Leichtes statt Seichtes
Sie brauchen noch Lesestoff für die Ferien – schmal, gut lesbar, aber mit Niveau? Wir hätten da ein paar Tipps.
Von Daniel Graf, 14.07.2023
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1. Die Frau mit den blauen Haaren
Elsa M. Anderson, weltbekannte Pianistin und einstiges Wunderkind, hat gerade ihre Karriere als Starsolistin versenkt. Ausgerechnet in Wien, ausgerechnet bei Rachmaninows 2. Klavierkonzert, das sie schon unzählige Male aufgeführt hatte, hat sie nach zwei Minuten, zwölf Sekunden die Bühne verlassen.
Jetzt unterrichtet die Frau mit den blau gefärbten Haaren einen Dreizehnjährigen auf der griechischen Insel Poros und verwendet die millionenschwer versicherten Hände zur Seeigeljagd. Eine künstlerische Krise? Wenn es nur das wäre. Elsa, die eigentlich Ann heisst, hat das Gefühl, «buchstäblich von der Bühne» ihrer bisherigen Welt gegangen zu sein. Da kann sie noch gar nicht wissen, dass ihr Pflegevater und Mentor bald im Sterben liegen wird. Und eine Akte für sie aufbewahrt hat, der sie schon seit Jahren ausweicht.
Und dann sind da noch die beiden mechanischen Tanzpferde, die Elsa nicht mehr aus dem Kopf gehen. Auf einem Flohmarkt in Athen hat ihr diese Frau, die ihr so täuschend ähnlich sah, die Pferde vor der Nase weggekauft. Mit dem Gefühl, «dass sie mir etwas gestohlen hatte, das mir im Leben fehlen würde», macht sich Elsa wie besessen auf, die Frau wiederzufinden. Den Hut, den die Dame verloren hat, nimmt sie dafür als Pfand. Und tatsächlich werden sie sich an den unterschiedlichen Orten dieses Romans wiederbegegnen: in London, Paris, auf Sardinien. Oder ist das alles nur ein freudianischer Trip?
Die britische Autorin Deborah Levy hat mit «Augustblau» einen Roman komponiert, so leichthändig, wie eine Könnerin einen Chopin hintupft. Die Sinnlichkeit, die diesen Text durchweht, gewinnt sie durch eine Protagonistin, die dabei ist, sich gegen ihr entbehrungsreiches Wunderkind-Leben aufzulehnen. Und aus einer Sprache, in der die Realitätspartikel der Gegenwart (der Roman spielt zu Pandemiezeiten) mit magischen Elementen enggeführt werden. Levys exzessive Leitmotivtechnik ist stellenweise vielleicht etwas überinstrumentiert, manches Setting ein wenig klischeehaft geraten. Aber der suggestive Sound und das Faszinosum von Elsas Geschichte entwickeln einen Sog, der eines ziemlich sicher verhindert: dass nach zwei Minuten, zwölf Sekunden noch jemand aussteigt.
Überzeugt? Oder gar nicht Ihr Ding? Wenn Sie auf den entsprechenden Button klicken, gibt es noch einen Ausblick auf die Nachferienzeit.
2. Das Land mit den vielen Sprachen
Dass die Schweiz literarisch weit mehr als vier Sprachen hat, davon war hier schon wiederholt die Rede. Nun gibt es auch eine Anthologie, die die Sprachenvielfalt dokumentiert, in der hierzulande Lyrik und Prosa geschrieben wird. «Albanisch, Arabisch, Englisch, Farsi, Kurmandschi, Polnisch, Serbisch, Spanisch, Ukrainisch …»: Dass der Klappentext mit einer Aufzählung anfängt und diese in drei Punkten münden lässt, ist so folgerichtig wie der Titel dieses Buches: «Vielsprachige Schweiz».
Entstanden ist das Projekt rund um das Literaturhaus Zürich, den Verein Alit und eine Ausschreibung: Hier lebende Autorinnen, die in einer anderen als einer der Landessprachen schreiben, waren aufgerufen, Texte einzureichen. 120 Manuskripte in 23 Sprachen sind es geworden. Eine Jury hat daraus eine Auswahl getroffen, die jetzt in deutscher Übersetzung in Buchform vorliegt. Und so vielfältig wie die Originalsprachen sind auch die Orte. Wenn man so will: Es sind Schweizer Geschichten, die im Libanon, in Afghanistan, in Polen oder Spanien spielen. Oder eben am Zürichsee.
