Unter strenger Beobachtung von höchster Stelle: Der Neubau einer Moschee in Teheran (eine Aufnahme von 2018). Raghu Rai/Magnum Photos

Das Regime hält sich einen Staat

Im Iran haben die Machthaber am Wochenende sogenannte Wahlen abhalten lassen. Der Protest der Bevölkerung äussert sich in einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung. Doch das Regime festigt seine Position mittels aggressiver Aussenpolitik.

Von Gilda Sahebi, 06.03.2024

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Auf dem Video, das Bayan Azimi auf ihrem Handy abspielt, flicht die 27-Jährige ihrem Sohn Sabah die langen hellbraunen Haare zu einem dicken Zopf. Immer wieder streicht sie ihm liebevoll durch die Haare. Sabah ist fünf Jahre alt; sein Vater Pejman Fatehi wurde am 29. Januar 2024 in der Islamischen Republik Iran hingerichtet, gemeinsam mit drei weiteren jungen Männern: Mohsen Mazloum, Vafa Azarbar und Mohammad Faramarzi.

«Mein Mann und die anderen drei waren 19 Monate in Haft. Sie durften die ganze Zeit keinen Besuch empfangen», erzählt mir Bayan Azimi bei einem Treffen in Berlin Ende Februar.

Am Tag vor der Hinrichtung bekamen die Familien mit einem Mal die Nachricht, sie sollen ins Evin-Gefängnis in Teheran kommen: zum ersten und letzten Besuch. Am nächsten Morgen wurden die vier kurdischen Männer hingerichtet. Bayan Azimi sah ihren Mann nicht mehr; sie war zu diesem Zeitpunkt schon mit dem Sohn nach Deutschland geflohen.

Zur Autorin

Gilda Sahebi, im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen, ist Ärztin und Politik­wissenschaftlerin. Sie arbeitet als freie Journalistin mit den Schwer­punkten Antisemitismus und Rassismus, Frauenrechte, Naher Osten und Wissenschaft. Sie schreibt für die TAZ und den «Spiegel» und arbeitet unter anderem für die ARD. 2023 erschien ihr Buch «Unser Schwert ist Liebe. Die feministische Revolte im Iran». Im März 2024 erscheint von ihr, ebenfalls im S. Fischer Verlag, «Wie wir uns Rassismus beibringen. Eine Analyse deutscher Debatten».

«Mein Ehemann sagte seiner Mutter bei diesem letzten Besuch, dass er in den 19 Monaten der Haft niemanden gesehen hat ausser seinem Folter­knecht», erzählt Bayan Azimi. Er habe der Mutter ins Ohr geflüstert, dass alles an seinem Körper unterhalb des Halses «zerstört» sei.

Die Folter hatte nur einen Zweck: die Männer zu dem «Geständnis» zu zwingen, sie hätten im Auftrag des Mossad einen terroristischen Anschlag in Isfahan geplant. Ein zweifelsfrei konstruierter Vorwurf, der dem üblichen Modus Operandi des iranischen Regimes entspricht. Bereits in den 1980er-Jahren, in den Jahren der Konsolidierung der Islamischen Republik, hatte sich die Taktik durchgesetzt, Widerstand in der Bevölkerung durch Exekutionen zu brechen. Besonders häufig sind es die ethnischen Minderheiten, wie Kurden oder Belutschen, die inhaftiert und hingerichtet werden.

Seit den Protesten, die im September 2022 im ganzen Land ausbrachen und monatelang anhielten, geht das iranische Regime mit grosser Gewalt gegen die eigene Bevölkerung vor. Auslöser der Proteste war die Ermordung der 22-jährigen Jina Mahsa Amini durch die sogenannte Sitten­polizei, weil die Studentin ihr Kopftuch nicht den «Sitten» gemäss getragen habe. Überall im Land strömten Menschen auf die Strassen und forderten unter dem Ruf «Frau, Leben, Freiheit» das Ende des Regimes. Seitdem ist die Zahl der Hinrichtungen stark angestiegen.

Roya Boroumand ist Vorsitzende der Menschenrechts­organisation Abdorrahman Boroumand Center mit Sitz in den USA, die die Situation im Iran seit vielen Jahren verfolgt. «Über die Jahre beobachten wir, dass Dissidenten immer dann stärker verfolgt werden und es einen Anstieg an Hinrichtungen gibt, wenn das Regime sich instabil und politisch schwach fühlt», erklärt Boroumand. Die Hinrichtungen erfüllen ihren Zweck: Sie verbreiten Angst. Hinrichtungen sind eines der effektivsten Instrumente der Abschreckung.

