Klimaschutz ist ein Menschenrecht
Die Schweizer Klimaseniorinnen gewinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Es ist ein dickes und deutliches Urteil – mit weltweiter Signalwirkung.
Von Brigitte Hürlimann, 09.04.2024
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Der Weg war lang. Sehr lang, mühsam und kostspielig. Sie wurden belächelt, manchmal gar verspottet, und sie kassierten hierzulande eine Watsche nach der anderen. Acht Jahre ist es her, dass der Verein Klimaseniorinnen Schweiz sowie vier Einzelklägerinnen beim Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) ein Begehren für mehr Klimaschutz einreichten. Mit der Begründung, dass sie als Seniorinnen von den Hitzewellen besonders stark betroffen seien – an Leib und Leben. Hier und heute.
Doch weder das Uvek noch das Bundesverwaltungsgericht als zweite und später das Bundesgericht als dritte Instanz mochten sich dem Anliegen annehmen; niemand prüfte, ob die Schweizerische Eidgenossenschaft wegen ungenügender Massnahmen gegen die Klimakrise allenfalls Menschenrechte verletzt. Den Klägerinnen wurde die besondere Betroffenheit oder die Klagebefugnis abgesprochen.
Das Bundesgericht versteigt sich in seinem Urteil vom Mai 2020 gar zur Behauptung, es bleibe noch genügend Zeit für griffige Massnahmen. Die Klägerinnen seien nicht «mit der erforderlichen Intensität in ihren (Grund-)Rechten (…) berührt». Plus: Sie sollten ihr Anliegen gefälligst auf dem politischen Weg durchsetzen, nicht vor den Gerichten.
Mit solchen Ausflüchten ist nun Schluss. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am Dienstag ein Machtwort gesprochen. Deutlicher als erwartet. Die Strassburger Instanz rügt die Schweiz wegen zweifacher Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Was bedeutet: Die Schweiz muss nachbessern. Und zwar rasch.
Ort: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Strassburg
Zeit: 9. April 2024, 10.30 Uhr
Fall-Nr.: 53600/20
Thema: Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK): Recht auf Privatleben (Artikel 8), Recht auf den Zugang zum Gericht (Artikel 6)
Der Entscheid ist 260 Seiten dick.
Der EGMR stellt ihn unverzüglich auf seine Website, nachdem Gerichtspräsidentin Síofra O’Leary am Dienstagmittag die letzten Worte im überfüllten Gerichtssaal gesprochen und die Urteilseröffnung für beendet erklärt hat. Im Namen der Grossen Kammer, sprich: für siebzehn Richterinnen und Richter, die den Fall der Schweizer Klimaseniorinnen und zwei weitere Klimaklagen aus Frankreich und Portugal zu entscheiden hatten.
Die Augen und Ohren der Welt hängen während einer knappen Stunde an den Lippen der irischen Richterin, die auf Englisch und Französisch referiert. Auch Klimaaktivistin Greta Thunberg ist nach Strassburg gereist. Dieses Mal sitzt die Gerichtspräsidentin allein auf dem ausladenden Richterpodest, anders noch als bei der Anhörung vor einem Jahr, als die Grosse Kammer in Vollbesetzung und äusserst interessiert die Klägerinnen ausfragte. Mit einer Fallkenntnis, die überraschte und imponierte.
O’Leary spricht schnell, konzentriert und routiniert. Die Materie ist komplex und umfangreich; Neuland für den Gerichtshof. Andere Klimafälle wurden sistiert. Bei diesen dreien gehts um die Wurst.
Der Fall aus der Schweiz wird als erster behandelt – und schon bald geht ein Raunen durch die Reihen der weisshaarigen Frauen, die sich mit Schals und Buttons als Klimaseniorinnen zu erkennen geben.
Die Reise hat sich gelohnt.
Und überhaupt die Strapazen, das Engagement, die Hartnäckigkeit in den vergangenen acht Jahren.
Die Seniorinnen aus der Schweiz gewinnen. Der Gerichtshof gibt ihnen recht.
Mehr als 2500 Frauen gehören heute dem Verein der Klimaseniorinnen an, das Durchschnittsalter beträgt 73 Jahre. Drei Dutzend von ihnen haben den Weg nach Strassburg auf sich genommen, um direkt vor Ort zu vernehmen, was mit ihrer Klage geschieht.
Und sie hören: Ja, die Schweiz hat ihre Menschenrechte verletzt, konkret Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der das Recht auf ein Privat- und Familienleben schützt. Die Schweiz hat zu wenig unternommen, um die älteren und alten Einwohnerinnen vor den gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels zu schützen. Und sie hat zudem noch Artikel 6 der EMRK verletzt, weil sich keine einzige der hiesigen Gerichtsinstanzen inhaltlich mit den Rügen der Seniorinnen auseinandersetzen wollte.
