Zum Osterfest: Bücher ins Nest

Sie brauchen neuen Lesestoff, für sich oder zum Verschenken? Wir haben ein paar Buch­empfehlungen zusammen­gestellt – und wieder einige literarische Ostereier versteckt.

Von Daniel Graf (Text) und María Jesús Contreras (Illustration), 23.03.2024

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Vorgelesen von Patrick Venetz
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1

Ob wieder Briefe gekommen seien, fragt Ellie ihre Mutter. Ja, sagt diese, heute seien es sieben gewesen. «Gleicher Inhalt?», fragt Ellie, aber sie kennt die Antwort.

Seit drei Wochen bekommt die Familie täglich Drohbriefe von Weissen. Seit bekannt wurde, dass Ellies Bruder Tommy eingeschult werden soll – als schwarzer Junge in eine bis dato nur von Weissen besuchte Schule.

«Nachbarn» heisst die Short Story, mit der Diane Oliver Mitte der 1960er-Jahre eine Gegen­geschichte erzählt. Sie macht sichtbar, was in dem ikonischen Foto von der sechsjährigen Ruby Bridges fehlt, die von weissen Sicherheits­beamten nach dem Ende der Segregation zu ihrem ersten Grundschultag begleitet wird: die Gewalt, mit der die Mehrheits­gesellschaft die Erfolge der Bürgerrechts­bewegung auch weiterhin bekämpfte.

Für Tommy und seine Familie folgt auf die Hass­botschaften der blanke Terror.

Er versuche, sagt der Vater, sich selber einzureden, «dass jemand der Erste sein muss». Doch dann falle ihm wieder ein, wie still sein Sohn die ganze Woche war. Und seine Frau bringt das Dilemma der Eltern auf den Punkt: «Hundert Polizisten können doch nicht die einzigen Freunde eines kleinen Jungen sein.»

«Nachbarn» ist eine von nur vier Kurzgeschichten, die von Diane Oliver zu Lebzeiten erschienen. 1966, im Alter von 22 Jahren, kam sie bei einem Motorrad­unfall ums Leben und war in der Literatur­geschichts­schreibung jahrzehntelang marginalisiert. Anfang dieses Jahres ist nun erstmals eine Sammlung ihrer Storys in den USA und zeitgleich auf Deutsch erschienen (Übersetzung: Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg). Es ist eine Entdeckung von höchstem Rang.

Wie in diesen Erzählungen die Südstaaten-Atmosphäre der 60er-Jahre ersteht; wie Diane Oliver das Spektrum damaliger Lebens­realitäten von Black Americans plastisch macht; wie feinsinnig die Autorin das Thema race mit jenen von ökonomischem Machtgefälle und Genderfragen zusammendenkt, Jahre bevor das Wort «Inter­sektionalität» erfunden war – das ist grosse Literatur. Alles trägt hier die Signatur ihrer Zeit und ragt zugleich weit darüber hinaus, in die überzeitliche Dringlichkeit aller Kämpfe um gleiche Rechte.

«Nachbarn», der Band, der so heisst wie Diane Olivers bekannteste Geschichte, dürfte zum Anlass einer Kanon­korrektur werden: Diane Oliver gehört in die Reihe der grossen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.

2

Nein, in klassischen Versen zu erzählen, das fiele dem Westschweizer Autor Daniel de Roulet dann doch nicht ein. Aber «Die rote Mütze» ist eben auch kein herkömmlicher Roman in Prosa.

In umbrochenen Zeilen erzählt de Roulet von einer Zeit der Umbrüche: von der Genfer Revolution von 1782 und ihren Nachwirkungen. Von einem Aufstand, der sich als Vorbote der Französischen Revolution lesen lässt:

Vierundachtzig Tage lang
Organisieren die Citoyens
ohne jede Gewalt eine neue Republik,
demokratisch und frei.
Ganz Europa spricht davon.
Eine grossartige Hoffnung keimt.

Und dann, kurz darauf:

Die erste demokratische Revolution Europas
wird im Blut ersticken.

Im Zentrum dieses historischen Romans in freien Versen stehen die rebellischen Schweizer Söldner, die im Régiment de Châteauvieux für den französischen König kämpfen mussten – und sich in der Meuterei von Nancy 1790 gegen ihre konter­revolutionären Offiziere erhoben. Ihre Geschichte hat Daniel de Roulet im Archiv des einstigen Straflagers von Brest recherchiert. «Die rote Mütze» ist ein literarisches Denkmal für die Aufständischen, eine Gegenerzählung zur Geschichts­schreibung der Sieger, der Feldherren, der grossen Namen. De Roulet hat den Genfer Schreiner Samuel Bouchaye zu seinem Protagonisten gemacht, inklusive einer klassen­kämpferisch grundierten Liebesgeschichte.

