Die Literatur, die hier und heute entsteht, ist nicht nur deutsch, französisch, italienisch oder rätoromanisch.

Die Schweiz ist kein viersprachiges Land

Die Vielsprachigkeit geht weit über die offiziellen Landes­sprachen hinaus. Das verändert die literarische Landschaft.

Von Daniel Graf (Text) und Darren Shaddick (Illustration), 13.10.2021

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Wenn Hussein Mohammadi an seinem Schreib­tisch in Pfaffhausen sitzt und an seinem Roman arbeitet, schreibt er auf Persisch. Mohammadi ist 1986 in Afghanistan geboren und im Iran aufgewachsen. Mit der Literatur hat er, ebenso wie mit der Malerei, früh begonnen. Seine ersten beiden Romane wurden vom iranischen Regime zensiert und blieben unveröffentlicht. Ein dritter Roman, «Symphonie der Liebe», konnte erscheinen.

2013 floh er in die Schweiz, wo er sich – neben seiner Arbeit als Hydraulik­mechaniker – weiterhin der Kunst und Literatur widmet und derzeit an seinem vierten Roman arbeitet.

Mohammadi ist Teil des 2020 gegründeten Projektes «Weiter Schreiben Schweiz», das exilierte, hier lebende mit einheimischen Autoren zusammen­bringt. Mohammadi bildet ein Tandem mit der Schrift­stellerin Julia Weber, die ihm bei der Anbindung an den Schweizer Literatur­betrieb hilft. Und wenn er kürzere Texte über seine Flucht­erfahrung mittlerweile auf Deutsch schreibt, unterstützt ihn auch Projekt­initiatorin Annika Reich als Lektorin und Korrektorin bei der Suche nach dem exakten Ausdruck. Den aktuellen Roman, seinen vierten, aber schreibt er, wie die bisherigen, auf Persisch – der Sprache, in der er über die Nuancen seines ungleich grösseren Wort­schatzes und den ganzen Assoziations­raum der Wörter verfügen kann.

Mohammadi ist nur ein Beispiel von vielen für eine neue vielsprachige Realität in der Schweiz, innerhalb und ausserhalb der Literatur. Und während im Parlament kürzlich die «Tage der Mehrsprachigkeit» in den vier Landes­sprachen zelebriert wurden, zielt die Aufmerksamkeit des Kultur­betriebs genau darüber hinaus: auf die sogenannten «fünften Landessprachen».

«Fünfte Landes­sprachen» – das ist eine eigenartige Wort­kreation mit diesem Mix aus Ordnungs­zahl und Plural.

In dem Begriff steckt allerdings eine Einsicht, die, einmal ausgesprochen, schon beinah selbst­verständlich scheint: Die tatsächliche Sprachen­vielfalt des Schweizer Alltags (und des literarischen Lebens) reicht weit über die vier Landes­sprachen hinaus. Und dies nicht etwa, weil es ein paar einzelne Sprecherinnen beträfe. Sondern weil für mittlerweile fast ein Viertel der Schweizer Bevölkerung eine oder mehrere Sprachen im täglichen Leben bestimmend sind, die nicht zu den Schweizer Amts­sprachen gehören.

Die «anderen» Sprachen: zusammen so häufig wie Französisch

Hauptsprachen der Schweizer Wohn­bevölkerung, erhoben 2019

Deutsch062,1 % Französisch022,8 % Italienisch08,0 % Rätoromanisch00,5 % Andere Sprachen022,7 %

Die Befragten konnten bis zu drei Haupt­sprachen angeben. Quelle: Bundesamt für Statistik.

Unmittelbar einleuchtend ist, dass dabei dem Englischen besonderes Gewicht zukommt, allein schon wegen seiner Funktion im Berufs­leben. Eindrücklich zeigen die Daten des Bundes­amts für Statistik aber auch: Portugiesisch und Albanisch spielen in der Schweiz für 7-mal so viele Menschen eine zentrale Rolle wie das Räto­romanische. Auch Spanisch und Serbo­kroatisch werden in der Schweiz um ein Vielfaches häufiger als Haupt­sprache verwendet als die kleinste Landessprache.

Und schliesslich: Der Anteil an Sprecherinnen bisher noch nicht genannter Sprachen ist zusammen­genommen quasi genauso gross wie der Anteil des Italienischen (inklusive Tessiner oder Bündner­italienischer Dialekte).