Das Mass an Gewalt kann also als Gradmesser für die Instabilität des Regimes verstanden werden. Wut und Widerstand in der Bevölkerung sind in den vergangenen Jahren immer weiter angestiegen.

Das zeigte sich auch im Vorfeld der Parlaments­wahlen am vergangenen Freitag.

«Die Wahlen haben das Regime in eine schwierige Situation gebracht», sagt Fereshte Barati (Name geändert). Die 32-jährige Künstlerin aus Teheran war eine der vielen Frauen, die im Herbst und Winter 2022 auf den Strassen protestierten und ihre Kopftücher abnahmen. Bis heute setzt sie das Kopftuch nicht auf, wenn sie das Haus verlässt, trotz aller Repressionen. Sie berichtet, wie aggressiv der Staat die Menschen zur Teilnahme an den Wahlen aufrief. Eine Rede des Revolutions­führers Ali Khamenei Ende Dezember 2023 ist ihr besonders in Erinnerung geblieben. «Er sprach uns Frauen an und sagte, wir sollten wählen gehen und auch unsere Ehemänner und Kinder zur Wahl mitbringen.»

Daraufhin habe es einen regelrechten Sturm an Reaktionen in den sozialen Netzwerken gegeben. Der Tenor: «Der Typ, der Frauen und Mädchen wegen ihrer Kleidung töten lässt, bettelt uns jetzt an, an den Wahlen teilzunehmen», spottet Barati.

Die iranische Führung versuchte bei dieser Wahl, Frauen gezielt anzusprechen. So zeigte beispielsweise ein Plakat in Isfahan eine Kandidatin für das Parlament. Der Ruf der Protestierenden «Frau, Leben, Freiheit» wurde auf dem Plakat ersetzt mit «Frau, Weisheit, Grossartigkeit», dazu ein grosses Bild der verschleierten Frau.

Der Schleier ist für das iranische Regime ein wichtiges Symbol. Es versucht bis heute vergeblich, die Frauen im Land wieder unter den Hidschab zu zwingen – mit Gesichts­erkennung, mit Überwachung, mit hohen Gefängnis- und Geld­strafen, mit Gesetzes­verschärfungen, mit physischer Gewalt. Nichts davon hat gewirkt. Und so agiert das Regime auch hier mit immer mehr Druck und Gewalt.

«Die Situation für Frauen ist noch schlimmer geworden, als sie es vor den Jina-Protesten war», sagt Mina Khani, Sprecherin der Menschenrechts­organisation Hengaw mit Sitz in Norwegen. «Viele Frauen, die gegen das Regime gekämpft haben, sitzen entweder in den Gefängnissen oder haben das Land verlassen.» Die Machthaber würden ausserdem Druck auf die Familien ausüben. Viele davon, so Khani, seien inzwischen verarmt – «wegen der hohen Geldstrafen, die sie wegen der Verstösse gegen den Verschleierungs­zwang zahlen mussten». Die Stimmung sei selten so nieder­geschlagen gewesen wie in diesen Tagen, berichtet die Menschenrechts­aktivistin.

Die Wahl der Qual

Die Abstimmung am 1. März war die erste Wahl seit den landesweiten Protesten unter der Losung «Frau, Leben, Freiheit». Gewählt wurde dabei nicht nur das Parlament, sondern auch der Expertenrat – ein erzkonservatives 88-köpfiges Gremium, das für die Ernennung des Revolutions­führers zuständig ist, des geistlichen und politischen Oberhaupts des Landes. Diese Position hat seit 35 Jahren der 84-jährige Ali Khamenei inne und wird sie bis zu seinem Tod bekleiden. Die Mitglieder des Rats wurden nun für acht Jahre gewählt – dass sie den nächsten Revolutions­führer ernennen werden, ist wahrscheinlich.

Für die Neubesetzung der 290 Sitze im Parlament kann von einer echten «Wahl» nicht die Rede sein. Denn «Wahlen» in der Islamischen Republik haben mit demokratischen Prinzipien nichts zu tun.

Jede Person, die für das Parlament kandidieren will, muss zugelassen werden; mehr als 12’000 durften dieses Mal gar nicht erst antreten. Nach demselben Prinzip war die Abstimmung für den Expertenrat organisiert: Nicht einmal der ehemalige Staats­präsident Hassan Rohani, der nach 20-jähriger Amtszeit im Expertenrat erneut für das Gremium kandidieren wollte, wurde zugelassen. Selbst ein derart loyaler Mann des Systems war dem Regime offenbar nicht loyal genug. Seine Sperre legt nahe, dass mit der jetzigen Abstimmung bereits die Weichen dafür gestellt wurden, dass Khameneis künftiger Nachfolger mindestens so extremistisch sein wird wie er selbst.