Die Form von «Le bonnet rouge» ist auch in der deutschen Übersetzung von Maria Hoffmann-Dartevelle betont schlicht. Die Zeilen­umbrüche folgen den natürlichen Atem- und Sinneinheiten. De Roulet schliesst ans Heldenepos an und setzt sich zugleich davon ab: Das Zeilen­arrangement erinnert eher an Flugblätter als ans klassische Epos. Und doch zieht die Erzählung gerade aus der freien Rhythmisierung einen permanent nach vorne drängenden Puls.

So geht es chronologisch konsequent der Geschichte folgend von 1782 bis ans Ende des 18. Jahrhunderts. Bis dann der Sprung in die Gegenwart kommt: zu de Roulets persönlichem Ausgangspunkt. Ein unliebsames Erbstück nämlich hatte ihn auf die Spur seiner Recherchen gesetzt. Ein goldgerahmter Stich, der einen Mann mit Louis-XVI-Perücke zeigt: Jacques-André Lullin de Châteauvieux, Kommandant des gleichnamigen Regiments, der einst den Aufstand der Soldaten blutig niederschlagen liess – und ein Ahne ist von Daniel de Roulet.

Gegen Vorfahren dieser Sorte anzuschreiben,
kann einem helfen,
den Kreis der Mörder zu verlassen.

So steht es am Ende dieser unkonventionellen Erzählung. Nicht im Nachwort, sondern im letzten Kapitel, als Teil der Geschichte selbst.

3

Dorothy Parker war Dichterin und Literatur­kritikerin und manchmal auch beides auf einmal:

Theodore Dreiser
Should ought to write nicer

Ein Rezensions­gedicht ist das dann wohl, oder besser: ein Verriss in 11 Silben. Und ein so virtuoser Übersetzer wie Ulrich Blumenbach kanns auch auf Deutsch prägnant süffisant:

Theodore Dreiser?
Ein Tranquilizer!

Man ahnt beim Lesen dieser Gedichte schnell, warum Dorothy Parker nach dem Ersten Weltkrieg in New York eine gefürchtete Theater­kritikerin war – als einzige Frau übrigens in einer damals reinen Männerdomäne. Ihr Scharfsinn und ihr ebenso scharfer Spott wurden schnell zu einem Marken­zeichen, das auch ihr literarisches Werk prägt. «Die grösste kleinste Miesmacherin der Welt» hat Michaela Karl in ihrer Biografie Dorothy Parker einst genannt.

Man sollte sich von der satirischen Verve und der schnörkel­losen Direktheit ihrer Gedichte aber nicht täuschen lassen: Das ist alles hochgradig formbewusst und handwerklich brillant auf seine Pointen hin gebaut. Und die Melancholie, die ihre Gedichtbände geprägt hatte, ist durchaus auch in den sogenannten «leichten Versen» enthalten; jenen verstreut publizierten Gedichten also, die soeben unter dem Titel «Unbezwungen» als Teil 2 der zweisprachigen und zweibändigen Gedicht­ausgabe im Dörlemann-Verlag erschienen sind.

Das Gedicht, das dem Band den Titel gibt, heisst im Original übrigens «Invictus», und wo gelehrtes Latein im Spiel ist, kann man sicher sein, dass Parker nur zum sprach­kritischen Angriff ansetzt. Auch diese Parodie auf Phrasen­freunde und notorische Flachwitzler kann sich darauf verlassen, dass der kongeniale Blumenbach die deutschen Entsprechungen findet.

«Alles in Butter», behaupte ich –
«Unkraut vergeht nicht», ergänzt den Schmus;
«Kein Sterbenswörtchen», so kennt man mich;
«Na, alles klärchen?», so geht mein Gruss.

«Unbezwungen»? Unbedingt.

4

Der Mensch, sagen diese Gedichte mit Nachdruck, ist im Wortsinn ein offenes Wesen: keine Atmung, kein Leben ohne Öffnung für die Welt.

Der Wind, der «frei ist von Absicht»,

er geht

wieder und wieder durch
uns durch

Und die Verse machen ja selbst den Luftstrom hörbar beim Sprechen, wenn die r- und die ch-Laute durch die Zeilen furchen.