Die «fünften Landes­sprachen» in Relation

Vergleich mit den «kleineren» Landessprachen

Englisch05,7 % Portugiesisch03,5 % Albanisch03,3 % Serbisch, Kroatisch02,3 % Spanisch02,3 % Andere Sprachen07,9 % Italienisch08,0 % Rätoromanisch00,5 %

Die Befragten konnten bis zu drei Haupt­sprachen angeben. Quelle: Bundesamt für Statistik.

Worum es bei solchen Vergleichs­zahlen gerade nicht geht: eine Hierarchisierung der Sprachen. Das Räto­romanische ist nicht weniger wichtig, weil andere Sprachen im Alltag häufiger gesprochen werden. Aber die Zahlen machen doch augen­fällig, wie wenig die offizielle Vier­sprachigkeit über die tatsächliche Sprachen­vielfalt in der Schweiz verrät.

Was die Statistiken erst auf den zweiten oder dritten Blick offenbaren: Rechnet man die Prozent­zahlen der Landes- und der «anderen» Sprachen zusammen, landet man bei deutlich über 100 Prozent. Das ist kein Fehler, sondern eine zentrale Erkenntnis: Mehrsprachigkeit über die vier Landes­sprachen hinaus ist in der Schweiz für Hundert­tausende gelebter Alltag.

Das gilt selbst­verständlich auch für Autoren. Es gibt nicht wenige exilierte, ausgewanderte oder einfach mehr­sprachige Literaten, die dauerhaft hier leben, ihre Texte jedoch ausschliesslich oder teilweise in einer Sprache schreiben, die nicht erfasst wird, wenn von der «vier­sprachigen Schweiz» die Rede ist.

Die Literatur, die hier und heute in der Schweiz entsteht, ist also keineswegs allein deutsch, französisch, italienisch oder rätoromanisch. Sondern, zum Beispiel, portugiesisch wie bei Patrícia Melo, einer Autorin von inter­nationalem Rang, die in Lugano lebt. Türkisch wie bei Hasan Sever. Serbisch wie bei Mićo Savanović. Englisch wie bei der Waadtländer Autorin und Übersetzerin Michelle Bailat-Jones. Persisch, arabisch oder im kurdischen Sorani-Dialekt geschrieben wie bei Autoren von «Weiter Schreiben Schweiz».

Neue Aufmerksamkeit

Ob es also schlichtweg am gestiegenen Anteil der sogenannten Nicht­landessprachen liegt, dass sich derzeit ein neues, breiteres Bewusstsein für deren wichtige Rolle auszuprägen scheint? Daran, dass das Engagement von Vereinen wie Alit mit seinem Programm «Welten­literatur» inzwischen umfassendere Wirkung zeigt, die Arbeit von Initiativen also, die sich um eine grössere Sichtbarkeit für Schreibende jenseits der Landes­sprachen bemühen? Hatten die Solothurner Literatur­tage 2020, wo das Thema prominent positioniert war, und die Gründung von «Weiter Schreiben Schweiz» eine gewisse Initial­funktion für eine anhaltende Diskussion?

Es ist jedenfalls auffällig, dass die Sprachen­vielfalt im literarischen Leben der Schweiz aktuell einen Aufmerksamkeits­schub erfährt.

Zwar haben die Literatur­häuser oder Institutionen wie das Berner Kultur­büro artlink mit ihren Veranstaltungen und Programmen schon seit Jahren für unterschiedlichste Fragen von Sprach­transfer und Kultur­austausch sensibilisiert. Womöglich aber ist das Thema «Fünfte Landes­sprachen» derzeit dabei, ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit zu rücken. Und nicht zuletzt in den Fokus einer bislang lückenhaften Kulturförderung.

«Ein Wunder findet gerade statt», schrieb kürzlich die Autorin Dragica Rajčić Holzner, die sich seit Jahren bei Alit engagiert, mit Blick auf ein vom Literatur­haus Zürich initiiertes Symposium zum Thema. Und fügte ihrem Facebook-Post hinzu: «schaut und staunt».

Man darf hier, bei aller Freude, durchaus auch eine kritische Note mithören.

Denn wenn es um Sprachen­vielfalt und die Erweiterung von Perspektiven geht, klingen die Wort­meldungen zwar meistens nach «alles wunderbar bunt hier!», egal, ob nun von der klassisch schweizerischen Vier- oder der neuen Vielsprachigkeit die Rede ist. In der Realität aber gibt es ja bereits zwischen den vier Schweizer Sprach­regionen neben dem gerne beschworenen Miteinander auch viel interesseloses Nebeneinander. Wie ist es da erst mit den «fünften Landessprachen»?

