«Endlich!»: Elisabeth Stern unterwegs zum Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte.

Frau Stern reist nach Strassburg

Den eigenen Staat verklagen und siebzehn Richtern Rede und Antwort stehen: Das machen die Schweizer Klima­seniorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte. Unter den Augen der Welt­öffentlichkeit.

Von Brigitte Hürlimann (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 01.04.2023

Vorgelesen von Dominique Barth
0:00 / 22:52
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«Ich bin nervös und kribbelig, habe nicht gut geschlafen. Es ist crazy, was seit ein paar Tagen abgeht, vor allem dieser Medien­rummel. Aber nun sind wir so weit. Fast sieben Jahre haben wir auf diesen Moment hingearbeitet, drei Watschen in der Schweiz kassiert. Wir sind belächelt, als Grosis, peinliche Lachnummer und ‹lustige Frauen› bezeichnet worden – oder, noch schlimmer, als Marionetten von Greenpeace. Das ist despektierlich und beleidigend. Doch die positiven Feed­backs haben klar überwogen, manche Leute reagierten schon fast euphorisch auf unser Vorgehen.»

Sagts und trinkt einen Schluck Ingwertee. Elisabeth Stern aus dem Zürcher Oberland, 75 Jahre alt, Psychologin und promovierte Ethnologin, Aktivistin seit einem halben Jahrhundert, ist auf dem Weg nach Strassburg – mit dem Zug, selbstverständlich, Streiks hin oder her. Es ist Dienstag­mittag, der 28. März 2023.

«Endlich», sagt sie, «endlich gehts nach Strassburg!»

Stern ist Klima­seniorin, Vorstands­mitglied im gleichnamigen Verein, der 2016 gegründet wurde und heute über zweitausend Mitglieder zählt. Lauter Seniorinnen, einige von ihnen sind hochbetagt. Initiiert wurde die Organisation von Greenpeace Schweiz, genauer gesagt, von Klima­spezialist Georg Klingler, der eine erfolgreiche Bürgerinnen­aktion in Holland zum Vorbild genommen hatte. «Wir haben Seite an Seite gearbeitet», sagt Elisabeth Stern, «Greenpeace war der Ort, wo wir das Know-how holten. Wir haben sie ziemlich gefordert und auf Tempo gedrängt. Keine Rede davon, dass sie uns instrumentalisiert haben. Wir sind keine härzigen Grosis.»

Der Verein, sagt Stern, bestehe aus Frauen, die schon ihr ganzes Leben Aktivistinnen gewesen seien: für den Umwelt­schutz, für den Frieden, für Frauenrechte. Der Kampf um Klimaschutz und Klima­gerechtigkeit sei die logische Fortsetzung eines lebenslangen Engagements.

Dass keine Männer zugelassen wurden, hat gute Gründe: prozesstaktische.

Das Schweizer Recht verlangt nach einer besonderen Betroffenheit, und genau diese machen die Klägerinnen auch geltend. «Sonst hätten wir den Rechtsweg nicht beschreiten können», sagt Elisabeth Stern. «Wir mussten darlegen, dass alte Frauen mehr unter den Hitze­sommern von 2003, 2015, 2019 und 2022 litten als der Rest der Bevölkerung. Den Senioren oder anderen Gruppen bleibt es offen, selbst einen Verein zu gründen und sich zu wehren. Wir gehen mit gutem Beispiel voran.»

Bahnhof Basel – Zwischenstopp auf dem Weg von Zürich nach Strassburg: Der Medien­rummel ist enorm, für den Ingwertee bleibt kaum Zeit.

Ohne die Beschränkung auf Seniorinnen hätte die Bahnfahrt nach Strassburg kaum statt­gefunden, weder für Elisabeth Stern noch für die anderen acht Vorstands­mitglieder sowie die vier Einzel­klägerinnen – ebenfalls Mitglieder des Vereins und alle über achtzig Jahre alt.

