In die Schweiz geflüchtet – und hier eingebunkert
Bund, Kantone und Gemeinden bringen Hunderte Asylsuchende in Zivilschutzanlagen unter. Das ritze an den Menschenrechten, sagt die nationale Anti-Folter-Kommission. Doch SP-Bundesrat Beat Jans sieht kein Problem.
Von Lukas Häuptli, 02.04.2024
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An diesem Frühlingstag legt die Sonne einen milchigen Schleier über das Städtchen. Auf dem See schwimmen Schwäne, dahinter liegen die Altstadt und der neue Teil des Ortes. Wohnhäuser stehen neben Detailhandelsgeschäften, Detailhandelsgeschäfte neben Gewerbebetrieben: Staub Heizungen, Mydive Tauchevents oder Pro Luxury Car, ein Händler für Luxus- und Supersportwagen.
Steckborn liegt am Untersee im Kanton Thurgau. Es hat 4000 Einwohner, doch an Tagen wie diesen hört man von ihnen keinen Laut. Es ist im Städtchen sehr, sehr ruhig.
Ruhig ist es auch im Alters- und Pflegezentrum, einem fünfstöckigen Betonbau mitten im Ort. Unter dem Zentrum befindet sich die Zivilschutzanlage Bühl. Die Gemeinde vermietet sie seit 2016 dem Bund als Unterkunft für Asylsuchende – für 18’000 Franken pro Monat. Zurzeit sind darin rund 100 Geflüchtete einquartiert.
Es sind zwei Welten, die da aufeinandertreffen: oben die Betagten, viele von ihnen haben ihr ganzes Leben in Steckborn verbracht. Unten die Männer und Frauen aus der ganzen Welt, aus Afghanistan, Syrien, der Türkei. Die meisten waren wochenlang auf der Flucht.
Ein Albtraum
Lanaik (Name geändert) ist einer von ihnen. Er stammt aus dem Nahen Osten und erzählt an diesem sonnigen Frühlingstag in Steckborn, wie er in seiner Heimat aus politischen Gründen verfolgt wurde, wie er nach Europa flüchtete und wie er in der Schweiz ein Asylgesuch einreichte.
Und wie es ihm heute geht.
Beklagen wolle er sich nicht, nein, das nicht. Er wisse, was er habe. Eine sichere Bleibe, genug zu essen, das Betreuungs- und Sicherheitspersonal in der Unterkunft sei nett.
Und doch: «Seit zweieinhalb Monaten lebe ich in dieser unterirdischen Anlage. Seit zweieinhalb Monaten ist es ein Albtraum.» Es gebe kein Tageslicht, es gebe keine Frischluft, es gebe keinen Platz. «Wir sind zwanzig Männer in einem einzigen Raum. Wir haben keinen Ort, an den wir uns zurückziehen können.» Und weil die zwanzig Männer aus ganz unterschiedlichen Ländern stammten und ganz unterschiedliche Probleme hätten, komme es immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten, Reibereien und Streitereien.
Schliesslich sagt Lanaik auch: «Ich wünschte mir, dass irgendeinmal die Sonne in unser Zimmer scheint.» Und schickt dem Journalisten nach dem Gespräch ein Foto der Zeichnung, die er in der Zivilschutzanlage über sein Bett gehängt hat. Gemalt ist drauf ein Fenster.
«Was für die Bevölkerung zumutbar ist …»
Zivilschutzanlagen wie in Steckborn hatten im Frühling 2023 auch den National- und Ständerat beschäftigt. Beantragt war ein Kredit von zuerst rund 140 und dann fast 70 Millionen Franken, mit denen die damalige Asylministerin Elisabeth Baume-Schneider Containerdörfer für Geflüchtete errichten wollte. Sie waren als Alternative zu den unterirdischen Unterkünften gedacht.
Doch im Parlament traf die Idee auf wenig Gegenliebe. Er könne den Leuten nicht erklären, wieso man Zivilschutzanlagen, die für die Bevölkerung erstellt worden seien, nicht nutzen solle, sagte zum Beispiel der St. Galler Mitte-Ständerat Benedikt Würth. Und insistierte bei einer späteren Sitzung: «Was für die Bevölkerung zumutbar ist (…), soll auch im Rahmen der Erstunterbringung bereitgestellt werden können.»