Das Regime hatte ausserdem im Vorfeld klargemacht, wie wichtig die «Wahlen» für die Selbst­legitimierung des Regimes sind. «Wahlen sind die tragende Säule der Islamischen Republik», schrieb Revolutions­führer Khamenei auf X. Sie seien der Weg, «Probleme zu lösen», so der oberste Machthaber.

Fereshte Barati kann über solche Aussagen nur lachen.

Das Regime habe monatelang versucht, die Menschen zu den Wahl­urnen zu bringen, erzählt sie. Es seien die erklärten Feinde der Islamischen Republik, die USA und Israel, die die Menschen vom Wählen abhalten wollten, so die Botschaft der iranischen Machthaber und der staatlich kontrollierten Medien.

«Überall in den Städten hingen Plakate, dass wir wählen gehen sollten», erzählt Fereshte Barati. Eine der Botschaften darauf fand sie besonders vielsagend: «Dort stand: Wer nicht wählt, stimmt für die aktuelle Lage im Land», so Barati. Das zeige, wie unsicher das Regime geworden sei: «Die islamische Regierung hat noch nie zugegeben, dass die Situation im Land nicht gut ist.» In der Propaganda der iranischen Führung war die Islamische Republik stets ein freies, demokratisches und erfolgreiches Land.

Mit der Realität hatte das ohnehin nie etwas zu tun. Doch fällt es dem Regime zunehmend schwer, das zu verstecken. Weite Teile der Bevölkerung leiden nicht nur unter den politischen Repressionen, sondern auch unter den wirtschaftlichen Härten. Sogar die staatliche Nachrichten­agentur Ilna meldet, dass 26 Millionen Menschen im Land von Armut betroffen sind. Die wahre Anzahl liegt wahrscheinlich noch darüber.

Die Inflation ist hoch, die Löhne sind niedrig, einen Mittelstand gibt es kaum noch. Auch eine gute Ausbildung schützt nicht vor Armut. Fereshte Barati hat ihren Doktor in Mathematik gemacht und einige Jahre an der Universität gearbeitet; als sie ihre Stelle verlor, ging sie zu einem privaten Unternehmen, das vor kurzem Insolvenz anmeldete. Nun hat sie weder Ersparnisse, noch kann sie ihre laufenden Ausgaben decken. «Ich muss eine andere Wohnung finden, weil ich mir die Miete nicht mehr leisten kann.»

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Machthaber demonstrieren wollen, die Menschen hätten trotz aller Schwierigkeiten Vertrauen in das System. Die Beteiligung bei den Wahlen sei besser gewesen als bei den vergangenen Parlaments­wahlen, verkündete dann auch ein Sprecher des Wächterrats am Samstag, einen Tag nach dem Urnengang. Damit behauptete das Regime konkret, mindestens 40 Prozent der Bevölkerung hätten gewählt. Schon das wäre ein historisch niedriger Wert.

Aber selbst diese Zahl wird von oppositionellen Stimmen im Land angezweifelt, und sie steht in grossem Kontrast zu vielen Videos, die Menschen auf Social Media teilten: Die Aufnahmen zeigten vollkommen leere Wahl­lokale. Beobachter des Exil-Nachrichten­senders Iran International schätzten die Beteiligung in manchen Städten sogar auf lediglich 10 Prozent.

Eines ist sicher: Ein Grossteil der Bevölkerung betrachtet es als Verrat, an Wahlen in der Islamischen Republik teilzunehmen – gerade weil es den Macht­habern so wichtig ist, eine hohe Wahl­beteiligung vorweisen zu können. Diese Legitimation wollen viele Menschen dem Staat nicht mehr erteilen. Vor allem für das Parlament wollen viele Bürgerinnen ihre Stimmen nicht mehr hergeben.

Spricht man mit Menschen im Iran, dann erwähnen viele den November 2022, als eine Mehrheit des Parlaments sich dafür aussprach, die Tausenden von Menschen, die im Zuge der Proteste inhaftiert wurden, mit der schlimmst­möglichen Anklage zu verfolgen, nämlich «Krieg gegen Gott». Und sie damit der Hinrichtung auszusetzen. «Das werden wir nie vergessen», sagt Fereshte Barati.