Hunderte von Unter­stützerinnen von nah und fern hätten sich die Reise sparen können, zwei je siebenköpfige Anwalts­teams wären nicht in der Stadt am Rhein eingetroffen, all die Medien­schaffenden, Politikerinnen, Wissenschaftler und NGO-Vertreterinnen hätten zu Hause bleiben können.

Die offizielle Schweiz ist «not amused»

Doch alle sind sie nun gekommen, um an einem historischen Ereignis teilzunehmen; kein Wunder, ist Elisabeth Stern bereits am Vortag nervös. Ebenso klar ist, dass die Delegation der Gegenpartei, des Staates Schweiz, über den öffentlichen, viel beachteten Termin und über den Rummel vor Ort not amused ist.

Das ist eine verständliche Reaktion.

Welcher Staat nimmt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte (EGMR) schon gern die Rolle des Beklagten ein? Und wie viel unangenehmer muss diese Situation sein, wenn es darum geht, dass sich der EGMR erstmals überhaupt mit einer Klima­klage zu befassen hat – und die Sache derart ernst nimmt, dass der Fall der grossen Kammer zugeordnet, das heisst, von siebzehn Richtern beurteilt wird?

Auch das ist alles andere als der Regelfall. Denn die grosse Kammer ist für Klagen von grundlegender Bedeutung zuständig.

Die Schweiz als beklagter Staat, und erst noch in einem Präzedenz­fall rund um die Klimakrise, geniesst am Tag der öffentlichen Anhörung offensichtlich nicht die Sympathien der Menschen­menge.

Der Jubel vor dem Tor, der Beifall, die aufmunternden Zurufe, all die Wimpel, Papier­blumen und Transparente gelten den weiss- und grau­haarigen Frauen, die seit bald sieben Jahren konsequent ein Ziel verfolgen: Die Schweiz soll den Klima­wandel ernst nehmen und anerkennen, dass ein mangelhafter Klimaschutz die Menschen­rechte tangiert – hier und heute. Der Staat, so die Klima­seniorinnen, müsse aktiv dafür sorgen, dass sie als besonders betroffene und vulnerable Bevölkerungs­gruppe geschützt würden.

Nichts tun oder zu wenig tun verletze die Europäische Menschenrechts­konvention: das Recht auf Leben sowie das Recht auf ein Privat- und Familien­leben. Die Schweiz sei in der Pflicht und müsse unverzüglich handeln, die notwendigen administrativen und gesetz­geberischen Massnahmen ergreifen, um einen globalen Temperatur­anstieg von mehr als 1,5 Grad zu verhindern. Dazu gehörten konkrete Emissions­reduktions­ziele im Inland und ein Engagement im Ausland.

«Saumässig schlechte» Argumente

Noch aber ist es Dienstag und am Vortag der Anhörung ziemlich menschen­leer vor dem Gerichtshof für Menschen­rechte. Der Zug von Elisabeth Stern fährt am frühen Nachmittag in Basel ein; nur knapp hat sie es geschafft, in den fünfzig Minuten Fahrzeit ab Zürich ihren Ingwertee leer­zutrinken – zu viel gibt es zu berichten: über ihre Arbeit in Zimbabwe, über Dürre und ausgetrocknete Wasser­löcher, ihren Job beim Kinderdorf Pestalozzi, über ihre Töchter – und wie sie bei den Klima­seniorinnen auf Gleichgesinnte stiess.

Doch was erhofft sich die 75 Jahre alte Aktivistin von ihrer Reise nach Strassburg, von der Anhörung vor dem Gerichtshof, die in wenigen Stunden, am Mittwoch­morgen, dem 29. März 2023, stattfinden wird?

«Ich erwarte eine qualitativ hochstehende Debatte von Richterinnen und Richtern, die sich in die Thematik eingelesen und sich vorbereitet haben, die à jour sind. Ich hoffe auf Fragen und Argumente, die deutlich über ein Stammtisch­niveau hinausgehen – und über das, was wir von den Schweizer Gerichten hören mussten. Deren Argumente waren saumässig schlecht.»

