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Zehntausende Ukrainerinnen flüchten in den nächsten Wochen in die Schweiz. Und treffen hier auf ein Asylsystem, das seit zwanzig Jahren auf Abwehr aus ist.

Eine Analyse von Lukas Häuptli, 23.03.2022

Synthetische Stimme
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Die Schweiz sucht Betten. Der Bund, die Kantone, auch die Armee. 500 Plätze in einer ersten Kaserne, 1300 in einer zweiten, bezugsbereit. Weitere sind geplant, zum Beispiel, erzählt ein Kadermann des Bundes, Betten in einer Militärhalle. Nicht für jetzt, sondern in zwei Wochen. «Zuerst will die Armee in der Halle einen provisorischen Boden verlegen.»

Die Schweiz sucht Unterkünfte. Die Armee verlegt provisorische Böden.

Bis am Dienstagabend haben sich fast 12’000 Flüchtlinge aus der Ukraine beim Bund registrieren lassen. Das ist Voraussetzung dafür, dass sie den Schutzstatus S erhalten, mindestens ein Jahr hier bleiben und bei Bedarf Sozialhilfe beziehen können. Wie viele es am Schluss sind, weiss niemand. 50’000 bis im Juni, wie Bundesrätin Karin Keller-Sutter schätzt? 300’000 bis Ende Jahr, wie die Kantone voraussagen?

Dass viele Ukrainerinnen nach wochenlanger Flucht vor den Asylzentren des Bundes während Stunden warten mussten, ist unschön.

Unschön, aber es lenkt ab. Nämlich davon:

Flüchtlinge strömen in die Schweiz. Und die Bevölkerung zeigt Goodwill.

Sie hilft. Sucht mit den Kriegs­vertriebenen das Gespräch. Stellt Getränke, Lebensmittel, Spielsachen bereit. Bietet Schlafplätze an. Bis Montagabend waren es 67’500, wie eine Sprecherin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe sagt, welche die angebotenen Plätze prüft und vermittelt.

«Eine solche Situation gab es seit zwanzig Jahren nicht mehr», sagt der eingangs erwähnte Kadermann des Bundes. «Das ist ein historischer Moment.»

Vor zwanzig Jahren gingen die Kriege im ehemaligen Jugoslawien zu Ende. Die Schweiz hatte damals Zehntausende aus dem Balkan aufgenommen. Allein im Jahr 1999 gewährte der Bund rund 7500 Kosovarinnen und Kosovaren (die damals noch serbische Staats­angehörige waren) eine vorläufige Aufnahme (VA); viele erhielten später ein definitives Bleiberecht.

Spätestens ab 2000 aber verschärfte der Bund seine Asylpolitik.

Nur drei Beispiele:

2004 strich der Bundesrat auf Antrag des damaligen Justizministers Christoph Blocher die Sozialhilfe für abgewiesene Asylsuchende. Seither erhalten diese nur noch Nothilfe, rund acht Franken pro Tag.

2010 schaffte die Schweiz das Botschaftsasyl ab. Wer heute hierher flüchten will, kann deshalb erst an der Grenze ein Asylgesuch stellen. Die Folge: Zahlreiche Flüchtlinge müssen lebensgefährliche Migrations­routen durch Wüsten und übers Mittelmeer auf sich nehmen.

2016 änderte der Bund seine Praxis gegenüber eritreischen Asylsuchenden. Seither gilt nur noch als Flüchtling, wer im autoritären Staat nationaldienst­pflichtig ist. Andere Asylgesuche lehnt die Schweiz ab – selbst diejenigen von Eritreern, die wegen sogenannt illegaler Ausreisen verfolgt und zu Haftstrafen verurteilt werden.

Den politischen, gesellschaftlichen und medialen Nährboden für die Verschärfungen bereiteten die bürgerlichen Parteien in den letzten zwanzig Jahren – allen voran die SVP, in ihrem Schlepptau aber auch die rechten Flügel der FDP und der heutigen Mitte. Ihre Begründungen, warum Asyl­suchende ein Problem seien, waren immer wieder andere:

Es kommen gefährliche Flüchtlinge. So lautete das erste Mantra der Rechts­bürgerlichen, nachdem in den 2000er-Jahren vermehrt Westafrikaner Asylgesuche gestellt hatten.

Es kommen falsche Flüchtlinge, hiess das zweite Mantra, als im Arabischen Frühling von 2011 angebliche Wirtschafts­flüchtlinge aus Tunesien in die Schweiz zogen.

