontext heraus literarisch in die Schweiz und in eine lyrische Coming-of-Age-Erzählung geholt, in einem ureigenen Ton und mit der Kraft von Bildern, die in wenigen Strichen ganze Lebensthemen aufscheinen lassen.
«Strebermigranten» sind jedenfalls auch die Eltern in Tharayils Erzählung. Dass die Kinder einmal mustergültig integriert und angepasst den Weg Richtung Wohlstand gehen können, wird zu ihrem Lebenszweck. Der Lohn für die Schufterei wird irgendwann lauten: «Geschirrspüler», «Kronleuchter», «Carport», «Bodenheizung».
Doch die emotionale Vielschichtigkeit dieses Textes besteht nicht zuletzt darin, die ambivalenten und destruktiven Folgen dieses Aufstiegswillens zum Wohle der Kinder auszuloten: die Abwesenheit der dauerschuftenden Eltern; die Angst der Kinder vor dem strafenden Bambusstock, der jede Abweichung vom Programm der Wohlerzogenheit sanktioniert; die Coping-Strategien der Kinder, die lernen, Entschuldigung zu spielen; das Passiv-Aggressive der elterlichen Aufopferung und Selbstaufgabe, die vom Gutgemeinten zu einer Bürde für die Kinder wird:
Es gibt nur Kinder. Es gibt nur
unsere Kinder für die wir leben, sagt
Ma und deswegen fahren wir uns
ewig durchs Haar.
Es macht die emotionale Direktheit dieses Textes aus, dass in der schnörkellosen Abfolge der Erinnerungspartikel harmlose, beinah idyllische Kindheitsszenen mit Momenten grosser emotionaler Härte zusammenstossen. Doch das sind bereits Wertungen, die beim Lesen entstehen. Das erzählende Wir wertet nicht, es ruft die Erinnerungsfragmente vergegenwärtigend auf, stellt sie impressionistisch nebeneinander und lässt auf die Anpassungszwänge immer wieder kleine, kindliche Rebellionen folgen.
Und dann ist da die Freundschaft mit einem anderen Migrantenkind, einem ebenfalls Namenlosen, zu dem den Geschwistern von ihren Eltern bald der Kontakt verboten wird – schlechte Gesellschaft. Für die Kinder aber liegt in dieser Freundschaft nicht weniger als ein Versprechen: auf den Ausbruch aus der Effizienzwelt der Eltern, die von Verpflichtungen so umstellt ist wie ein Alpental von emporragenden Gipfeln.
Von all dem erzählt Ralph Tharayil nicht nach den Regeln der Autofiktion. Hier gibt es keine realbiografische Konkretisierung, die Herkunft der Familie wird nicht einmal eindeutig geografisch verortet, in den Szenen scheint vielmehr das Universelle der Erfahrungen auf.
Die stärksten Bilder gewinnt Tharayil dabei aus der Wiederaufnahme von Motiven und ihrer Variation, aus sprachlichen Wendungen, die neu aufgeladen werden. Sodass es plötzlich einen tieftraurigen Klang bekommt, wenn «Ma und Pa (…) alles klein schreiben, ausser uns»; und etwas Verschworenes, wenn es von den drei Freunden heisst: «Wir sitzen uns im Nacken.»
2. Alles tönt – Mirja Lanz
Aus dem Debüt der Zürcher Autorin Mirja Lanz klirrt einem die finnische Winterlandschaft derart eindringlich entgegen, dass der Roman wie auf den allerletzten Drücker noch in diesen Bücherfrühling hineinweht. «2. Januar, Ankunft» steht über dem Beginn, und mit den ersten zwei Sätzen hat der Text auch seinen Grundton gefunden.
Nachts flogen sie, korvat kuin korpit, Ohren wie Raben, die eine Stimme erspäht haben. Sie hörten Wald rauschen, hörten Sturm im Wald, Kronen von Föhren, Astnetze sich bauschen in der Dunkelheit.
Haben Sie den Reim rauschen gehört – oder ihn «erspäht», wie es die offenbar synästhetisch trainierten Raben hier tun (kurz bevor auch sie einen Reimpartner erhalten)? Wenn die «Ohren» optisch leicht verwandelt in den «Föhren» wiederkehren, wird ja tatsächlich mit den Augen gereimt.
Die Buchstaben- und Klangketten, die Mirja Lanz wie Girlanden durch ihre Sätze zieht, sind Programm. Und die fremdsprachigen Einsprengsel, die man im Lauf der Lektüre als finnische Vokabeln zu identifizieren lernt, werden zwar am Ende in den Anmerkungen erläutert; man darf sie aber getrost erst einmal unübersetzt auf sich wirken lassen, weil es auch hier um die sinnliche Wahrnehmung selbst geht, um die Begegnung mit einer sprachlichen Klangwelt.