Was Würth wirklich meinte: Zivilschutzanlagen sind für Asylsuchende problemlos geeignet – mindestens für die ersten 140 Tage oder knapp 5 Monate, während denen sich die Geflüchteten in der Schweiz befinden. So lange kann die sogenannte Erstunterbringung des Bundes dauern.
Ganz anderer Ansicht ist die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF). Die Kommission hat den gesetzlichen Auftrag, «die Menschen- und Grundrechtskonformität» behördlicher Massnahmen in der Schweiz zu überprüfen und sicherzustellen, dass die Grundrechte der betroffenen Personen gewahrt werden. Allerdings kann sie lediglich auf Verstösse aufmerksam machen und Empfehlungen dazu abgeben. Ein Weisungsrecht hat sie nicht.
Im letzten Frühling hatte die Kommission die Zivilschutzanlage Steckborn besucht und ihre Erkenntnisse in einem Bericht festgehalten. Bereits in der Einleitung schrieb sie: «Die Unterbringung von asylsuchenden Personen in unterirdischen Unterkünften ohne Tageslicht und oft ungenügender Frischluftzufuhr ist aus menschenrechtlicher Sicht problematisch.» Und weiter: «Die Kommission ist der Ansicht, dass die Unterbringung in Zivilschutzanlagen nur von möglichst kurzer Dauer sein sollte und für bestimmte Personengruppen immer ungeeignet ist.»
Die Kommission kritisierte konkret:
Die Zivilschutzanlage sei «ungeeignet», um Asylsuchende unterschiedlichen Geschlechts unterzubringen.
Frauen und Mädchen hätten in der Anlage «nachts keinen sicheren Zugang zu den Toiletten» (weil sie dafür die Schlafräume der Männer durchqueren müssen).
Die Anlage sei nicht «kindgerecht» (zum Zeitpunkt des Besuchs war darin auch ein Kleinkind untergebracht).
Es sei «nahezu unmöglich», die Privatsphäre der Asylsuchenden zu schützen (zum Zeitpunkt des Besuchs lebten rund 70 Personen in der Anlage).
Deshalb empfahl die Kommission dem verantwortlichen Staatssekretariat für Migration, in der Zivilschutzanlage künftig nur noch Männer oder allenfalls nur noch Frauen unterzubringen. Und auf die Einquartierung von Schwangeren, Jugendlichen und Kindern ganz zu verzichten.
Doch noch heute bringt der Bund in der Zivilschutzanlage Steckborn sowohl Männer als auch Frauen unter – so wie in mehreren anderen Anlagen.
Kein Geld für Unterkünfte
In der Schweiz leben gegenwärtig mehrere hundert Asylsuchende in unterirdischen Zivilschutzanlagen. Rund 600 sind es in Anlagen des Bundes (wie das Staatssekretariat auf Anfrage mitteilt), wahrscheinlich noch mal so viele in Anlagen von Kantonen und Gemeinden (offizielle Angaben gibt es dazu nicht).
Das hat einen einfachen Grund: Die Schweiz ist nicht bereit, genügend oberirdische Unterkünfte für Geflüchtete zur Verfügung zu stellen.
So war es auch im Parlament im letzten Frühling. Die Mehrheit von SVP, FDP und Mitte im Ständerat lehnte die beantragten rund 70 Millionen Franken zur Errichtung von Containerdörfern ab.
Der Widerstand gegen Asylunterkünfte in der Schweiz hat eine ebenso lange wie erbärmliche Tradition. Mal scheitert die Unterbringung der Geflüchteten am nötigen Geld, mal am mangelnden Willen der Behörden, mal am erbitterten Widerstand von Anwohnern.
So hatte der Bund 2011 in der Aargauer Gemeinde Bettwil 140 Asylsuchende in einer Militärunterkunft unterbringen wollen. Die Mehrheit der 600 Dorfbewohner liefen Sturm – bis die Verantwortlichen vom Vorhaben absahen.