Deren vorbehaltloser Anerkennung als Sprachen dieses Landes stehen auch in der Literatur­szene noch Hindernisse im Weg. Doch ist zuletzt in kurzer Zeit sehr viel in Bewegung geraten.

Neue Möglichkeiten, alte Schwierigkeiten

Um mit nachhaltigen Fortschritten zu beginnen: Die Schweizer Kultur­stiftung Pro Helvetia hat seit diesem Jahr ihre Literatur­förderung von der vier- auf die vielsprachige Schweiz ausgeweitet. Neu können in der Schweiz ansässige Autorinnen nun unabhängig von der Sprache, in der sie schreiben, eine sogenannte Kreations­förderung beantragen, also Unterstützungs­gelder für die Arbeit an einem konkreten Werk.

Man darf diese Neuregelung ruhig einen Paradigmen­wechsel nennen – weil die Kultur­förderung damit gleich­berechtigt anerkennt, dass Autorinnen der «fünften Landes­sprachen» zwar in aller Regel mindestens eine Landes­sprache als Konversations­sprache im Alltag nutzen, ihre literarischen Texte aber in einer anderen Sprache verfassen.

Ein Problem aber bleibt: Die Kreations­förderung bei Pro Helvetia ist an Autoren gerichtet, die die ersten Schritte im Buch­markt bereits geschafft haben. Deshalb ist sie – wie auch bei einigen anderen Förder­programmen – an die Bedingung geknüpft, dass der Antrag­steller bereits ein literarisches Werk publiziert hat. Das ist mit Blick auf die Schweiz und alle Länder, in denen ein halbwegs intakter Buchmarkt existiert, auch durchaus sinnvoll. Denn die Publikation in einem (angesehenen) Verlags­haus ist ein wichtiger Qualitäts­indikator, und die Prüfung von Förder­anträgen muss sich notwendig an qualitativen Standards orientieren.

Diese Logik greift jedoch genau dort am wenigsten, wo die Kunst­freiheit besonders bedroht ist.

Wo soll zum Beispiel ein afghanischer Taliban­kritiker jetzt in seinem Herkunfts­land veröffentlichen? Wie viele potenzielle Verlage hat eine oppositionelle Autorin im Iran zur Auswahl?

Der in Damaskus geborene und heute in Burgdorf lebende Autor Shukri Al Rayyan, dessen Texte auf der Website von «Weiter Schreiben Schweiz» auf Arabisch und in deutscher Übersetzung erscheinen, formulierte Mitte September bei dem bereits genannten Zürcher Symposium das Problem so: Kritische Stimmen hätten in Syrien «keine Chance auf Veröffentlichung, die Autoritäten kontrollieren alles». Und wenn es deshalb für die eigenen Romane keinen Verlag gebe, könne man hier in der Schweiz auch nicht die geforderten Leistungs­nachweise erbringen.

So beisst sich für exilierte Autoren mitunter die Katze in den Schwanz: im Herkunfts­land kein Buch aus politischen Gründen. In der Schweiz keine Förderung, weil noch kein publiziertes Werk da ist. Was nicht zwangsläufig daran liegt, dass da jemand gerade erst mit dem Schreiben beginnt.

Das lässt möglicherweise zwei Schluss­folgerungen zu.

Zum einen: Je stärker formale Förder­kriterien an einer Art Norm-Werdegang von Autorinnen im hiesigen Literatur­betrieb ausgerichtet sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie für Schreibende aus Herkunfts­ländern mit radikal anderen Voraus­setzungen eine Hürde darstellen.

Zum anderen: Was zusätzlich zum Bestehenden helfen könnte, wären Massnahmen, die für Autoren der «fünften Landes­sprachen» den Einstieg in die Schweizer Literatur­szene erleichtern, Publikations­möglichkeiten in hiesigen Zeitschriften eröffnen und letztlich die Chancen erhöhen, einen Schweizer Verlag zu finden, der ihre Werke in Übersetzung herausbringt.

