Zeichen des Krieges: Ein beschädigtes Hochhaus in der Moskauer City nach einem Drohnenangriff. Nanna Heitmann/Magnum Photos

Die russische Apathie

Abhängigkeit, Konformismus und Angst: Das System Putin greift bis ins letzte Glied der russischen Gesellschaft. Eine Analyse vor der Wahl, die keine ist.

Von Ivan Ruslyannikov, 11.03.2024

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
0:00 / 24:17

Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!

Einen siegreichen Helden möchte Russland an der Spitze des Staates sehen. Das zeigte eine Umfrage bereits 1999, bei der die Bevölkerung gefragt wurde: «Welche Filmfigur würden Sie zum Präsidenten wählen?»

Die Antworten auf die vordergründig triviale Frage waren interessant. In dem Jahr, in dem Russland unter Boris Jelzin mit den Folgen einer heftigen Wirtschafts­krise kämpfte und Wladimir Putin das erste Mal die Regierungs­geschäfte übernahm, wollte kaum jemand US-Filmstars wie Bruce Willis oder Silvester Stallone als Leitfigur. Auch nicht russische Helden mit dem Herzen am rechten Fleck. Auf den ersten Platz schaffte es stattdessen ein beinharter Militär: Feldherr Georgi Schukow, «Marschall des Sieges» und brutaler Menschen­schlächter, der im Zweiten Weltkrieg die Sowjet­fahne auf dem deutschen Reichstag hissen liess. Seine filmische Adaption war es, die die Russen am liebsten als Präsidenten wollten.

Es ist bemerkenswert, dass Wladimir Putin sich wenige Jahre zuvor zur Sehnsucht der Russen nach dem starken Mann geäussert und vor ihren Folgen gewarnt hatte. 1991 sagte er in einem Interview: «Wenn man uns eine feste Ordnung mit harter Hand auferlegt, scheint es, dass wir alle besser, bequemer und sicherer leben. Doch wird der Komfort schnell enden, denn diese harte Hand wird beginnen, uns zu erwürgen.»

In wenigen Tagen nun wird Russland darüber abstimmen, wer das Land in den kommenden sechs Jahren führen wird. Das Ergebnis der Schein­wahlen vom 15. bis 17. März steht bereits fest: Siegen wird für eine fünfte Amtszeit Präsident Wladimir Putin. Ein Diktator, der seine Macht in Russland mit repressiven Gesetzen festigte. Ein Kriegs­verbrecher, gegen den der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Haftbefehl erlassen hat wegen mutmasslich völkerrechts­widriger Taten in der Ukraine. Ein Mörder, der seinen stärksten politischen Gegner Alexei Nawalny im Gefängnis umbringen liess.

Putin herrscht seit einem Viertel­jahrhundert in Russland. Er hat das Land umschmeichelt, gelähmt und langsam, aber stetig jede kritische Regung erwürgt.

Präsidentschafts­wahlen in Russland sind ein festes Ritual mit kontrolliertem Ablauf. Putin tritt gegen einige Schein­konkurrenten an, um einen offenen Wahlausgang zu simulieren. Meist wird eine Kandidatin aufgestellt, um die Stimmen derjenigen auf sich zu vereinen, die unzufrieden mit der Politik des Kremls sind. 2012 war das Milliardär Michail Prochorow, 2018 Moderatorin und It-Girl Xenija Sobtschak, die Tochter von Putins politischem Mentor Anatoli Sobtschak.

In der Regel stellen diese sogenannten Gegen­kandidaten jegliche politische Tätigkeit ein, sobald die Präsidentschafts­wahlen vorbei sind.

Dieses Jahr beschloss der Kreml darüber hinaus, kein Risiko einzugehen. Den einzigen Kandidaten mit einer Anti-Kriegs-Haltung, Boris Nadeschdin, liess er nicht zu. Die Russinnen haben nun offiziell die Wahl zwischen vier Kandidaten. Das ist selbst für Russland spärlich, 2018 standen zum Beispiel sieben zur Wahl. Auch damals wurde allerdings mit Alexei Nawalny Putins härtester Kritiker an der Kandidatur gehindert.