Es kommen zu viele Flüchtlinge. Das beklagten Bürgerliche 2015, als knapp 40’000 Menschen in der Schweiz Schutz suchten. Viele davon waren Kriegs­vertriebene aus Afghanistan, Syrien und dem Irak.

Währenddessen zielte die Asyl-Bürokratie von Bund und Kantonen darauf ab, die Schweiz für Flüchtlinge unattraktiv zu machen. Vermeidung von Pull-Effekten nannten es die Beamten. Sie hätten auch sagen können: Politik der Abschreckung. So behandelte das Staats­sekretariat für Migration regelmässig diejenigen Gesuche prioritär, die aller Voraussicht nach abgelehnt würden. Das Signal nach aussen war klar: In der Schweiz gibt es nicht so schnell Asyl.

Jahrelang also setzte man auf Abschreckung. Und jetzt das: Die Schweizer Bevölkerung begegnet Flüchtlingen aus der Ukraine mit Verständnis, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft.

Es gibt nachvollziehbare Gründe für diesen Goodwill. Und es gibt andere. Die nachvollziehbaren: die Nähe des Krieges, seine mediale und sozial-mediale Allgegenwart, die Kriegs­verbrechen der russischen Aggressoren und das Leiden der ukrainischen Zivilbevölkerung. Kinder, Frauen, Männer. Kriegsversehrte. Alles ist, als könnte es auch uns treffen.

Wie lange währt die Solidarität?

Freitag, 11. März 2022. Es ist Tag 16 des Krieges, und im Medien­zentrum des Bundes erklärt Justiz- und Asylministerin Karin Keller-Sutter vor den Medien den Entscheid des Bundesrats vom gleichen Tag:

Die Schweiz gewährt den Flüchtlingen aus der Ukraine den Schutzstatus S.

Das heisst: Die Kriegs­vertriebenen müssen lediglich ihre Personalien angeben und sich einer verkürzten Sicherheits­prüfung unterziehen. Dann können sie für mindestens ein Jahr in der Schweiz bleiben und haben hier Anrecht auf eine Unterbringung, auf Sozialhilfe und auf eine Kranken­versicherung.

Karin Keller-Sutter also äussert sich an der Pressekonferenz. Sie spricht in der ihr eigenen Art, Stimme, Mimik, Gestik, alles praktisch regungslos. Als rede sie – zum Beispiel – über die Änderung der Verordnung über die Messmittel für die Schallmessung.

Sie spricht aber über Historisches: die Aktivierung des Schutzstatus S. Das geschieht zum ersten Mal in der Schweizer Asylgeschichte überhaupt.

Damit zieht der Bundesrat mit der Europäischen Union gleich, die eine Woche zuvor die Anordnung ihrer Massenzustrom-Richtlinie beschlossen hat. Sowohl die EU als auch die Schweiz signalisieren: Kriegs­vertriebene aus der Ukraine werden schnell, unkompliziert und unbürokratisch aufgenommen. Bis auf weiteres wenigstens, denn der Schutzstatus S ist auf fünf Jahre begrenzt.

Doch dann sagt Bundesrätin Keller-Sutter auch, und für einmal scheint in ihrer Stimme Sorge mitzuschwingen: «Wir müssen diese Solidarität dann aber auch über die Zeit behalten. Wenn dann wirklich 15 Millionen Menschen die Ukraine verlassen, wenn viel mehr zu uns kommen, wenn sie nicht nur ein paar Wochen oder Monate hier sind, sondern länger – darauf müssen wir uns auch einstellen.»

Das ist die entscheidende Frage: Wie lange währt die Solidarität?

Zeigen wir auch dann noch Goodwill, wenn Hundert­tausende aus der Ukraine in die Schweiz flüchten? Wenn Männer und Frauen mit schwersten Kriegs­verletzungen bei uns Schutz suchen? Solche, die nie mehr arbeiten werden?

Oder umgekehrt: Was braucht es, damit unser Verständnis, unser Mitgefühl und unsere Hilfs­bereitschaft bleiben?

Wichtig sind vier Dinge.

  1. Der Bund anerkennt ukrainische Kriegs­vertriebene als Flüchtlinge und gewährt ihnen ein zeitlich unbegrenztes Bleiberecht.