In der Halle des Bahnhofs Basel stösst Elisabeth Stern auf Dutzende Mitstreiterinnen und auf noch mehr Journalisten, mit Kameras und Mikrofonen bewehrt. Passanten bleiben fragend stehen, manch einer erkundigt sich, was denn hier los sei, welche Berühmtheiten gefeiert würden. Viel Zeit für Erklärungen, Begrüssungen und Spontan­interviews bleibt nicht, im französischen Flügel des Bahnhofs wartet der Zug nach Strassburg, der zum Glück fahrplanmässig fährt – anders als viele Fern­verbindungen an diesem Tag.

Eine gute Stunde dauert die Weiterfahrt, die Stimmung ist ausgelassen, die Frauen proben einige Lieder, draussen fliegen saftig grüne Landschaften vorbei, der Frühling ist da, neues Leben erwacht, und die Erwartungen an den kommenden Tag sind gewaltig.

«Wir sind die ‹agents of social change›»

«Natürlich geht es um mein Leben und überhaupt ums Leben der Seniorinnen», sagt Elisabeth Stern. «Aber ich will viel mehr. Wenn wir vor dem Gerichtshof für Menschen­rechte gewinnen, kommt das auch den jüngeren Generationen zugute. Dann sind wir nicht nur die Vulnerablen, sondern eine Art von agents of the social change

Das sieht die offizielle Schweiz anders.

Vor der Reise waren die Klima­seniorinnen weitgehend Unbekannte …
… doch jetzt in Strassburg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte sind sie die Haupt­personen.

Bevor der Verein und die vier Einzel­klägerinnen die Strassburger Instanz anrufen durften, hatten sie den inner­staatlichen Gerichtsweg durchlaufen müssen – und waren auf wenig Verständnis gestossen. «Watschen» hat Stern diese Erfahrungen genannt.

2016 reichen die Klima­seniorinnen ihr Begehren für mehr Klimaschutz beim Bundesrat und dem zuständigen Departement ein. Auf das Anliegen wird nicht eingetreten – mit der Begründung, es liege «kein Eingriff in die persönliche Rechts­sphäre» der Klägerinnen vor.

2017 gelangen sie ans Bundes­verwaltungs­gericht und kassieren Ende 2018 die zweite Abweisung. Dieses Mal heisst es, sie seien von der Klima­erwärmung beziehungsweise von den ihrer Auffassung nach ungenügenden Klimaschutz­massnahmen der Schweiz nicht mehr betroffen als andere Menschen.

2019 folgt die Beschwerde ans Bundes­gericht. Der Verein und die vier Einzel­klägerinnen unterliegen erneut. Die Schweiz habe noch genügend Zeit für griffige Massnahmen, und die Seniorinnen seien derzeit nicht in der erforderlichen Intensität in ihren Rechten berührt, heisst es aus Lausanne. Und: Das Anliegen sei nicht auf dem Rechtsweg, sondern mit politischen Mitteln durchzusetzen.

2020 rufen die Klima­seniorinnen den Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte an.

Am 29. März 2023 findet vor der grossen Kammer eine Anhörung statt. Mit einem Entscheid wird erst Ende Jahr gerechnet. Würden die Klägerinnen recht bekommen, müsste die Schweiz die von ihnen monierten Menschen­rechts­verletzungen beheben. Das heisst, sie müsste Gesetze erlassen oder ändern. Das Urteil wäre ein Präzedenz­fall für die 46 Mitglieds­staaten des Europarats und damit unter anderem auch für alle Staaten der EU.

Sämtliche Gerichte in diesen Ländern hätten sich künftig an der Recht­sprechung aus Strassburg zu orientieren.

Es geht um viel.

Darum die grosse, internationale Aufmerksamkeit am Tag der Anhörung. Am «historischen» Mittwoch­morgen, dem 29. März 2023.