Der einzige Indikator, der vorsichtige Schlüsse über Putins Rückhalt in der Bevölkerung zulässt, ist die Höhe der Wahl­beteiligung. Sie lag 2018 bei 67 Prozent. Das Votum fiel klar zugunsten von Putin aus.

Wer also gibt Putin seine Stimme?

Die Wähler Putins

Überzeugte Unterstützer Putins sind Menschen wie jene, über die in Russland zahlreiche Memes kursieren: Oligarchen­söhne, die Anfang des Jahrtausends mit orangefarbenen Porsche Cayennes vor Moskauer Nachtclubs vorfuhren, in denen das Geld in Kilogramm gewogen wurde.

Doch nicht nur die Moskauer Neureichen, auch die breite Masse kam in den ersten Jahren unter Putin zu neuem Wohlstand. Viele Bürgerinnen konnten es sich nun leisten, von sowjetischen Autos auf einen BMW oder zumindest einen Toyota umzusteigen. Oft bezogen sie moderne Wohnungen in frisch aufgetürmten Platten­bauten unweit von gerade fertig­gestellten Einkaufs­zentren.

Bereits unter Boris Jelzin war der wichtige Rohstoff­sektor unter kremlnahen Oligarchen aufgeteilt worden. Sie erhielten die Herrschaft über Kohle, Gas, Metalle und andere Rohstoffe. Monopolisten wie Gazprom und Staats­unternehmen wie die russische Eisenbahn beschäftigen bis heute Hundert­tausende Angestellte. In den Weiten Russlands gibt es ausserdem zahlreiche Mono­städte, die um eine Fabrik herum gebaut wurden. Diese Fabrik, die jeweils einem Freund von Putin gehört, ist dann weit und breit der einzige grosse Arbeitgeber.

Viele Russinnen aus der Mittelschicht arbeiten für diese Gross­unternehmen, die Putin nahestehen. Oder sie arbeiten für den Staat. «Budgetnik» werden Arbeitnehmer genannt, die vom Geld des Kremls abhängig sind. Lehrerinnen, Ärzte, Polizistinnen, Militär­angehörige, Beamtinnen und Journalisten der staatlichen Medien werden alle vom Staat bezahlt. Sie wissen, dass ihre Loyalität gegenüber Putin über ihr materielles Wohlergehen entscheidet. Sie sind darum bereit wegzuschauen.

August 2023: Besucherinnen einer Automobilausstellung in Moskau. Nanna Heitmann/Magnum Photos
Die Bewegung der Jungen Pioniere wurde nach dem Ende der Sowjetunion aufgelöst – jetzt werden die Bestrebungen intensiviert, jugendliche patriotische Gruppierungen wieder stark zu machen. Nanna Heitmann/Magnum Photos

Für sie sind eine komfortable Wohnung und ein auf Kredit gekaufter Toyota Land Cruiser wichtiger als demokratische Werte. Ein sicheres Gehalt von angenehmen tausend Euro im Monat ist ihnen wichtiger, als sich gegen den Krieg in der Ukraine auszusprechen. Es sich leisten zu können, immer mal wieder auswärts essen zu gehen, zählt mehr, als Verwandte in der Ukraine zu unterstützen, die unter den täglichen Bomben­angriffen durch die russische Armee leiden.

Es ist bequemer, zu schweigen und der Propaganda zu glauben.

Und Putin erleichtert das Wegducken gern, indem er Wählerinnen besticht mit Wohnungen, iPhones und Reise­gutscheinen für die annektierte Halbinsel Krim. Das ist nur ein kleiner Teil der Preise, die die Russen bei der Teilnahme an den Präsidentschafts­wahlen gewinnen können. «Die teuersten Preise, wie eine Wohnung oder ein Auto, werden an Verwandte von Beamten vergeben», sagt Alexei Schwarz, der ehemalige Leiter von Nawalnys Büro in Kurgan, der mehrfach als Wahl­beobachter in Russland tätig war. Die Belohnung fällt allerdings nicht überall so üppig aus. Schwarz sagt: «In Kurgan zum Beispiel erhielten die Fabrik­arbeiter für ihre Stimme Wassermelonen, die sich als unreif herausstellten.» Häftlinge in Gefängnissen etwa, die völlig abhängig sind, dürften im besten Fall auf ein paar Zigaretten hoffen.