Wovon handelt dieser Text?
Das ist für die literarische Ästhetik von Mirja Lanz schon zu hemdsärmelig gefragt, weil es hier keinen Plot jenseits der Form, jenseits des sprachlichen Geschehens selbst gibt.
Vielleicht kann man es so sagen: Der Roman erzählt von einer familiären Spurensuche, von der Natur des Nordens, von den Hindernissen des Verstehens und vom Werden eines Romans. Aber «handeln», handeln tut er von nichts. Alles ist hier Atmosphäre, Stimmung, Sound. Das macht den besonderen Reiz dieser Ästhetik aus. Und darin liegt ihre Absturzgefahr.
Aava, die Protagonistin, ist nach Finnland gereist, wo ihre familiären Wurzeln liegen. Die Reise bedeutet eine überwältigende Naturerfahrung, aber mindestens ebenso sehr eine (Wieder-)Begegnung mit einer fremdvertrauten Sprache. Die finnischen Wörter: ein Kindheitsklang, und doch ist die Bedeutung immer nur schemenhaft greifbar – die Übersetzer-App hilft bei der Wiederaufnahme des Gesprächs mit der Familie.
Was war geschehen? Warum hat Aava diese Gegend einst verlassen? War sie überhaupt je hier?
Die Vorgeschichte bleibt schattenhaft, die Konturen zwischen Aava, der angehenden Schriftstellerin, und Tuuli, der literarischen Figur, die ihr vorschwebt, verschwimmen. Oder besser: Die Konturen verwehen. Tuuli ist übrigens Finnisch und heisst «Wind».
«Sie flogen nachts», schon jetzt mit Sicherheit eines der eigenwilligsten Debüts dieses Jahres, steht auch im literarischen Dialog mit nordischen Sagen und Märchen, hantiert mit Elementen von Zauberspruch, Geister- und Gruselgeschichte. Hemmungslos überantwortet die Autorin das Geschehen an die Sprachmusik, ans Assoziative, an das (nicht immer produktive) Spiel mit Doppeldeutigkeiten. Manches von dem, was dabei auf den ersten Blick manieriert erscheinen kann, lässt sich als feinsinnige Sprachreflexion verstehen:
Was, wenn Tuuli verwundet an der Wirklichkeit.
Was, wenn sie fremde Geschichten entert, dachte Aava.
Was, wenn sie unter einer fremden Zunge übernachtet.
Das ist nicht einfach nur wahllos verfremdete Sprache. Es bildet den Effekt nach, der beim Sprachenlernen eintritt, wenn man die Idiomatik verfehlt; wenn Redensarten nicht recht übertragbar sind; wenn man vor lauter Bemühen um eine gewählte Ausdrucksweise ein viel zu hohes Sprachregister wählt.
Und dennoch: Die masslose Hingabe ans Kapriziöse ist das Grundproblem dieses Textes. Weil sich der Reiz des Sprachspiels ohne ein Gegengewicht im Stofflichen bald erschöpft. Und weil die Autorin zu grosszügig mit ihren Einfällen umgeht.
Die Detailarbeit an der Laut- und Rhythmusdimension ist faszinierend, aber wenn es permanent überall «schallt und wallt», klingt es auch schnell mal nach Richard-Wagner’schem Heiapopeia. Das Spiel mit kleinsten sprachlichen Verschiebungen hat poetische Kraft, aber wenn zum Beispiel das Ich erst «die Fischgründe meiner Ahnen», dann «die Fischgründe meiner Ahnung» aufsucht – ist das dann freiwillige Komik? Leuchtvokabeln wie «Sternenstaub» oder «entschmelzen» schrammen hart am Kitsch vorbei. Und während Lanz literarisch teilweise grossartige Winterlandschaftsbilder zeichnet, werden die Wörter ultrahocherhitzt. Selbst der Staubsauger muss «aufheulen».
«Ich komme nicht mit der Welt in Kontakt», heisst es einmal. Das gilt vor allem auch für Aavas schriftstellerisches Projekt. Wonach sie genau sucht, was hier eigentlich erzählt werden soll: Es bleibt unklar. Die Geschichte, die in Aava schlummere und nun endlich zum Vorschein komme: Sie wird viel mehr beschworen und behauptet als erzählt. Einmal deutet sich die Geschichte zweier Schwestern an – und verblasst im Nu.