Wir «heben und senken / den Brustkorb / in Tiden»: Es ist, als wolle Rike Scheffler mit ihrer Lyrik die Lesenden daran erinnern, dass der Mensch keine abgeschlossene Monade ist, sondern ein Naturwesen, das in elementarster Weise auf Austausch, auf Begegnung, auf ein Hereinlassen der Welt angewiesen ist. Es sind deshalb auch die feinnervigen Begegnungs­zonen unseres Körpers, die in dem aussergewöhnlichen Gedichtband «Lava. Rituale» von fundamentaler Bedeutung sind.

Scheffler versucht hier nicht weniger, als ein Menschenbild auf Weichheit und Verbundenheit zu gründen. Hat man das einmal verstanden, ist auch kein bisschen verwunderlich, dass da scheinbar ganz unterschiedliche Programme auf einmal umgesetzt sind. Queere Liebes­dichtung und Öko-Philosophie gehören in diesem Band aufs Engste zusammen. All das ist angetrieben von der Suche nach einer von Grund auf erneuerten Sprache für das Anthropozän. Einer Sprache, die der Philosophie der Verbundenheit von Mensch und Natur, wie sie Denkerinnen von Donna J. Haraway bis Bruno Latour entwickelt haben, dichterisch Ausdruck verleiht.

Dazu zerlegt Scheffler die Worte in ihre klanglichen Einzelteile, überführt Buchstaben in phonetische Umschrift und fügt sie aus verschiedenen Zeichen­systemen zu einer ganz eigenen lyrischen Kunst­sprache zusammen. Es ist alles andere als Zufall, dass dabei dem Doppelpunkt als dem nonbinären Zeichen der Auflösung von starren Oppositionen eine Schlüsselrolle zukommt. Er transformiert bei Scheffler auch das Grundwort, mit dem wir uns in der Welt verorten: «ich». Bei Scheffler: «:ch».

:ch pulsiere,    l:be uns ein.     lege uns behutsam
in Existenzen.

Wie der Doppelpunkt beim Gendern gegen das binäre Denken opponiert, so will Schefflers «:ch» die starrste aller binären Grenzen durchlässiger machen: jene zwischen Ich und Welt. Denn nur dort, so scheinen diese Texte zu sagen, nur dort, wo der Mensch offen ist, hat auch das Leben, das Begehren, die verantwortungs­volle Begegnung mit dem Nicht-Ich und der Welt einen Platz.

So ist die titelgebende Lava hier nicht nur ein klassisches Symbol für erotisches Begehren. Sie steht auch für das Aufsprengen einer rituell erstarrten Lebensform mit ihren ausbeuterischen Routinen – auf dass neue Rituale der Verbundenheit und Solidarität an ihre Stelle treten. Der Band, der am Ende imaginativ weit in die Zukunft ausgreift, schliesst dann auch mit einer Verschmelzungs­utopie:

w:r sind Lava   unkontrollierbar
flüssig blubbernde:r     Stein   je tiefer

unsere Verbindung   desto mehr   können w:r sein

Nachklapp

Vier Stationen und noch kein Fund für Sie dabei? Easy.

Im Jahr der grossen Kafka-Welle empfehlen wir Kafka als Comic-Biografie: Nicolas Mahler machts möglich (Sie sind ihm bei der Republik kürzlich schon mal hier begegnet). Zeruya Shalevs Debütroman «Nicht ich» ist, 30 Jahre nachdem er in Israel erschienen und durchgefallen ist, nun endlich auf Deutsch zu lesen – ein literarisches Glanzstück, experimenteller und waghalsiger als alles, was Sie sonst von der Autorin kennen.

Die palästinensisch-deutsche Autorin und Friedens­aktivistin Joana Osman, die kürzlich in der Republik über den Nahost­krieg schrieb, hat aus ihrer Familien­geschichte einen lesens­werten Roman gemacht.

Mit Stefanie Sargnagel können Sie nach Iowa reisen – spassiger wird es dort nicht. Charles Linsmayer hat ein «weltliterarisches Lesebuch» von 1870 bis 2020 zusammengestellt. Iris Wolff erzählt in «Lichtungen» eine Geschichte von Liebe und Lebens­freundschaft chronologisch rückwärts. Und der inoffizielle Republik-Sonderpreis für das originellste Pseudonym des Jahres geht an: Toxische Pommes (nein, das ist nicht der Titel des Romans).

Wer jetzt immer noch weiter­stöbern möchte, wird vielleicht hier oder hier fündig.

Ach, und besonders gut zu Ostern passt natürlich: «Hasenprosa». Aber dazu in Kürze mehr.

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