Mal geht es politisch zu, wie in diesem lyrischen Stillleben von Mićo M. Savanović:
Über meinen Tisch marschieren
Äpfel aus Neuseeland
Grapefruit aus Südafrika
Avocado aus Brasilien
Aronia aus Kanada
Aus Indien Papaya
(…)
Früchte der Fracht
saure
Küsse aus Kohlendioxid.
Und mal, wie bei der in Basel lebenden ukrainischen Autorin Eugenia Senik, stösst man auf ein eindringliches Liebesgedicht, dem Krieg abgerungen:
Fang mich
Fang mich dort.
Fang mich, wenn ich hier
Und du dort.
(…)
Literarisch ist in diesem Lesebuch nicht alles gleich gut gelungen. Aber es ist eine bis anhin einzigartige Einladung zum Stöbern, Entdecken und vielleicht auch immer noch Staunen darüber, wie polyfon längst ist, was in der Schweiz an Gegenwartsliteratur geschrieben wird.
Das Schlusswort haben hier wie auch im Buch die vierzehn Primarschülerinnen, die in einem Projekt des Jungen Literaturlabors (JULL) gemeinsam eine Textcollage verfassten:
I have there in zurich only mom and a friend of my mom.
now I am in junges literatur labor.
wery nise typewriter!
ö 2 3 4 5 6 7 8 9 é `à
BEI BEI BEI!
3. Die Sache mit der Bohne
Heisses Getränk, heisses Thema. Zum Kaffee haben wir Bewohnerinnen der westlichen Welt ja eine besonders emotionale Beziehung. Kein Arbeitstag, ob auf der Baustelle oder im Büro, scheint ohne ihn vorstellbar. Und in der Freizeit – geniessen wir ihn erst recht. Mit Herz auf dem Milchschaum. Schon der Duft eine kleine Verheissung.
Allerdings: Die Geschichte des industriell gefertigten Kaffees ist auch seit jeher eine der Ausbeutung von Mensch und Natur, und sie ist es, in unterschiedlichen Formen, bis heute. «Eine Geschichte von Genuss und Gewalt» nennen sie Toni Keppeler, Laura Nadolski und Cecibel Romero in ihrem dieser Tage erscheinenden Sachbuch. «Im Jemen», schreiben die Autorinnen, «nahmen die Europäer zum ersten Mal die Bohnen wahr und machten sie zu einer Kolonialware, zunächst in Asien, dann in Lateinamerika und der Karibik, mit allen grausamen Begleiterscheinungen des Kolonialismus.» Ganze Regionen habe der turbokapitalisierte globale Kaffeemarkt «wirtschaftlich und ökologisch zugrunde gerichtet und tut es noch heute».
Falls Sie nun aufstöhnen und innerlich ausrufen: «Jetzt wollen die Wokeness-Linken uns auch noch den Kaffee nehmen!», sei Entwarnung gegeben. Die Autorinnen sind ja selbst leidenschaftliche Kaffeeliebhaber. Für einen bewussteren Konsum und eine aktivere Auseinandersetzung mit den «vielen dunklen Seiten des Kaffees» aber plädieren sie sehr wohl.
Zwei Hauptthemen prägen das Buch: die Geschichte des Kaffeeanbaus als Teil der Kolonialgeschichte (Spoiler: Auch die Schweiz spielt eine Rolle). Und die ökologischen Auswirkungen – ein Aspekt, der in anderen Büchern zum Thema eher kurz oder gar nicht vorkommt. Dabei ist der Band eben tatsächlich ein Sachbuch, kein Ratgeber. Dem journalistischen Autorentrio geht es um historische Verbindungslinien und ihre Fortsetzung in die Gegenwart. Eine kleine Checklist für verantwortungsvolleren Kaffeegenuss gibt es am Ende aber natürlich trotzdem. Auf dass der Duft der begehrten Bohne eine Verheissung bleiben darf.