Aava will von Tuuli erzählen, ihrer flüchtigen Hauptfigur und ihrem Alter Ego. Doch Tuulis Geschichte bleibt die grosse Leerstelle, ein uneingelöstes Versprechen.
Ich weiss nicht, wie es war. Ich erzähle es so.
Die Geschichte ist verschlungen. Ich beginne, auch
wenn ich nicht sagen kann, wo der Anfang ist.
Die Erzählerin umkreist ein ominöses Zentrum, das sich immer wieder entzieht. Und so ersetzt auch Mirja Lanz die Annäherung an eine Geschichte durch Aufladung der Wörter – und durch überbordende poetologische Selbstreferenzialität. Alles deutet hier letztlich auf die Sprache selbst und einen innerliterarischen Raum, durch den die Stimmen von Autoren wie Robert Macfarlane oder Günter Eich geistern.
Bald wird der Text auch typografisch zu einer visuellen Inszenierung, wird «Augen-Literatur». Die Stern-Zeichen «∗» wirbeln dutzendfach als Schneeflocken über die Seiten, das lautmalerische «s c h» des Windes dringt machtvoll in die Zeilen ein, verdrängt den Fliesstext über halbe Seiten hinweg, als gelte es, das zweckgebundene Sprechen einfach wegzufegen. Die visuelle Buchstabeninszenierung führt das Aufwehen der Seiten vor Augen – und symbolisiert die Überführung der Sprache in Klang und Bild.
So wird in der «verschlungenen Geschichte» dieses Romans in Wirklichkeit die Geschichte selbst verschlungen. Die literarische Selbstreferenz überwuchert das Versprechen auf eine (Familien-)Geschichte. Darin kann man das Bekenntnis zu einem neuen, radikalen Ästhetizismus sehen. Oder eine Erzählvermeidungsstrategie. Oder die Parabel einer Abweisung, eines gescheiterten Versuchs, zur Natur, zur Familie, zur Wiederaufnahme eines Gesprächs vorzudringen.
Wer bis zum Ende durchhält und sich nicht davon abhalten lässt, dass in dieser Textlandschaft neben konturenscharfen Eisblumen auch hin und wieder Stilblüten zu finden sind; wer die Erwartung einer greifbaren Geschichte fahren lässt und hinnimmt, dass die sprachlichen Effekte mitunter auch Wirkung ohne Ursache zelebrieren, wird diesen Roman vielleicht als Blickschulung für das Momenthafte und Ephemere lieben:
… schau
Schon ist das Bild fort.
Jenseits des Waldes
kommt Wind auf.
Mirja Lanz’ Projekt einer literarischen Wiederverzauberung der Welt hätte sich vom Märchen noch mehr Aschenputtel-Prinzip abschauen können: Die guten Ideen ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Aber den Mut, die einzelnen Momente im Text überhaupt erst so zu exponieren, muss man erst einmal haben. Radikal ist, wie konsequent Mirja Lanz ihr Schreiben als Arbeit an der Sprache begreift und das Gelingen von der Originalität der formalen Einfälle abhängig macht. So ein ästhetisches Programm liegt allerdings auch radikal neben den Erwartungen an Verkäuflichkeit. Deshalb ist der Dörlemann-Verlag nicht hoch genug zu loben, dass er solche Bücher trotzdem macht.
3. Vom Weg- und Hinschauen – Sarah Elena Müller
Die Debüts von Ralph Tharayil und Mirja Lanz sind schon der äusserlichen Anmutung nach als unkonventionelle Erzähltexte erkennbar. Beim ersten Roman der Autorin und Musikerin Sarah Elena Müller hingegen liegt das Ungewöhnliche ganz in der sprachlichen Tiefenstruktur.
Triggerwarnung: Es geht in diesem Buch um sexuellen Missbrauch von Kindern.
Sarah Elena Müller hat viele Jahre an dem Roman gearbeitet und umfassend zum Thema recherchiert. Schon durch die Wahl des Sujets ist «Bild ohne Mädchen» eine emotional herausfordernde Lektüre. Dass das Buch einem nahegeht, in einem guten, aufklärerischen Sinn, hat aber auch mit der sehr bewussten Machart des Textes zu tun.
Der Roman spielt in der kleinen linksalternativen Enklave eines landwirtschaftlich geprägten Bergdorfs, die Handlung setzt in den späten 1980er-Jahren ein, noch bevor das World Wide Web seinen Siegeszug beginnt.