  2. Integration ist nicht nur Arbeits­integration. Es braucht zusätzliche Massnahmen.

  3. Private, die Menschen aus der Ukraine unterbringen, erhalten Unterstützung.

  4. Die Flüchtlinge werden von der Politik nicht instrumentalisiert.

1. Ein zeitlich unbegrenztes Bleiberecht ist nötig

Es gibt in diesem Krieg zahllose Unwägbarkeiten. Die grösste aber ist: Wie lange dauert er?

Deshalb erstaunt es, dass Schweizer Politiker dieser Tage betonen, Menschen aus der Ukraine möchten möglichst schnell zurück in ihre Heimat. Selbst wenn dem so sein sollte: Für viele von ihnen ist eine rasche Heimkehr allein wegen der immensen Zerstörung des Landes ausgeschlossen.

Zwar sagte Karin Keller-Sutter: Sie bleiben, bis sie «sicher und dauerhaft in ihre Heimat zurückkehren können». Doch was heisst sicher und dauerhaft? Die Ankündigung klang wie eine Leerformel, die je nach politischer Stimmung so oder anders gefüllt werden kann.

Auch weisen die Verantwortlichen darauf hin, der Bundesrat könne den auf ein Jahr begrenzten Schutzstatus S verlängern. Doch das ändert nichts daran, dass das Aufenthalts­recht der Flüchtlinge nur ein vorläufiges ist.

So vorläufig – wir erinnern uns – wie ein provisorischer Boden, den die Armee in die Militärhalle einbaut, die zur Unterbringung der Kriegs­vertriebenen vorgesehen ist.

Sicher fühlen könnten sich die Menschen aus der Ukraine, wenn die Schweiz sie als Flüchtlinge gemäss Genfer Konvention anerkennen und ihnen ein zeitlich unbegrenztes Aufenthalts­recht gewähren würde. Diese Sicherheit wäre die beste Grundlage für ihre Integration. Und für ihre langfristige Akzeptanz in der Bevölkerung.

Doch da kommt dem Bund die restriktive Asylpraxis der letzten Jahre in die Quere. Schon die Kriegs­vertriebenen aus dem Kosovo in den 1990er-Jahren nahm er nur vorläufig auf. Das Gleiche galt während des syrischen Bürgerkriegs, der 2011 ausbrach. Auch da gewährte das Staats­sekretariat für Migration vielen Kriegs­vertriebenen nur vorläufige Aufnahmen – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, welche die Betroffenen als Flüchtlinge anerkannten.

Diese Praxis hat dem Bund Kritik von höchster Warte eingebracht, vom UNHCR, der Flüchtlings­behörde der Vereinten Nationen. Anja Klug, Leiterin der Schweizer Vertretung, sagt dazu: «Die Schweiz hat in der Vergangenheit zahlreiche Flüchtlinge aus Kriegsgebieten nur vorläufig aufgenommen, beispielsweise 2015 auf dem Höhepunkt des Syrien-Kriegs. Das ist sehr unbefriedigend, weil diese Menschen aus Sicht des UNHCR die Flüchtlings­eigenschaften erfüllten und deshalb von der Schweiz auch als Flüchtlinge hätten anerkannt werden müssen.»

2. Es braucht eine umfassende Integration

Die Menschen aus der Ukraine können in der Schweiz dank einem Beschluss des Bundesrats sofort arbeiten. Das ist richtig und wichtig, denn die Frage nach dem Anteil der Erwerbs­tätigen und dem Anteil der Sozialhilfe­empfänger unter den Flüchtlingen führt immer wieder zu hitzigen Debatten. Dabei geht allerdings oft vergessen, dass manche Flüchtlinge auch dann nicht arbeiten können, wenn sie wollen. Sie sind zu alt, zu krank, zu wenig qualifiziert.

«Die Schweiz macht das, was sie seit den Achtziger­jahren des letzten Jahrhunderts macht. Sie setzt auf Integration durch Arbeit und hofft, dass alles gut kommt», sagt Denise Graf. Sie war lange Asyl­verantwortliche von Amnesty International, ist heute in der Freiwilligen­arbeit tätig und kennt das Schweizer Flüchtlings­wesen in- und auswendig. «Arbeits­integration allein genügt nicht», sagt sie. Es brauche auch Sprachkurse, Ausbildungen für Jugendliche, Beschäftigungs­programme, Freizeit­gestaltung und ärztliche Betreuung.

Das alles kostet. Und das bedeutet in der Schweiz, gerade bei Verbund­aufgaben wie im Asylbereich, nicht selten Streit.

Zahlt der Bund, die Kantone, die Gemeinden? Oder gar keiner?