Hiesige Verlage beschäftigen in der Regel keine Lektorin, die Kroatisch, Albanisch oder Vietnamesisch liest. Wo es also keinen original­sprachlichen Verlag gibt, der potenziellen Lizenz­nehmern Übersetzungs­proben und Gutachten zur Verfügung stellt, müssten die Verlage in jedem Einzel­fall selbst diese Investments vornehmen. Das kann man zwar mit Gründen zum verlegerischen Kern­geschäft der Akquisition zählen – und damit als Aufgabe der Verlage deklarieren. Es ist aber fraglos eine zusätzliche Hürde. Nicht zuletzt für die Autorinnen.

Erwin Künzli, Verleger des Limmat Verlags, regte deshalb auf dem Zürcher Symposium an, bei der Unterstützung für Übersetzungs­proben anzusetzen – ähnlich wie Pro Helvetia Schweizer Literatur im Ausland mit sogenannten «Sample Translations» promotet. «Vielleicht müsste man das mal umkehren», meinte Künzli, sprich: Übersetzungs­proben von Literatur der «fünften Landes­sprachen» fördern. Das würde, so Künzli, den Verlagen entscheidend helfen, auch unpublizierte Manuskripte in anderen Sprachen angemessen zu prüfen.

Statt Kultur­export also Horizont­erweiterung im Inneren.

Der Vorschlag stiess zumindest auf offene Ohren.

Literaturportal als Übergangslösung

Was all die Beispiele zeigen: Neue sprachliche und politische Realitäten erfordern neue Antworten. Regel­werke müssen angepasst, Gewohnheiten verändert werden, um Aufmerksamkeits- und Förder­lücken zu schliessen – und genau das geschieht derzeit auch.

Reina Gehrig, die seit Sommer 2020 bei Pro Helvetia den Literatur­bereich verantwortet und die Ausweitung der Kreations­förderung mitvoran­getrieben hat, resümierte denn auch bei der Zürcher Tagung, es liege «weiter viel Arbeit vor uns allen». Denn blinde Flecke und Fehler im System müssen erst einmal als solche erkannt werden. Der Wille zu möglichst viel Inklusion ist ja vorhanden.

Auch bei der Kultur­förderung von Kommunen und Kantonen ist das Thema «fünfte Landes­sprachen» angekommen. In Zürich etwa haben Stadt und Kanton – die gemeinsam mit Pro Helvetia bereits das Projekt «Weiter Schreiben Schweiz» unterstützen – Ende 2020 eine gemeinsame Erhebung gemacht, um Förder­lücken zu identifizieren. Derzeit laufen die Beratungen, wie die Programme auf die «fünften Landes­sprachen» ausgedehnt werden können. «Noch im nächsten Jahr» wolle man konkrete Regel­änderungen umsetzen, sagt Stephanie von Harrach, Ressort­leiterin Literatur bei der Stadt Zürich, gegenüber der Republik.

Gerade in solchen Phasen des Übergangs zeigt sich die Bedeutung einer Initiative wie «Weiter Schreiben Schweiz».

In einem Literatur­betrieb, in dem von Lesungen und Podiums­einladungen bis hin zu Literatur­preisen nahezu alles am Medium Buch orientiert ist, hängen Sichtbarkeit, literarisches Prestige und Verdienst­möglichkeiten für Autoren noch immer eng mit einer Verlags­zugehörigkeit zusammen. Das Publikations­forum von «Weiter Schreiben» ist kein Ersatz für eine Verlags­heimat der beteiligten Autorinnen – sondern eine mögliche Brücke dorthin. Das Literatur­portal ist ausserdem ein Ort, an dem exilierte Autoren in ihrer Sprache publizieren und zugleich auf Deutsch gelesen werden können. Und es ist eine Institution, die Schreibenden aus anderen Herkunfts­ländern durch die Vernetzung mit etablierten Schweizer Kollegen dabei hilft, zu einem hör- und sichtbaren Teil des literarischen Lebens hierzulande zu werden.

Nimmt man alles bisher Gesagte zusammen, wird deutlich: Eine Schlüssel­rolle für all diese Prozesse kommt den Übersetzern zu.

Aber da liegt schon das nächste Sichtbarkeitsproblem.

«This Little Art»: Die Kunst der Übersetzung

In «This Little Art», einem der schönsten Bücher zum Thema Übersetzung, das soeben im Schweizer Verlag ink press auf Deutsch erschienen ist, schreibt die Autorin Kate Briggs (in den deutschen Worten von Sabine Voss):

Es ist leicht, nicht an die Übersetzung und die Übersetzerin zu denken. Die Übersetzerin beim Lesen nicht im Sinn zu haben, keinen Gedanken an sie, an die Geschichte ihrer Arbeit zu verschwenden, ist ganz einfach.