Da ist das Mädchen, das zu Hause nicht fernsehen darf und deshalb regelmässig bei den Nachbarn schaut. Dem irgendetwas fehlt, das auch der mit den Eltern befreundete Heiler nicht findet, und das spätestens mit der Einschulung zur Aussenseiterin gemacht wird. Die Klassenkameraden tragen ausnahmslos «Werbeschirmmützen der im Dorf beliebten Landmaschinenhersteller», nur sie steht mit ihrem Cap von der Umweltschutzorganisation WWF verloren zwischen «den Aebi- und den Metrac-Kindern». Die Bettnässerei, sagt der Heiler zur Mutter, werde sich auswachsen. «Aber das fehlende Gefühl …»
Die Mutter ist Bildhauerin und modelliert ihre Skulpturen bevorzugt mit dem Walkman auf den Ohren. Der Vater ist engagierter Biologe, und wenn das Kind ihn am Telefon reden hört, weiss es, die Kundschaft möchte wieder, «dass der Vater eine Tier- oder Pflanzenart rettet, bewahrt oder zählt und den Streit mit denen schlichtet, die das Gegenteil wollen».
Da sind die Nachbarn: Gisela, die von enttäuschten Hoffnungen so gebeugt ist wie die Gipsfiguren auf ihrem Balkon und die doch bei dunklen Ahnungen schnell «wieder in eine hellere Richtung» denkt. Und ihr Mann Ege, der Medientheoretiker, der vor einigen Jahren aus Berlin in die Schweiz zurückgekehrt ist, um auf dem Land eine philosophische Praxis zu eröffnen, in die niemand kommt. Ausser einem Fernseher hat er alles Mögliche an Rekordern und Bildschirmen bei sich rumstehen und kommt trotz aller Entziehungskuren nicht vom Rotwein los. Und da ist, ganz zentral, ein Engel mit einem Zweizack, den nur das Mädchen sieht und hört.
Nur der Vollständigkeit halber: «Bild ohne Mädchen» ist kein Buch ohne jede Schwäche. Manche sind typisch für Debüts, eine recht forcierte, manchmal überstrapazierte Leitmotivtechnik zum Beispiel (etwa wenn das «Viereck» des Familienbildes in vielfacher Variation wiederkehrt). Oder Dialoge, die artifiziell wirken, weil aus ihnen nicht die Figur, sondern die Autorin spricht.
Aber das ist erstens vereinzelt und zweitens nicht wichtig. Viel interessanter ist, was hier alles gelingt.
Sarah Elena Müllers Erzählkunst hat viel, sehr viel mit Perspektive zu tun. In einem früheren Projekt hat sich die Autorin intensiv mit Ilse Aichinger befasst, und wie in Aichingers Prosa wird auch in «Bild ohne Mädchen» virtuos entlang der Schwelle zwischen Kinder- und Erwachsenenperspektive erzählt. Oft gleiten die Sätze in unmerklichen Übergängen zwischen beiden Blickwinkeln hin und her.
Der Vater klemmt den Hörer kurz zwischen Schulter und Kinn ein und zeichnet schwungvoll mit dem Kugelschreiber zwei Kreise auf ein Papier. Das Kind weiss schon, dass in der Mitte, wo sie einander überschneiden, eine Lösung verborgen liegt. Die Tiere und Pflanzen sind auf diese Lösung angewiesen. Und der Vater muss sie finden.
Über den Engel, den das Mädchen einmal ganz kurz auf dem Bildschirm bei Ege gesehen hat, würde es beim Vater gerne auch «eine Auskunft» einholen. «Ob er eine Spezies ist. Und ob er selten und speziell und schützenswert ist. Es will, dass der Vater mit ihm zu den Nachbarn kommt und dem Engel einen Namen gibt.» Dieser Engel, der «alles so gut ausdrücken» kann – «immer hat er die Worte zu den Gefühlen» – ist das Gegenmodell zu ihrer eigenen Sprachlosigkeit. Aber die Eltern sprechen diese Sprache nicht, der «stumme Biologenblick» des Vaters sagt nur, dass der Engel bloss eine Vorstellung sei.
Von der ersten Seite dieses Buches an ist klar: Hier ist etwas zutiefst bedrohlich, mit dem Kind geschieht etwas Schreckliches. Doch es gibt vorerst keine Erzählinstanz, die stellvertretend einordnet und uns als Lesende in eine Situation des klaren Überblicks bringt. Wir müssen die Erzählungen des Kindes und die Verdrängungsgeschichten der Erwachsenen erst lesen lernen; und begreifen, dass die verfremdete, scheinbar verschobene, surreale Erzählweise des Mädchens als einzige zur Wahrheit hinführt.