Putins Pfeiler der Macht

Wahrscheinlich haben viele von Putins Wählerinnen ohnehin das Gefühl, dass ihre Stimme wenig zählt. Und wir dürfen nicht vergessen, dass der Präsident seit Jahren seine Macht in allen Gebieten des Reiches verwurzelt hat.

Es gibt dafür eine Struktur, die sogenannte Macht­vertikale. Sie erinnert an die italienische Mafia: Das Riesenreich Russland ist in 83 Regionen unterteilt. Die russische Regierung zählt dabei 89 Regionen – denn sie rechnet die besetzten Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja, Cherson, die Krim und Sewastopol dazu.

Jeder der Regionen steht ein Gouverneur vor. Diese Regierungen werden seit einigen Jahren zwar wieder offiziell gewählt, doch aufgestellt werden einzig Kandidatinnen von Putins Gnaden.

Ihre Amts­dauer korreliert direkt mit ihrer Loyalität gegenüber dem Kreml. Der frühere Chef der Region Chabarowsk etwa, Sergei Furgal, wurde für 22 Jahre ins Straflager gesteckt. Die Begründung: Er soll an Auftrags­morden beteiligt gewesen sein. Furgal war lange ein Mann des Systems, doch er bekämpfte die Korruption und verlor darüber Putins Vertrauen.

Anders in der grossen Region Swerdlowsk im Ural. Dort übernahm Jewgeni Kuiwaschew 2012 das Zepter. Er hatte sich in Putins Augen als Administrator in Westsibirien und dann in der Präsidial­verwaltung verdient gemacht und gelangte ins Amt, obwohl er der Bevölkerung in der Region fast unbekannt war.

In Swerdlowsk wird sichtbar, wie die Stimmen für Putin zur Präsidentschafts­wahl organisiert werden. Gouverneur Kuiwaschew herrscht über die Region mit gegen 100 Land­kreisen und an die 50 Städten. Jede Bürgermeisterin, jedes Dorf­oberhaupt in seiner Provinz ist eingebunden in das System, sie sind die Fuss­soldaten Putins. Ihre Aufgabe besteht darin, Sorge dafür zu tragen, dass in Schulen, Kranken­häusern und anderen öffentlichen Einrichtungen keine Protest­stimmung aufkommt. Direktorinnen von Staats­konzernen und Strassenverkehrs­unternehmen stehen jeweils Hunderten Menschen vor und sorgen dafür, dass diese am Wahltag ihr Kreuzchen an der richtigen Stelle machen. Sie folgen, weil sie ihren Arbeits­platz nicht verlieren wollen.

Das ist Realität in der Region Swerdlowsk und in jeder einzelnen Region in Russland.

Der zweite Pfeiler der Macht­vertikale ist die regionale Wirtschafts­elite. Dabei handelt es sich um lokale Oligarchen, Besitzer von Gross­unternehmen, die ihr Vermögen durch Loyalität zum Kreml erwarben. Sie stehen in der Regel in gutem Einvernehmen mit den regionalen Regierungen.

Jewgeni Kuiwaschew, zum Beispiel, ist als Gouverneur von Swerdlowsk gut mit Andrei Kozitsyn befreundet. Kozitsyn ist Mitgründer der UMMC (Ural Mining and Metallurgical Company), eines Unternehmens, das seit 2022 mit Sanktionen belegt ist, weil es Kupfer­pulver für die Herstellung von Sprengstoff produziert.

Ein anderer Geschäfts­mann, Andrei Simanowski, besitzt ein grosses Unternehmen für Haushalts­waren in Jekaterinburg. Er ist dafür bekannt, dass er seine Angestellten zu Gesängen und Tänzen zu Ehren Putins anleitet. Die Unternehmens­kultur in einem solchen Konzern ist extrem patriotisch: Jeden Morgen vor Beginn des Arbeits­tages hören die Mitarbeiterinnen die russische National­hymne, bereiten Pakete für das russische Militär vor und sprechen Gebete für sie.

Das Verstummen der Regionalchefs

Putins Macht ist also tief in den russischen Strukturen verwurzelt. Und doch hat der Russland-Ukraine-Krieg, der offiziell nur Spezial­operation genannt werden darf, die Verhältnisse erschüttert.