2016 plante das Staatssekretariat für Migration ein Zentrum für 400 Geflüchtete in Schwyz. Hier wehrte sich der Kanton mit allen Mitteln – und ebenfalls mit Erfolg.
Jetzt soll anstelle des Projekts in Schwyz eine Asylunterkunft für 170 Personen auf einem Campingplatz in Arth-Goldau entstehen. Die SVP bekämpft das Projekt bereits jetzt mit einer Unterschriftensammlung.
Die Liste der geplanten Asylunterkünfte in der Schweiz, die nie realisiert werden konnten, liesse sich beliebig verlängern.
Das ist auch Ergebnis einer Stimmungsmache, mit der die SVP ihren Stimmenanteil in den letzten dreissig Jahren fast verdreifacht hat. Und es ist Ergebnis einer Asylpolitik von Bund und Kantonen, die im gleichen Zeitraum immer repressiver wurde.
Die Folge: Die Schweiz bringt Hunderte Geflüchtete in Anlagen unter, die aus menschenrechtlicher Sicht problematisch sind.
«Gewalteskalation» in der Zivilschutzanlage
Kleinhüningen liegt im Norden Basels. Hier haben der Pharmakonzern Lonza und der Sonderabfallverwerter Sovag ihre Werke, ganz in der Nähe liegen der Rheinhafen und das Dreiländereck zwischen Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Da und dort säumen alte Reiheneinfamilienhäuser die Strassen, Kleinhüningen ist aber noch immer ein Industriequartier.
Mitten in Kleinhüningen befindet sich auch der Werkhof der IWB, der Industriellen Werke Basel. Und auf deren Gelände liegt die Zivilschutzanlage Schäferweg. Hier bringt das Staatssekretariat für Migration zurzeit rund 20 Asylsuchende unter.
Auch diese Zivilschutzanlage hatte die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter im letzten Frühling besucht – und auch hier waren ihre Erkenntnisse erschreckend.
Sie berichtete über eine «Gewalteskalation» zwischen einem Sicherheitsmitarbeiter und einem Asylsuchenden in der Anlage. Und davon, dass es laut Augenzeugen «immer wieder zu verbalen Auseinandersetzungen, Tätlichkeiten und Schlägereien» kam.
Doch gemäss Kommission haben weder die Mitarbeiter der Sicherheitsfirma noch diejenigen des Staatssekretariats für Migration die Auseinandersetzungen rapportiert. Im Gegenteil: Sie sagten gegenüber der Kommission, es habe in der Zivilschutzanlage «keine schwerwiegenden Vorfälle gegeben».
Deshalb kam diese zum Schluss: «Es sind zusätzliche und längerfristige Massnahmen notwendig, um das Recht der asylsuchenden Personen auf Schutz vor erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung vollumfänglich umzusetzen.» Dazu brauche es einen grundsätzlichen Wandel im Umgang mit Hinweisen auf mutmassliche Gewalt, insbesondere bei den Mitarbeitenden des Sicherheitsunternehmens.
Das Staatssekretariat für Migration weist in seinen Stellungnahmen zur Kritik an den Verhältnissen in den Zivilschutzanlagen Basel und Steckborn als Erstes auf die grosse Zahl Geflüchteter in den letzten beiden Jahren hin. Der Bund habe 2022 und 2023 für rund 95’000 Schutzsuchende aus der Ukraine sowie für rund 55’000 Asylsuchende aus anderen Ländern eine Erstunterbringung bereitstellen müssen.
Als Zweites holt das Staatssekretariat zur Gegenkritik an der Kommission aus: Diese hätte in ihren Berichten den «Kontext dieser angespannten Situation» berücksichtigen müssen.
Schliesslich weist es darauf hin, dass es alle Gewaltvorfälle in den Zivilschutzanlagen habe untersuchen lassen – «teils mit sich vom Bericht der Kommission unterscheidenden Ergebnissen».
Immerhin räumt das Staatssekretariat für Migration (SEM) auch Fehler ein. «Das SEM teilt die Auffassung der NKVF, dass sich Vorfälle, wie sie im Bericht geschildert werden, in einer Asylunterkunft nicht ereignen dürfen.» Aus diesem Grund habe man die Gewaltprävention in den Anlagen verstärkt, die Mitarbeitenden geschult und zahlreiche weitere Anpassungen gemacht, etwa in den Abläufen und in der Infrastruktur.