Werden sich die Erwartungen von Elisabeth Stern und den anderen Klima­seniorinnen erfüllen, in diesem riesigen Gerichts­gebäude aus Glas und Stahl, das Transparenz und Nüchternheit ausstrahlt, der Theatralik des Verfahrens zum Trotz?

Verlegen in den Akten blättern

Bevor die siebzehn Richterinnen in ihren Roben und in Einer­kolonne einmarschieren, spazieren die Beteiligten, die Besucher und Medien­leute, ungehindert im Gerichts­saal umher. Sie fotografieren und filmen die zwei Anwalts­teams (die verlegen in ihren Akten blättern oder auf die Laptops starren), die weisshaarigen Klägerinnen, die Namens­schilder der Richterinnen – oder bekannte Gesichter in den Zuschauer­reihen.

Helen Keller, von 2011 bis 2020 Schweizer Richterin am EGMR und heute Völkerrechts­professorin an der Uni Zürich, ist mit einer Gruppe von Studierenden da. Die deutsche Klima­anwältin Roda Verheyen, die jüngst ein Buch über Klimaklagen veröffentlicht hat (und im Interview mit der Republik von guten Chancen für die Klima­seniorinnen sprach), sitzt in den Zuschauer­reihen. Ebenfalls anwesend: National­rätin Marionna Schlatter von den Grünen und der Zürcher Arzt André Seidenberg, ein Pionier der Schweizer Drogen­politik.

Er nimmt an dieser Anhörung eine besondere Rolle ein.

Seidenberg vertritt seine Mutter, eine der vier Einzel­klägerinnen und die Einzige aus dieser Gruppe, die den Gang vor den EGMR nicht mehr erleben durfte. Sie ist im Alter von 91 Jahren gestorben; als eine der Ältesten, die im Verein der Klima­seniorinnen an vorderster Front mitmachte. Seine Mutter, sagt Seidenberg, sei schon immer eine bewegte Frau gewesen. Und eine Feministin. Völlig klar für ihn, dass er die Mission der Mutter zu Ende führt.

Siebzehn Richterinnen beurteilen den Fall der Klima­seniorinnen. Er wurde der grossen Kammer des Gerichts zugeordnet.

Als die Glocke ertönt, müssen alle an ihre Plätze, jetzt ist Schluss mit dem Filmen, Fotografieren und Schwatzen. Das Prozedere der Anhörung verläuft streng, förmlich, zeitlich eng getaktet. Gesprochen wird auf Englisch oder Französisch.

Als Erstes darf das Anwalts­team des beklagten Staats dreissig Minuten lang darlegen, warum die Klage der Seniorinnen abzuweisen sei – falls sie denn zugelassen wird.

Eine Auswahl von vier Argumenten der offiziellen Schweiz:

  • Es gilt die Gewalten­teilung. Eine «übermässige Vergerichtlichung» des Klima­problems ist zu verhindern. Klimaschutz ist Aufgabe der Politik und des demokratisch legitimierten Gesetzgebers: «Generell ist die Regierung der Auffassung, dass nationale oder internationale Gerichte weder die Kompetenz noch das nötige Fach­wissen besitzen, um eine Klima­politik zu entwickeln oder konkrete Massnahmen zur Bekämpfung der Treibhausgas­emissionen festzulegen.»

  • Die Schweiz unternimmt alles Zumutbare, um den Klimawandel zu stoppen, sie ist auf Kurs, hält sich an sämtliche Verpflichtungen und ist gewillt, ambitioniert und effektiv auf die Klima­krise zu reagieren.

  • Ein Verein kann nicht Opfer im Sinne der Menschenrechts­konvention sein, und die Einzel­klägerinnen sind nicht mehr betroffen als andere Gruppen in der Bevölkerung, etwa Schwangere oder chronisch Kranke.