Aus: Kate Briggs, «This Little Art».

Tatsächlich: «Lost in translation» gehen häufig ja vor allem die Übersetzer­namen – und das Bewusstsein dafür, dass uns der weitaus grösste Teil der Welt­literatur überhaupt nur dank der kleinen, grossen Kunst der Über­setzung zugänglich ist. Auch wenn sich durch kontinuierliche Lobby­arbeit der Übersetzer­verbände in den letzten Jahren in Sachen Wert­schätzung manches gebessert hat: Die Tätigkeit der Übersetzerinnen findet bis heute meist abseits der öffentlichen Wahrnehmung und Anerkennung statt.

Das Übersetzer­haus Looren hat dieser sprich­wörtlichen Unsichtbarkeit kürzlich eine Lese­performance unter der Regie von Zarina Tadjibaeva entgegengesetzt.

Der Schweizer Lyriker Jürg Halter las aus seinem Gedicht­band «Gemeinsame Sprache» – und in den offenen Fenstern des Loorener Stipendiaten­hauses rezitierten Übersetzer ihre Übertragungen auf Französisch (Eva Antonnikov), Tadschikisch (Mirzo Boboev), Italienisch (Sándor Marazza), Slowakisch (Zorka Ciklaminy) und Lettisch (Inga Karlsberga).

Dabei blieben zwar die Ausgangs­texte symbolisch stärker im Zentrum der Inszenierung als nötig gewesen wäre, doch war die wesentliche Botschaft augenfällig ins Bild gesetzt: Die Übersetzerinnen traten aus der Unsichtbarkeit heraus und auf die Bühne.

Die eindrücklichste Pointe dann am Ende: kein Gedicht im deutschen Original vorab. Man hört zuerst einen Text auf Slowakisch. Wer, wie der Autor dieser Zeilen, kein Wort Slowakisch versteht, war bei der folgenden Lesung auf Italienisch zunächst nicht einmal sicher, ob da überhaupt gerade Übertragungen desselben Texts gelesen wurden. Bis dann die französische Fassung den «Filo rosso» aus dem italienischen Titel aufnimmt. Und am Ende der «Rote Faden» bei Jürg Halter und seinem gleich­namigen Gedicht landet. So wurden Nähe und Ferne zu einzelnen Sprachen und der Vorgang des Sprach­transfers sehr direkt und individuell erfahrbar.

Es sind die Übersetzer, die Literatur über Sprach­grenzen tragen. Deshalb ist es auch für Schreibende der «fünften Landes­sprachen» so wichtig, Kontakt zu Übersetzerinnen zu bekommen. Diese sind für ihr Sprach­gebiet häufig zugleich die Entdecker von Autoren und agieren als Vermittlerinnen in die Verlags­welt hinein.

Darüber hinaus entwickelt die Literatur dann immer auch ihre eigenen Dynamiken.

Der eingangs vorgestellte Hussein Mohammadi beispiels­weise oder der ebenfalls in Afghanistan geborene Jafar Sael tragen bei Lesungen mittlerweile nicht nur selbst die deutschen Übersetzungen ihrer persischen Texte vor. Wie Mohammadi schreibt Sael inzwischen kurze Texte auch in deutscher Sprache. Bei einer Lesung im Literatur­haus Zürich trug Mohammadi kürzlich auf Deutsch aus seiner Flucht­chronik «Unter einem Baum» vor, Sael rezitierte neben seiner persischen Lyrik auch erste deutsche Gedichte. «Das Mittelmeer» zum Beispiel: Verse von sarkastischer Direktheit. Darin Sätze, die einem einfahren, wie nur bittere Wahrheiten es tun.

Aber hören Sie selbst:

Jafar Sael: «Das Mittelmeer», gelesen vom Autor.

In alle Richtungen

Das Gedicht von Jafar Sael ist ein deutsches Gedicht. Es ist Teil der deutsch­sprachigen Literatur, verfasst von einem, der mit dem Schreiben und Performen auf Deutsch nicht wartet, bis ihm das Goethe-Institut ein akzent­freies C2-Niveau bescheinigt hat.