4. Die Mutter mit dem Stimmbruch
Über schwere Themen wunderbar leicht und mit Witz zu schreiben, ist eine hohe Kunst. Auf gut 120 Seiten ein ganzes Leben plastisch werden zu lassen, ebenfalls. Der Berliner Autorin Katharina Mevissen ist mit ihrem zweiten Roman beides gelungen. «Mutters Stimmbruch» ist ein Text über das Altern, und schon der Titel deutet an, dass er uns beim Lesen lehrt, die Wörter und die Dinge ein klein wenig anders anzuschauen.
Mutter kann neun Sprachen, aber redet mit niemandem mehr.
Manchmal spricht sie mit der Zentralheizung, den Bäumen und dem Brot, beschimpft ihre Zähne oder das Radio. Ansonsten schweigt Mutter. Sie hat zu wenig Stimme.
So beginnt dieser Text, und bald erfahren wir, dass wir die Sache mit den neun Sprachen nicht falsch verstehen dürfen, weil dazu etwa die «Kindersprache», die «Haussprache» und die «Gartensprache» zählen. Die ihr jetzt nach und nach abhandenkommen.
Als Kind, so heisst es weiter, «hatte sie sich vorgenommen, Vater zu werden. Daraus wurde nichts: Mutter wurde Mutter.» Erst als die Kinder zur Schule gingen, «hatte sie wieder Zeit für kurze Affären»:
Dann musste es schnell gehen. Sie verschlang ihre Geliebten an Vormittagen.
Heute ist sie «weder krank noch gesund», «Mutter wird sich zum Rätsel». Und wenn sie spät am Vormittag aufwacht, «fragt sie sich, ob sie überhaupt aufstehen soll. Es wird ja sowieso bald wieder dunkel.»
Es gehört zum besonderen Ton dieses Buches, dass auf zärtliche, intim-familiäre Weise von «Mutter» die Rede, aber nie jemand da ist. Hier gibt es, und das bemerkt man beim Lesen erst nach einigen Seiten, keine zweite handelnde Person. «Mutters Stimmbruch» ist also auch ein ungewöhnliches Buch über Einsamkeit, mindestens ebenso sehr aber eines über Würde und Autonomie. Der Roman besteht aus 60 kleinen Vignetten, die man mit einigem Recht auch Prosagedichte nennen könnte. Ohne Beschönigungen und Verklärungen erzählen sie von den Widrigkeiten im Alter und belassen der Heldin dabei ihre eigene Form der Selbstbestimmung. Und in einem subtilen Twist gibt Mevissen auch dem Wiederauflodern eines früheren Begehrens eine unerwartete Pointe.
Moment noch!
Schmale und leichthändig erzählte Bücher sind gar nicht, was Sie suchen? Weil Sie in den Ferien endlich einmal genug Zeit haben für die schweren Brocken?
Dann packen Sie doch Philippe Descolas 800-Seiter «Die Formen des Sichtbaren» in den Koffer. Der Schüler von Claude Lévi-Strauss zieht in dieser «Anthropologie der Bilder» nicht weniger als die Summe eines gesamten Gelehrtenlebens. Was Sie in diesem unerschöpflichen Band über die menschliche Kunst des Bilderentwerfens und -deutens an Entdeckungen machen können, dürfte lässig bis zum nächsten Urlaub reichen. Wer es lieber mit dicken Romanen hält, wird vielleicht bei dieser Wälzer-Parade fündig. Und wenn Sie Bücher digital lesen, passen sowieso ganze Bibliotheken in Ihre Jackentasche.
Wo und wie auch immer Sie es also tun: Gute Lektüre!
Deborah Levy: «Augustblau». Roman. Aus dem Englischen von Marion Hertle. Aki, Zürich 2023. 176 Seiten, ca. 33 Franken.
Isabelle Vonlanthen, Dragica Rajčić Holzner (Hrsg.): «Vielsprachige Schweiz. Ein Lesebuch». Essais agités, Zürich 2023. 128 Seiten, ca. 15 Franken.
Toni Keppeler, Laura Nadolski, Cecibel Romero: «Kaffee. Eine Geschichte von Genuss und Gewalt». Rotpunkt, Zürich 2023. 272 Seiten, ca. 33 Franken.
Katharina Mevissen: «Mutters Stimmbruch». Wagenbach, Berlin 2023. 128 Seiten, ca. 32 Franken.