«Es ist ein Armutszeugnis»
Der Zürcher Kreis 6 ist eine Gegend der Gutsituierten. Hier befinden sich ETH, Universität und Universitätsspital, entsprechend viele Professorinnen und Ärzte leben im Quartier. Eine Wohnung in einem der vielen herrschaftlichen Häuser kostet da gut und gern zwischen 5000 und 6000 Franken im Monat.
Mitten im Quartier befindet sich die Zivilschutzanlage Turnerstrasse, die Platz für fast 100 Asylsuchende bietet: für Männer, Frauen und ab und zu auch Kinder. An der Tür hängt ein Plakat, auf dem in neun Sprachen steht: Fotos verboten, Videoaufnahmen verboten, Audioaufnahmen verboten. Es ist wie überall in den Unterkünften des Bundes: Ausser den Asylsuchenden und dem Betreuungs- und Sicherheitspersonal hat niemand Zutritt. Niemand. Und deshalb kennt dieses Niemandsland auch kaum jemand.
Trotzdem sind Anwohnerinnen hier mit den Asylsuchenden in Kontakt gekommen und haben sich von ihnen die prekären Verhältnisse in der Anlage schildern lassen. Prekär ist fast alles: kein Tageslicht, keine Frischluft, keine Privatsphäre. Viel Kommen und Gehen, viel Lärm, viel Streit. Und nur notdürftige Spielgelegenheiten für die Kinder.
Deshalb haben die Anwohner im letzten Dezember Unterschriften gesammelt «gegen die Unterbringung von Kindern und ihren Familien in Luftschutzbunkern». «Es ist ein Armutszeugnis, dass eines der reichsten Länder der Welt nicht zu einer besseren Lösung fähig sein soll», hiess es im Text zur Petition. Fast 7700 Menschen unterschrieben sie, am 6. März wurde sie bei der Bundeskanzlei eingereicht, Adressat ist Beat Jans, der als Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements das Asylwesen verantwortet.
Jans will keine Alternative zu den Zivilschutzanlagen
Doch der SP-Bundesrat ist nicht bereit, Abhilfe zu schaffen.
Zwar hat das Staatssekretariat für Migration im letzten Dezember zu den Zivilschutzanlagen festgehalten: «Wir sind uns bewusst, dass diese Unterbringungsart nicht optimal ist, und versuchen, wenn möglich, oberirdische Alternativen zur Unterbringung von Asylsuchenden zu nutzen.»
Heute aber antwortet ein Sprecher auf die Frage, ob Jans’ Departement die Unterbringung von Männern, Frauen und Kindern in Zivilschutzanlagen als zumutbar erachte, kurz und unmissverständlich:
«Ja.»
Deshalb erstaunt es nicht, dass Beat Jans im Bundesrat – im Gegensatz zu seiner Vorgängerin Elisabeth Baume-Schneider – nicht einmal Geld für Containerdörfer beantragt hat. «Diese Option wurde nicht weiterverfolgt, nachdem das Parlament (…) einen entsprechenden Kredit abgelehnt hatte und auch neuerliche Sondierungen im 2024 einem solchen Vorhaben gegenüber keine Erfolgsaussichten versprachen», hält der Sprecher des Departements fest.
Dazu kommt: Der Bund verfügt heute über rund 10’000 Plätze zur Unterbringung von Asylsuchenden, benötigt werden wegen der steigenden Gesuchszahlen bis nächsten Herbst aber rund 12’000, wie der Sprecher weiter ausführt. Deshalb suche man «verschiedene kurzfristig verfügbare Lösungen – auch Zivilschutzanlagen».
Und so ist absehbar, dass in der Schweiz auch künftig Hunderte von Asylsuchenden in Zivilschutzanlagen leben müssen. Ohne Tageslicht, ohne Frischluft, ohne Privatsphäre. In Zürich, Basel, Steckborn und an vielen anderen Orten. Und oft an der Grenze zur Menschenrechtsverletzung.