Es fällt auf, dass die Gouverneure in der Öffentlichkeit verstummt sind.

Während der Corona-Pandemie war das anders. Damals wurden in jeder Region Büros eingerichtet, um den Kampf gegen das Virus zu koordinieren. Die Gouverneure berichteten Putin regelmässig – natürlich per Videocall –, wie viele Menschen erkrankt waren, wie viele gestorben waren und welche Massnahmen des Social Distancing aktuell ergriffen wurden. Putin übertrug die Verantwortung für diese Entscheidungen auf seine Gouverneure. Sie entschieden, ob Einkaufs­zentren geöffnet blieben oder schliessen mussten. Sie organisierten Impf­zentren, in denen Menschen Impfungen aus russischer Produktion erhalten konnten. Und sie sprachen mit den Medien.

Wo sind all diese Entscheidungs­trägerinnen jetzt? Ihre Ämter haben sie nach wie vor inne, aber sie äussern sich nicht mehr öffentlich. Es ist davon auszugehen, dass sie die Weisung haben, zu schweigen.

Erst recht, wenn politisch unliebsame Ereignisse geschehen. Alexei Nawalny wurde in einer Strafkolonie im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen getötet. Der zuständige Gouverneur, Dmitry Artyukhov, erwähnte die Ereignisse mit keinem Wort.

Schleichende Mobilisierung

Stillgeschwiegen wird auch die Mobilisierung für den Krieg gegen die Ukraine. Im Herbst 2022 hatte Putin das russische Volk schockiert, als er ankündigte, 300’000 Reservisten einziehen zu wollen. Der Kreml beschloss, diesen Fehler nicht zu wiederholen.

Zum einen konzentriert sich die Mobilisierung insbesondere auf struktur­schwache Regionen und auf ethnische Minderheiten, teils werden Menschen aus Waisen­häusern, von der Strasse und aus Gefängnissen an die Front geschickt.

Zum anderen werden lieber schleichend Fakten geschaffen, statt erneut drastische Massnahmen auszurufen. So wurde das Höchst­alter für die Wehrpflicht Anfang Jahr von 27 auf 30 Jahre angehoben. Gleichzeitig wurden die Strafen verschärft, die drohen, wenn man den Wehr­dienst verweigert.

Der russische General­stab verspricht zwar, dass die Rekruten nicht für Kampf­einsätze in der Ukraine heran­gezogen werden. Doch viele landen doch an der Front – und sterben dort im Durchschnitt nach viereinhalb Monaten.

November 2023: In Ovsyanka in der Region Krasnojarsk wird Garipul Kadyrov beerdigt, ein gefallener russischer Soldat. Nanna Heitmann/Magnum Photos

Heute reicht dem Kreml ein Kreuzchen als Gegen­leistung für seine Gaben an die Bevölkerung, morgen will Putin ihr Leben. Aber auch das zählt zu den unangenehmen Gedanken, die viele verdrängen.

Der Zweck der Wahlen selbst, das müssen wir bedenken, liegt nicht darin, ein demokratisches Ritual zu imitieren. Demokratische Werte verhöhnt Putin seit langem offen. Er ist seit 24 Jahren an der Macht und nahm in dieser Zeit nicht ein einziges Mal an einer Wahlkampf­debatte teil. Warum auch?

Es geht Putin auch nicht darum, durch die Wiederwahl an Legitimität gegenüber demokratisch gewählten Politikerinnen zu gewinnen. Wie die Ereignisse der vergangenen Jahre zeigen, pfeift Putin auf die Meinung der westlichen Führer.

Bei den Wahlen in Russland geht es einzig um Folgendes: Sie sind eine Gelegenheit für die Wählerinnen, ihre Loyalität zu Wladimir Putin zu demonstrieren und sich von der Stärke ihres Führers zu überzeugen.

Und um dieses Zeichen der Stärke noch deutlicher ausfallen zu lassen, kommt es in Russland auch regelmässig zu Wahl­fälschungen. Der frühere Nawalny-Mitarbeiter und Wahl­beobachter Alexei Schwarz schildert, wie das Ergebnis manipuliert wird.