Ins Parlament sind mit der Wahl vom Freitag vor allem Abgeordnete eingezogen, die regimetreu sind und die kaum jemand kennt. Erwähnenswert ist, dass der amtierende Präsident Ebrahim Raisi in den Expertenrat «gewählt» wurde – ein strammer Gefolgs­mann von Revolutions­führer Khamenei. Es wird ideologisch also weitergehen wie bisher.

Der Iran als Akteur im Nahen Osten

Die iranische Führung will derweil nach der Wahl schnell wieder zum business as usual zurückkehren.

Schon kurz nach der Abstimmung richteten die staatlichen Nachrichten­agenturen ihr Augenmerk wieder auf ein Thema, das der Islamischen Republik viel lieber ist: der Krieg in Gaza. Die Macht­haber lenken durch ihr aussen­politisches Handeln von der Instabilität im Inneren ab, sie schliessen die eigenen Reihen, sie demonstrieren Stärke. Das aussen­politische Gewicht in der gesamten Region ist für Teheran wie eine Lebens­versicherung gegen innen­politische Schwäche.

Die grösste Gefahr für die Machthaber droht ihnen von innen. Je weniger die Welt aber ihre Augen auf den Iran richtet, desto weiter kann das Regime im Inneren die Gewalt­spirale hoch­schrauben und diese Gefahr bannen.

Um das Regime in Teheran zu verstehen, muss man vor allem eines wissen: Die Staats­raison der Islamischen Republik lautet: Macht­erhalt und Bereicherung der Führungs­riege samt ihrer Gefolgs­leute. Einfach gesagt: Das iranische Regime hält sich einen Staat und eine Bevölkerung allein zum Zweck, die Macht zu sichern und sich dadurch zu bereichern.

Das Land ist dafür bestens geeignet: Es ist reich an Boden­schätzen, an Erdgas und Erdöl, aber auch an Landwirtschaft und Industrie. Seit der Macht­übernahme im Jahr 1979 hat die Führungs­riege Strukturen geschaffen, um die Ausbeutung des Landes und damit der Bevölkerung zu perfektionieren. Die iranischen Machthaber gehören zu den reichsten Menschen der Welt. Allein das Vermögen des Revolutions­führers Khamenei wird auf mehr als 100 Milliarden Dollar geschätzt.

Graffiti auf der Mauer um die verlassene US-Botschaft (2018). Raghu Rai/Magnum Photos

Innen- wie aussen­politisch setzt das Regime dabei auf ein einziges Mittel: Gewalt.

Verantwortlich für deren Ausübung sind die Revolutions­garden (IRGC). Sie sind die zentrale Macht im Staat und unterstehen Khamenei. Die IRGC haben sowohl die Wirtschaft des Landes als auch die militärischen Strukturen in der Hand. Im Inneren organisieren sie ihre Gewalt­herrschaft mittels ihrer Milizen, in der Nahost­region mittels der Quds-Brigaden. Dabei handelt es sich um militärische Einheiten, die ihnen nahestehende Gruppen im Ausland unterstützen, trainieren und ausrüsten: die Hizbollah im Libanon, die Huthis im Jemen, die Hamas in Gaza und eine Reihe schiitischer Milizen im Irak und in Syrien.

Gemeinsam mit der Islamischen Republik bilden all diese Gruppen die von Teheran ausgerufene «Achse des Widerstands». So hat sich die iranische Führung über Jahrzehnte einen Ring an Verbündeten geschaffen, die der Absicherung der eigenen Macht dienen.

Seit dem 7. Oktober, dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel, haben Angriffe iranischer Proxy-Gruppen auf US-Militär­basen im Irak und in Syrien signifikant zugenommen. Die US-amerikanische Nachrichten­agentur AP spricht von einem «dramatischen Anstieg». Allein im Irak wurden US-Stütz­punkte mehr als 60 Mal durch «vom Iran gestützte bewaffnete Gruppen» angegriffen, heisst es in einem Bericht des US-Kongresses.

Die schiitische Huthi-Miliz im Jemen schiesst derweil Raketen und Drohnen auf Fracht­schiffe im Roten Meer und versetzt damit den Welt­handel in Aufregung. Die libanesische Hizbollah greift Israel mit Raketen an und droht damit, diese Angriffe jederzeit ausweiten zu können, sodass eine ständige Kriegs­gefahr herrscht. Die Hamas schliesslich setzt ihren Kampf gegen Israel fort und scheint trotz der katastrophalen Versorgungs­lage in Gaza über nicht enden wollende militärische Ressourcen zu verfügen.