  • Überhaupt ist die Schweiz zu klein, um die globale Klima­erwärmung zu beeinflussen. Es fehlt am direkten Kausal­zusammenhang zwischen den gesundheitlichen Beschwerden der Seniorinnen und den Klimaschutz­massnahmen der Schweiz.

Nun ergreift die Gegenseite das Wort, das Anwaltsteam der Klima­seniorinnen.

Eine Auswahl von vier Argumenten aus dem klägerischen Votum:

  • Die reiche, hoch entwickelte und konsum­intensive Schweiz ist nicht auf Kurs. Würden alle Länder so handeln wie sie, wäre bis ins Jahr 2100 eine globale Erwärmung von bis zu 3 Grad Celsius zu erwarten.

  • Die Zielsetzung der Schweiz schneidet deutlich schlechter ab als in vergleichbaren Staaten. Geplant ist, die Emissionen mit inländischen Massnahmen bis 2030 auf 34 Prozent unter das Emissions­niveau von 1990 zu senken. Nötig wären mehr als 60 Prozent. Die Zielsetzung in der EU beträgt 55 Prozent, in Dänemark 70, in Finnland 60 und in Deutschland 65 Prozent.

  • Der Klima­wandel stellt die grösste Bedrohung für die Menschen­rechte dar und fällt deshalb in den Zuständigkeits­bereich des EGMR: «Hitze tötet.» Die Seniorinnen sind real und ernsthaft gefährdet.

  • Es besteht ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass kaum mehr Zeit bleibt, um strengere Massnahmen zu ergreifen – wenn das Ziel erreicht werden soll, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken. Offenbar beruft sich die Schweizer Regierung nicht auf die neusten und besten wissenschaftlichen Erkenntnisse – sondern auf politische Erwägungen.

Das sind nur eine Handvoll Argumente der beiden Kontrahenten, die in Strassburg die Klingen kreuzen – und sich tunlichst aus dem Weg gehen. Weit mehr, als vor Gericht mündlich geäussert werden darf, steht in den zahlreichen Rechts­schriften, die zuvor eingereicht wurden. Beide Seiten verweisen auf wissenschaftliche Studien, auf vergleichbare Urteile, auf die Aussagen und Einschätzungen von Expertinnen.

Das Thema ist komplex.

Die rechtliche Einordnung ist komplex.

Und die Auffassungen darüber, was zu unternehmen ist, gehen weit auseinander.

Den Klimaseniorinnen gebührt Vortritt

Gut hundert Medien­schaffende verfolgen die Anhörung per Video­übertragung in einem separaten Raum im Untergrund; dort, wo sich der einzige Kaffee­automat befindet – und gleich nebenan die WC-Anlage fürs Publikum. In der dreissig­minütigen Pause treffen hier alle zusammen, und es wird eng.

Auch Elisabeth Stern hat sich nach unten begeben, von weitem zu sehen in ihrer knallgrünen Stepp­jacke. Es sei kühl im Saal, sagt sie, sie friere schon den ganzen Morgen, ihre Hände seien eiskalt. Obs an einer weiteren schlaflosen Nacht liegt? Sie wirkt angespannt und müde. Doch sie winkt ab, es gibt keine Zeit für Befindlichkeiten, heute wird durch gepowert.

Die Glocke ertönt, die Pause ist vorbei. Alle strömen eiligst zurück an ihre Plätze. Ein zweites Mal marschieren die Richter in Einer­kolonne in den Saal. Erst danach dürfen sich die Anwesenden setzen.

Elisabeth Stern gibt mittlerweile routiniert Interviews.
Marc Willers und Jessica Simor aus dem Anwaltsteam der Klägerinnen.

Das Überraschende an dieser Anhörung ist: Es kommt zu ungewöhnlich vielen Fragen des siebzehn­köpfigen Gerichts­gremiums, und zwar an beide Parteien. Neun Richterinnen, darunter die irische Gerichts­präsidentin Síofra O’Leary und der Vertreter der Schweiz, Andreas Zünd, haken bei den Anwalts­teams nach – kritisch und akribisch. Die Details, die sie erfragen, lassen erahnen, dass sie die Unterlagen sehr wohl studiert haben.