Das Stärkste an diesem Roman ist die gegenläufige Bewegung, in der Sarah Elena Müller erzählt.
Einerseits sind die Anzeichen für das Unrecht, das hier geschieht, schon sehr früh klar. Immer deutlicher wird das kollektive Versagen der Erwachsenen, ihr hartnäckiges Wegschauen und Weghören. Wie jämmerlich die Therapieversuche des befreundeten Heilers sind, dessen esoterischer Weltsicht keine besseren Ideen als Algentabletten und Duftöl entspringen. Wie die Feindbilder der Mutter sie dazu verleiten, das eigentliche Problem zu übersehen. Wie das angebliche Verstummen des Kindes in Wirklichkeit die Unfähigkeit der Erwachsenen ist, zuzuhören – und die Sehschwäche, die beim Kind diagnostiziert wird, doch nur sie befallen hat.
Andererseits, und das macht die verstörende Eindringlichkeit dieses Buches aus, wird man beim Lesen zunächst selbst verstrickt in die Mechanismen aus Abwiegeln und Wegsehen. Bevor das Geschehen offen zutage liegt (und von den Figuren immer noch geleugnet wird), hat man womöglich selbst schon einmal das Kind im Stich gelassen: durch Mutmassungen und die Suche nach anderen Erklärungen, fehlgeleitet auch von Suggestionen der Erzählstimme und vielleicht dem eigenen wishful thinking.
Man kann die literarischen Verfahren, mit denen Sarah Elena Müller diesen Effekt kreiert, allenfalls andeuten, weil sonst der seltene Fall eines Spoilers eintritt, der nicht auf Inhaltsebene liegt, sondern auf Ebene der Form. Doch es ist unter anderem dieser Kniff, der es nach dem Durchschauen der Situation umso unerträglicher macht, den Figuren beim Wegsehen zusehen zu müssen (inklusive ihrer Versuche einer Täter-Opfer-Umkehr).
Im Prolog des Romans betrachtet die Mutter des Mädchens einmal ein Familienfoto, auf dem sie selbst als Kind zu sehen ist.
Der Fotograf hatte gesagt, Mademoiselle solle doch bitte ihr Kinn ein klein wenig anheben. Die Mademoiselle hob aber nicht das Kinn, nur den Blick kurz an. Der Fotograf, erschrocken über die Traurigkeit, die ihm nun durch das enge Objektiv entgegenstürzte, vergass abzudrücken, die Mademoiselle blickte schon wieder weg, über den Rand des Daseins hinaus, als der Auslöser schliesslich klickte.
«Auch die anderen haben den Horizontblick», stellt die Mutter fest und fährt mit dem Finger über das Glas (…).
Auch die traumatische Geschichte der anderen Frauen im Familienbild wird der Roman noch ausleuchten. Der Engel des Mädchens hingegen wird nach Jahren doch noch zum Racheengel. Und das Mädchen findet als junge Frau den Ausweg aus der Enge der Familienkonstellation.
Wenn die Prognose erlaubt ist: Der Roman von Sarah Elena Müller dürfte einer der bleibenden dieses Jahres werden.
Nachsatz
Schon seit Jahren bringt die deutschsprachige Literatur zuverlässig Erzähltexte hervor, die das Repertoire an Formen und Tonlagen markant und eigenständig erweitern. Allein unter den Deutschschweizer Debüts der letzten Jahre etwa: X Schneeberger, Katja Brunner, Ariane Koch, Noemi Somalvico, Thomas Duarte, Kim de l’Horizon, Anna Ospelt … you name it.
Statt Thesen vom literarischen Einheitsbrei das Wort zu reden, sollten vielleicht eher wir Leserinnen, die Literaturkritik, der Buchhandel und die literarische Öffentlichkeit fragen, wie sehr wir noch bereit sind, die Vielfalt wahrzunehmen und abzubilden.
Womöglich hat die Sache mit dem Midcult ja wenig mit der literarischen Produktion zu tun. Und viel mit der Frage, wer wo wirklich hinschaut.
Ralph Tharayil: «Nimm die Alpen weg». Roman. Voland & Quist, Edition Azur, Berlin 2023. 128 Seiten, ca. 32 Franken.
Mirja Lanz: «Sie flogen nachts». Roman. Dörlemann, Zürich 2023. 208 Seiten, ca. 32 Franken.
Sarah Elena Müller: «Bild ohne Mädchen». Roman. Limmat, Zürich 2023. 208 Seiten, ca. 32 Franken.