Das Regime in Teheran lässt westliche Staaten dabei bewusst im Dunkeln darüber, wie gross sein Einfluss auf das Agieren der verschiedenen Gruppen tatsächlich ist. Die Machthaber senden dadurch Signale in zwei Richtungen: ein Warnsignal an die westliche Staaten­gemeinschaft, vor allem an die USA. Und ein Signal an die muslimischen Nachbar­staaten.

Für die muslimische Welt präsentiert sich der Iran als mächtige Regional­macht, als wichtigster Verteidiger der palästinensischen Sache und als der einzige relevante Gegenspieler zu den grossen Feinden USA und Israel.

Die Rechte der Palästinenser sind den Machthabern allerdings vollkommen egal – Menschen­leben zählen für sie nicht, ob im Iran oder anderswo. Wäre die iranische Führung tatsächlich am Wohl der Palästinenserinnen interessiert, würde sie nicht die Hamas mit militärischer Ausrüstung im Wert von Millionen von Dollars ausrüsten, sondern die verarmte Bevölkerung unterstützen und sich für eine Lösung des Konflikts einsetzen.

Das Narrativ, für die palästinensische Befreiung einzutreten, ist aber das Kernstück der iranischen Propaganda. Auf diese Strategie setzt das Regime ebenfalls seit Bestehen der Islamischen Republik. Schon in den 1980er-Jahren mischte sich das Regime über die schiitische Hizbollah in den israelisch-arabischen Konflikt ein. «Für Teheran war es entscheidend, in diesem Spiel ein Akteur zu sein, um sein Selbstbild als weltweiter Verteidiger der Muslime aufrecht­zuerhalten», schrieb der Nahost-Forscher Daniel L. Byman in einer Analyse der Brookings Institution aus dem Jahr 2006 über die Anfänge der Islamischen Republik.

In der Bevölkerung und inzwischen auch bei manchen Gefolgs­leuten des Regimes findet diese Propaganda aber immer weniger Anklang. Seit Jahren hört man bei Protesten und Streiks der Bevölkerung Forderungen, das Regime solle das viele Geld nicht ins Ausland nach Syrien, Irak oder zu den Palästinensern schicken, sondern sich um die eigenen Menschen kümmern. Erst Mitte Februar kam es zu einem bemerkenswerten Ereignis. Der Kleriker Mohammad-Taghi Akbarnejad, der dem System stets loyal gedient hat, wurde in Qom festgenommen.

Qom ist das geistliche Zentrum des Staats – hier schaut die Führung besonders genau hin. Auflehnungen gegen das Regime haben in Qom grösseres Gewicht als anderswo im Land. Und Akbarnejad hatte Khamenei direkt kritisiert.

Laut dem Exil-Medium «Independent Persian» hatte er gesagt, Khamenei sei der «Führer Jemens und Palästinas, nicht des Iran». Womit Akbarnejad auf die katastrophale wirtschaftliche, aber auch politische und soziale Lage verwies.

Und Akbarnejad wurde noch deutlicher: Er prangerte an, Khamenei und seine Gefolgs­leute würden sich mit einem Kreis von «Speichel­leckern» umgeben. Wohlgemerkt: Es handelt sich dabei um Aussagen eines Klerikers. Kein Wunder also, dass der «Independent Persian» daraufhin vermutete, das Regime könnte zunehmend besorgt sein, dass «Opposition und Proteste sich ausbreiten, insbesondere im religiösen Zentrum der Islamischen Republik, und dass das Regime auch loyale Unterstützer immer schneller verliert».

Noch aber garantiert die «Achse des Widerstands» dem Regime die Existenz. Als schiitischer Staat kauft sich die Islamische Republik inmitten einer Region der Sunniten Hegemonie und Sicherheit, indem es die vielen Gruppen von Hizbollah bis Hamas mit Milliarden von Dollars, mit militärischem Training und militärischer Ausrüstung ausstattet. In der Logik des Regimes ist es also nichts anderes als folgerichtig, dass diese Ausgaben der Führung wichtiger sind als das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung.

Das heisst aber auch: Ohne die Islamische Republik gäbe es aller Wahrscheinlichkeit nach keine derart schlagkräftige Hamas im Gaza­streifen, keine Raketen der Huthi-Rebellen und nicht die Hizbollah im Libanon.