Jubel bricht aus, als die Frauen den Gerichtssaal verlassen. Sie fallen sich in die Arme. Umstehende applaudieren. Eine Hundertschaft an Medienleuten filmt, fotografiert, nimmt O-Töne auf.
Ruhiger geht es bei den französischen und portugiesischen Gruppen zu. Ihre Klagen wurden vom Gerichtshof abgewiesen. Sie forderten zwar Ähnliches wie die Schweizer Klimaseniorinnen, es gelang ihnen jedoch nicht, die prozessualen Hürden zu überwinden. Die Good News für die unterlegenen sechs portugiesischen Jugendlichen und für den ebenfalls gescheiterten Ex-Bürgermeister aus Frankreich sind jedoch: Der Entscheid im Fall der Schweizer Klimaseniorinnen wird auch ihnen zugutekommen. Er hat Auswirkungen auf alle 46 Mitgliedstaaten des Europarats.
Es ist ein Präzedenzfall.
Und ein Urteil mit Signalwirkung für die ganze Welt.
Ein Entscheid, der fortan nicht mehr ignoriert werden kann.
Erstmals, schreibt Greenpeace Schweiz noch gleichentags in einer Mitteilung, habe ein länderübergreifendes und auf Menschenrechte spezialisiertes Gericht direkt einen menschenrechtlich begründeten Anspruch auf Klimaschutz gutgeheissen. Jetzt müsse die Schweiz ihre aktuellen Klimazielsetzungen nachbessern «und diese auf Basis wissenschaftlicher Grundlagen definieren».
In den Worten von Gerichtspräsidentin Síofra O’Leary klingt es noch deutlicher. Und härter. Die Schweiz habe es versäumt, ihren Verpflichtungen gestützt auf die Menschenrechtskonvention nachzukommen, sagt sie in der mündlichen Urteilsbegründung. Es gebe «kritische Lücken» in der Gesetzgebung und «Versäumnisse», was die Quantifizierung der erforderlichen CO2-Reduktion betreffe. Ausserdem habe die Schweiz ihre Klimaziele in der Vergangenheit nicht erreicht.
Die Staaten hätten zwar ein weites Ermessen, was die Umsetzung von Massnahmen betreffe, so O’Leary weiter. Der Gerichtshof habe aber feststellen müssen, dass die Schweiz «nicht rechtzeitig und nicht angemessen» gehandelt habe.
Über den Schweizer Fall hinaus hält der EGMR fest, dass die Folgen des Klimawandels die Menschenrechte bedrohten – und staatliches Nichthandeln oder ungenügendes Handeln existenzbedrohende Folgen hätten. Der Gerichtshof dürfe solche Fragen nicht ignorieren; damit widerspricht der EGMR einem Argument des Staates Schweiz, der vor einer «übermässigen Verrechtlichung» des Klimaproblems gewarnt hat.
Überhaupt spart der Gerichtshof nicht mit Hinweisen an sämtliche Vertragsstaaten: Es sei ihre Verpflichtung, geeignete Massnahmen zu erlassen, um die existierenden, in der Zukunft gar irreversiblen Folgen für die Menschheit zu mildern oder zu verhindern. Alles andere verletze Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Das hat der Gerichtshof im Fall der Schweizer Klimaseniorinnen klar festgehalten, der Wink mit dem Zaunpfahl gilt jedoch für alle.
Und was dazukommt: Erstmals hat der EGMR einem Verein die Opfereigenschaft und damit die Berechtigung zur Klage zugesprochen. Das sei ein «riesiger Erfolg», sagt Martin Looser vom Anwaltsteam der Klimaseniorinnen: «Damit hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung radikal geändert. Dieser Entscheid vereinfacht den Zugang zum Gericht deutlich. Betroffene dürfen sich organisieren, gemeinsam vorgehen und ihre Kräfte bündeln: als Mitglieder eines Vereins.»
Anders als die Klage des Vereins hat der Gerichtshof die Einzelklagen von vier Seniorinnen abgewiesen – was eine Überraschung ist, die Freude am Sieg des Vereins allerdings nicht zu schmälern vermag.
Cordelia Bähr, Leiterin des Anwaltsteams, spricht von einem «historischen Tag». Und für alle, die es noch nicht glauben, wiederholt sie in Dutzende von Mikrofonen: «Klimaschutz ist ein Menschenrecht.»
Illustration: Till Lauer