Es komme häufig vor, dass ein Mitglied der Wahl­kommission einen ganzen Stapel Stimmzettel in die Wahl­urne werfe, auf denen Wladimir Putin bereits angekreuzt sei. Schwarz sagt: «Nehmen wir an, in einem Wahllokal gibt es 5000 Stimmzettel. Am Wahltag haben sich aber nur 2000 Personen eingefunden, um zu wählen. Laut Gesetz sind die Mitglieder der Wahl­kommissionen verpflichtet, die restlichen 3000 Stimmzettel als nicht ausgezählt zu kennzeichnen und zu vernichten. Stattdessen werfen sie diese mit Stimm­kreuz in die Wahlurne, was durch zahlreiche Videos bestätigt wird.»

Kummer und Macht­losigkeit nach Nawalnys Tod

Während das Ergebnis der Wahlen Ende dieser Woche bereits feststeht, stürzt die Ermordung von Alexei Nawalny kurz zuvor die Reste der Opposition in tiefe Trauer, verstärkt ihr Gefühl der Machtlosigkeit und Vergeblichkeit angesichts jahrelanger erfolgloser Protest­bemühungen gegen das Putin-Regime.

Doch Nawalnys Erbe ist wichtig: Vieles, was wir jetzt über Putins Russland wissen, ist sein Vermächtnis.

Nawalny war nicht nur Gegner von Putin und Kritiker des Kremls. Er war ein Politiker, der vielen Russen die Augen für die Realitäten der Macht­vertikale geöffnet hat. Dank Nawalnys Aufklärungs­arbeit gibt es in Russland eine neue Generation von Politikerinnen, die versteht, wer mit wem befreundet ist, wer für wen Lobby­arbeit betreibt und wer wen bezahlt. So wusste jeder, der sich Nawalnys Videos auf Youtube ansah, dass Wladimir Putin einen eigenen Palast besitzt und der ehemalige Präsident Dmitri Medwedew grossflächige Weinberge.

Viele Menschen interessierten sich in der Folge für die Steuer­erklärungen der lokalen Abgeordneten, beobachteten, wofür die regionalen Beamten ihr Geld ausgaben, und reichten Beschwerden bei der Staats­anwaltschaft ein, wenn ihnen Unregelmässigkeiten auffielen. Russische Aktivistinnen begannen, Wahl­programme aufzustellen und Unterschriften zu sammeln, um an den Regional­wahlen teilzunehmen. Dies waren die ersten Keime des «schönen Russlands der Zukunft», von dem Nawalny träumte.

Vor Nawalny gab es kein wirkliches politisches Leben in den Regionen, sagt Schwarz. «Man konnte der Partei der sogenannten parlamentarischen Opposition beitreten, aber man konnte nichts ändern. Die Möglichkeiten sind aufgrund der engen Verbindungen der parlamentarischen Opposition zum Kreml stark eingeschränkt.»

Dank Nawalnys Büros begannen jedoch politisch Interessierte in den Regionen aufzutauchen, Kontakte zu Journalistinnen und Aktivisten zu knüpfen und sich um eine Kandidatur für lokale Wahlen zu bewerben. Schwarz erzählt: «Wir waren auch an der Überwachung der sozialen Netzwerke von Beamten und ihren Familien beteiligt, überprüften Gerüchte, Steuer­erklärungen und vieles mehr.»

Nachdem Nawalny nicht für die Präsidentschafts­wahlen 2018 zugelassen worden war, schloss er seine Büros in den Regionen nicht, sondern verstärkte im Gegenteil ihre Arbeit. «Nawalny war ein unbeugsamer Politiker», sagt Schwarz. «Wenn er im Büro auf mich zuging, um mir die Hand zu schütteln, hatte ich das Gefühl, dass er mich sofort durchschaut. Er konnte Menschen mit einem Blick einschätzen.»

Januar 2021: Eine Frau hält auf dem Puschkin-Platz im Zentrum Moskaus ein Pro-Nawalny-Plakat hoch. Nanna Heitmann/Magnum Photos
Januar 2021: Massives Polizeiaufgebot an einer Pro-Nawalny-Demonstration. Nanna Heitmann/Magnum Photos

Die Gegenwehr des Systems gegenüber Nawalny und seinen Anhängerinnen war brutal. Die regionalen Büros wurden als extremistisch eingestuft, Nawalnys prominenteste Kollegen auf die Terroristen­liste gesetzt oder inhaftiert. Hunderte von Aktivistinnen verliessen Russland, nur wenige sind noch übrig, die Gegenwehr versuchen. Trotzdem liessen es sich Tausende von Menschen nicht nehmen, ihre Trauer um Nawalny offiziell zu bekunden, indem sie Blumen für ihn ablegten. Doch selbst dieser kleine Akt der Anteilnahme führte zu mehr als hundert Festnahmen.