Noch ist beispielsweise nicht einmal klar, wer für die dringend nötigen Sprach­kurse für die Ukrainerinnen aufkommt. Mit der Folge, dass auch noch kaum Sprachkurse angeboten werden.

3. Private Helfer erhalten Unterstützung

Die Solidarität der Bevölkerung wird Bestand haben, wenn sich ihre spontanen Angebote als nachhaltige Hilfen für die Flüchtlinge erweisen. Aus diesem Grund braucht es bei der privaten Unterbringung und der Betreuung der Ukrainerinnen fachliche und finanzielle Unterstützung von dritter Seite – sei es vom Staat, sei es von Non-Profit-Organisationen oder Firmen, die Erfahrung im Asyl­wesen haben. Erste Schritte in diese Richtung haben die Kantone in die Wege geleitet, weitere müssen folgen.

Wie wichtig die Haltung der Zivil­gesellschaft in Asylfragen ist, zeigt ein Blick in die Geschichte. «Wenn die Behörden willens waren, viele Flüchtlinge aus einem bestimmten Land aufzunehmen, war das in praktischer Hinsicht immer leichter, wenn sich eine breite gesellschaftliche Hilfs­bereitschaft zeigte», sagt Historiker und Migrations­forscher Jonathan Pärli von der Universität Basel. «Das ist zum Beispiel nach dem Ungarn-Aufstand 1956 und nach dem Ende des Prager Frühlings 1968 der Fall gewesen.»

Anders Mitte der 1970er-Jahre: Da habe die Schweiz Flüchtende aus Chile erst aufgenommen, nachdem Freiwillige mit sogenannten «Freiplatz­aktionen» Druck auf die Behörden gemacht hätten, sagt Pärli, der eine Dissertation zur Geschichte des asylpolitischen Aktivismus und Protestes seit 1973 verfasst hat. «Heute dagegen dürften die vielen privat angebotenen Unterbringungs- und Unterstützungs­angebote dem Bundesrat und den Kantonen helfen, gegenüber den Ukrainerinnen und Ukrainern die Härten abzufedern, die seit den 1980er-Jahren ins offizielle Asylregime eingebaut worden sind.»

4. Die Flüchtlinge werden nicht politisch instrumentalisiert

Die SVP macht seit Jahren Stimmung gegen Asylsuchende. Doch am 11. März, als Bund und Kantone über ihre Politik gegenüber den Flüchtlingen aus der Ukraine informierten, war es die Glarner SVP-Regierungsrätin Marianne Lienhard, die sagte: «Jetzt ist nicht der Moment, um das Haar in der Suppe zu suchen.»

Das Haar fand ihre Partei­kollegin Martina Bircher dann aber noch am gleichen Tag. «Staatenlose und Ausländer aus der Ukraine können sich jetzt ohne Asylgesuch in der Schweiz niederlassen und Sozialhilfe beantragen ‹dank› Status S», twitterte die Aargauer Nationalrätin.

Aus dem Haar wurde ein Haarbüschel. Schnell zeigte sich, wie die Partei von Lienhard und Bircher aus den ukrainischen Flüchtlingen politisches Kapital schlagen will: Die SVP nimmt sich Drittstaaten­angehörige vor, die aus der Ukraine in die Schweiz flüchten.

Tiefpunkt dieser Kampagne war die mutmasslich rassistische Aussage von SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi im Nationalrat: «Ausländer, welche in der Ukraine wohnen, aber eben nicht Ukrainer sind, die sollen in ihr Heimatland zurückgehen. Es darf nicht sein, dass Nigerianer oder Iraker mit ukrainischen Pässen plötzlich 18-jährige Ukrainerinnen vergewaltigen.»

Das lässt – was die politische Instrumentalisierung des Kriegs und der Kriegsopfer in der Schweiz betrifft – das Schlimmste befürchten.

Und doch gibt es Hoffnung, dass sich die bürgerlichen Parteien von der SVP nicht in Geiselhaft nehmen lassen und die anstehenden Herausforderungen mit kühlem Sachverstand angehen. Dafür spricht, dass die beiden zuständigen Bundesrätinnen Mitglieder der FDP und der Mitte sind: Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter und Verteidigungs­ministerin Viola Amherd.

Amherd steht bekanntlich der Armee vor, die in ihren Unterkünften 1800 Plätze für Flüchtlinge bereitgestellt hat. Bald soll eine Militärhalle dazukommen. Mit einem provisorischen Boden.

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