Ob sich auch langsam das Bild ein wenig wandelt von dem, was Deutsch­schweizer Literatur sein kann? Wer Deutsch­schweizer Autor sein kann?

Dragica Rajčić Holzner, die seit Jahr­zehnten in Zürich und Innsbruck lebt, auf Kroatisch und auf Deutsch schreibt, erzählte beim Zürcher Symposium, in den 1990ern habe Pro Helvetia sie nicht zu Veranstaltungen ausserhalb der Schweiz schicken wollen. «Es könnte sonst im Ausland jemand denken, die Schweizer können nicht richtig Deutsch.»

Das erinnert ein wenig an die Ratlosigkeit, mit der einige Jurorinnen des Ingeborg-Bachmann-Preises 2016 auf das «Broken German» von Tomer Gardi reagierten: Weil der in Israel geborene, in Berlin lebende Autor ein Pidgin-Deutsch inklusive Grammatik­fehlern präsentierte, wurde in der öffentlichen Jury-Diskussion kaum über literarische Fragen gesprochen; dafür eifrig spekuliert, wie gut der Autor Deutsch könne und ob man ein falsches Deutsch denn sinnvoll mit dem korrekten der anderen Wettbewerbs­beiträge vergleichen könne.

Tomer Gardi übrigens hat im Grazer Droschl-Verlag mittlerweile drei Romane veröffentlicht: der erste geschrieben auf Deutsch, der zweite auf Hebräisch (Deutsch von Anne Birkenhauer) – und der neueste, «Eine runde Sache», auf Deutsch und Hebräisch. Was zu der schönen biblio­grafischen Angabe führt: «Zur Hälfte aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer».

Auch mehrsprachige Texte sind längst Teil der deutsch­sprachigen Literatur – etwa bei Dagmara Kraus, die in ihre Gedichte unter anderem Polnisch und Französisch integriert und den Sprach­mix zu einer eigenen Kunst­sprache erweitert. Oder bei Uljana Wolf, die aus dem code switch zwischen Deutsch und Englisch eine ganze Poetik kreiert.

Die in Moskau geborene West­schweizer Lyrikerin Marina Skalova hat ihren Gedicht­band «Atemnot (Souffle court)» zweisprachig auf Französisch und Deutsch angelegt. Und wahrscheinlich arbeitet hierzulande niemand so konsequent und literarisch eigenwillig an einer kosmo­politischen Literatur wie Annette Hug, deren Romane inhaltlich wie sprachlich zwischen der Schweiz und Südost­asien aufgespannt sind und das Übersetzen selbst zum Thema machen. (Nicht entgehen lassen: In diesem Video kann man Annette Hug aus einer Zürcher Küche heraus Tagalog sprechen hören.)

Mehrsprachigkeit, Sprachen­vielfalt und Kultur­transfer sind nie Einbahn­strassen. Sie wirken aus allen und in alle Richtungen. Und ziemlich sicher lässt sich sagen: Auch die Literatur der vier Landes­sprachen bleibt nicht dieselbe.

Diese Prozesse sind aber nicht auf die Literatur beschränkt. Auf der literarischen Bühne wird nur ein wenig sichtbarer, was sich ganz allgemein im Land vollzieht – und wie sehr die Rede von der vier­sprachigen Nation ein Mythos ist.

Literatur als Kunstform hat keinen pädagogischen Auftrag und sie erschöpft sich nicht in einem Fingerzeig auf soziologische Realitäten. Aber sie kann dennoch das Bewusstsein schärfen. Dafür, welche Sprachen­vielfalt in der Schweiz nicht theoretisch, sondern in alltäglicher Praxis existiert. Und wie klein meist der Ausschnitt ist, den wir davon zur Kenntnis nehmen.

Wie viele Sprachen spricht die Schweiz?

Zum Weiterlesen

Kate Briggs: «This Little Art». Aus dem Englischen von Sabine Voss. ink press, Zürich 2021. 368 Seiten, ca. 30 Franken.

Olga Grjasnowa: «Die Macht der Mehrsprachigkeit. Über Herkunft und Vielfalt». Duden, Berlin 2021. 128 Seiten, ca. 18 Franken.

Yōko Tawada: «Überseezungen». Literarische Essays. Konkurs­buch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2002. 160 Seiten, ca. 19 Franken.

Uljana Wolf: «Etymologischer Gossip». Essays und Reden. kookbooks, Berlin 2020. 232 Seiten, ca. 31 Franken.

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