So, wie es sich Elisabeth Stern gewünscht hat.

Gegen 12.30 Uhr beendet O’Leary die Anhörung, das Gericht begibt sich in die Mittags­pause, bevor am Nachmittag der zweite Klimafall behandelt wird: Ein französischer Bürger­meister klagt gegen Frankreich – ebenfalls wegen unzureichender Klima­massnahmen. Daneben ist eine Klimaklage von portugiesischen Jugendlichen hängig, die im Spät­sommer angehört werden sollen. Auch in diesem Fall gehört der Staat Schweiz übrigens zu den Beklagten.

Doch die Schweizer Seniorinnen waren die Ersten. Seit ihrem Auftritt am Mittwoch­vormittag ist die Klimakrise endgültig am Gerichtshof für Menschen­rechte angekommen.

Von al-Jazeera über BBC zu CH Media

Nun verlassen sie das Gerichts­gebäude, stehen in der warmen Mittags­sonne, lassen sich von den Unterstützern nochmals so richtig feiern und hochleben. «Es ist vorbei, es war viel und intensiv. Nun fängt das Warten an», meint Elisabeth Stern.

Und weiter gehts mit den Interviews, vor Ort, telefonisch oder per Video­schaltung: für BBC, Euronews, al-Jazeera, Arte, für eine Zeitung aus Barcelona, CH Media, ein französisches Radio … Irgendwann hört Elisabeth Stern auf, zu fragen, für wen sie grad ins Mikrofon spricht. Sondern antwortet nur noch. Kurz, knapp und konzentriert. Nur wenn sie zum wiederholten Male nach Basis­daten gefragt wird, erlaubt sie sich, höflich, aber bestimmt auf die Website der Klima­seniorinnen hinzuweisen.

Später am Nachmittag, an einem Podiums­gespräch im Pavillon Joséphine, dem letzten offiziellen Programm­punkt an diesem langen Mittwoch in Strassburg, wird sich Elisabeth Stern an die Anreise tags zuvor erinnern; an den Zwischenhalt in Basel, die verwunderten Blicke der Passanten.

Da seien sie und ihre Mitstreiterinnen noch weitgehend Unbekannte gewesen. Doch nach ihrem Auftritt am Gerichtshof für Menschen­rechte habe sich dies geändert: «Wir alten Frauen zwingen das Gericht dazu, zur Klimakrise Stellung zu nehmen. Ich habe heute erstmals realisiert, dass wir hier in Strassburg die Haupt­protagonistinnen sind. Das verpflichtet. Ich werde am Thema dranbleiben. Erst recht. Und egal, wie es ausgeht.»

«Gracias a la vida» heisst das Lied von Mercedes Sosa, das die Klima­seniorinnen im Gedenken an ihre verstorbenen Mitstreiterinnen im Pavillon Joséphine abspielen, zum Auftakt des Panels. 48 Frauen sind seit der Gründung des Vereins gestorben.

Genau wie dieses Lied verstehen die Seniorinnen ihr Engagement, und darum denken sie auch nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Aus Dankbarkeit und Liebe zum Leben. Damit die Erde für sie und für die jüngeren Generationen lebens- und liebenswert bleibt.

Okay, das mag ein kitschiger Ausklang sein.

Doch während die Klima­seniorinnen den Tag Revue passieren lassen, bauen Störche auf dem Pavillon­dach ihr Nest, blühen die Magnolien­bäume in voller Pracht und gönnen sich die im Parc de l’Orangerie flanierenden Strassburgerinnen ein Glace.

Mit anderen Worten: Leben pur auf einem wunder­schönen, grünen Planeten, den es zu schützen gilt.

Aus Liebe zum Leben: Ein Magnolien­baum vor dem Pavillon im Parc de l’Orangerie.
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