Jegliche oppositionelle Tätigkeit innerhalb Russlands sei mittlerweile unmöglich geworden, sagt Schwarz, und das nicht einmal nur, weil viele Oppositionelle das Land verlassen haben oder inhaftiert sind. Sondern weil die Behörden alles getan haben, um den Zugang zu Informationen zu unterbinden und dies mit repressiven Gesetzen zu untermauern. «Jede Recherche über einen Beamten ist eine ‹Beleidigung der Behörden›, jede Anfrage über den Krieg in der Ukraine ist eine ‹Diskreditierung der russischen Armee›», sagt Schwarz. «Ich glaube trotzdem, dass die russische Gesellschaft die Aufklärungs­arbeit über die Schäden des Putinismus, die Nawalny leistete, fortsetzen kann.»

Nach dem Mord an Nawalny ist offen, auf welche Zukunft die russische Opposition hoffen darf. Seine Witwe Julia Nawalnaja hat politisch das Richtige getan, als sie ankündigte, dass sie die Arbeit ihres Mannes im Kampf gegen das Putin-Regime fortsetzen werde. Ob sie die Opposition auf Dauer anführen kann, wird die Zeit zeigen. Für den Moment gibt sie allen Kritikerinnen Putins Hoffnung. Die Menschen sind bereit, sich hinter ihr zu versammeln.

In Putins Geiselhaft

Im offiziellen Russland herrscht Schweigen über die Ermordung Nawalnys. Beamte und Abgeordnete sagen nichts dazu. Haben sie Angst? Oder unterstützen sie Putin noch immer?

Das zentrale Problem Russlands ist der Konformismus derjenigen Russinnen, die den Kern von Putins Wählerschaft bilden. Es gibt zu wenige Menschen in Russland, deren Unzufriedenheit gross genug ist, dass sie sich wehren.

Menschen gehen in die Opposition, wenn sie merken, dass es nichts nützt, sich an die Polizei oder an die Staats­anwaltschaft zu wenden oder Briefe an die regionalen Verantwortlichen zu schreiben. Aber nur, wenn ihre Wut und ihre Hoffnung auf Veränderung so stark ist, dass Angst sie nicht mehr zurückhält.

Die Proteste von Ehefrauen und Müttern von Soldaten, die Putin in die Ukraine schickte, zeigen: Es gibt Aufbegehren in Russland. Doch dies geschieht bloss rudimentär und es kann leicht unterdrückt werden vom Kreml.

Es war 2006, als Wladimir Putin erläuterte, wie er die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen polit­philosophisch betrachtet. Er sagte: «Ein Knabe kommt auf den Hof und hat einen Schoko­riegel. Man sagt zu ihm: Gib mir den Schoko­riegel! Doch er umklammert ihn mit seiner verschwitzten kleinen Faust und fragt: Und was gibst du mir?» Mit Russland sei es genauso, so Putins Logik: «Wir wollen auch wissen: Was werdet ihr uns geben?»

18 Jahre später stellte sich heraus, dass der Knabe in seiner verschwitzten kleinen Faust keine Schokolade hält. Sondern die Leiche seines wichtigsten politischen Gegners, den er nicht besiegen konnte. Und die besetzten Gebiete der Ukraine. Jetzt will er wissen, was er dafür bekommen kann.

Zum Autor

Ivan Ruslyannikov wurde 1994 geboren. 2016 schloss er das Journalismus­studium an der Ural Federal University in Jekaterin­burg ab. Seither arbeitete er als freier Journalist für die Zeitungen «Kommersant», «MBK Media», für «Forbes» und «Nowaja Gaseta». Für den Republik-Text «Yandex – ein Techunternehmen kreiert Zombies» erhielt Ruslyannikov gemeinsam mit Republik-Autorin Adrienne Fichter den Zürcher Journalistenpreis 2023.

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!