Die einzigen Akteure, die der iranischen Führung aus ihrer Sicht den Weg zu dauerhafter Hegemonie (und damit dem Selbst­erhalt) versperren: die USA und ihr wichtigster Verbündeter in der Region, Israel. Das Verhältnis zum Rivalen Saudi­arabien hat sich hingegen etwas entspannt, nachdem die beiden Staaten im vergangenen Jahr ihre diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen hatten und gemeinsam den Brics+-Staaten beigetreten waren.

Zwar besteht die Rivalität weiterhin, aber die ideologischen Hauptgegner sind für die iranische Führung die USA und Israel. Hier sieht Teheran eine Chance. «Das erklärte Ziel der Islamischen Republik besteht, nicht nur im Irak, sondern in der gesamten Region, darin, die Vereinigten Staaten aus der Region zu vertreiben», sagt der Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, Hamidreza Azizi, in einem Gespräch mit «Deutschlandfunk Kultur».

Botschaft an den Westen

Die zentrale Botschaft der iranischen Führung an den Westen und besonders die USA lautet entsprechend: Ihr werdet in unserer Region verlieren, politisch, materiell, militärisch. Irak, Afghanistan, Syrien – der Weg der jüngsten Geschichte des sogenannten Nahen und Mittleren Ostens ist gepflastert mit US-amerikanischen Niederlagen und Verlusten. Auch aus diesem Grund hatte der ehemalige US-Präsident Barack Obama schon im Jahr 2011 den berühmten «pivot to Asia» angekündigt – die USA sollten sich stärker dem asiatischen Raum widmen, anstatt politische und militärische Macht in nicht zu gewinnende Kriege im Nahen und Mittleren Osten zu stecken.

Irans Machthaber wissen, dass die existenzielle Gefahr nicht von aussen droht; Zeiten, in denen US-amerikanische Politiker auf die Melodie von «Barbara Ann» «Bomb Iran» sangen, sind lange vorbei. Ein direkter Krieg mit den USA (und selbst mit dem zweiten erklärten Erzfeind Israel) ist unwahrscheinlich. Die USA wollen ihn aus politischen Gründen nicht, das iranische Regime nicht, weil es einen solchen Krieg kaum überleben würde. Und so werden Irans Führer die Repressionen im Land fortführen oder gar intensivieren.

Denn trotz aller Gewalt wird der Widerstand der Menschen im Iran weitergehen. Was die Menschen am meisten nieder­drückt, ist die fehlende internationale Unterstützung, sagt die Menschenrechts­aktivistin Mina Khani: «Die Menschen im Iran sagen, wir haben so viele Opfer gebracht, um der Welt zu zeigen, dass wir dieses Regime nicht mehr wollen. Aber sie haben sich nicht bewegt.» Ob Deutschland, die EU oder die USA: Sie machen weiter Geschäfte mit der iranischen Führung, wirtschaftliche, politische, diplomatische.

Die von der EU verhängten Sanktionen treffen vor allem die Bevölkerung im Iran; gezielte Sanktionen gegen die Mächtigen gibt es kaum. In der EU und in Deutschland schreckt man davor zurück, die iranische Führung zu sehr unter Druck zu setzen. Zudem gibt es in der EU traditionell gute Beziehungen zum Regime in Teheran. All das bedeutet: Die Menschenrechts­verbrechen haben für die Machthaber keine gravierenden Konsequenzen.

Genau deswegen will Bayan Azimi den Kampf ihres hingerichteten Ehemannes weiterführen. In Deutschland spricht sie mit Politikerinnen und berichtet von den Gräuel­taten des iranischen Regimes. Sie fordert ein Umdenken der europäischen Politik.

Als sie mir bei dem Treffen in Berlin das Video zeigt, auf dem sie ihrem kleinen Sohn Sabah die Haare flicht, erzählt sie, dass sein Vater die langen Haare seines Sohns liebte. Nachdem sie und ihr Sohn nach Deutschland geflohen waren, telefonierten sie jeden Tag mit Pejman, Sabahs Vater. «Sabah hat seinem Vater am Telefon immer zum Spass damit gedroht, er würde sich nun die Haare schneiden lassen, und mein Mann antwortete lachend, er solle es bloss nicht wagen.» Dann wurde Pejman Fatehi verhaftet.

Verzweifelter Protest: Sabah mit einem Bild seines zum Tode verurteilten Vaters Pejman Fatehi. X/Twitter

Das Video, auf dem das Kind mit seinen langen geflochtenen Haaren zu sehen ist, wurde wenige Stunden nach der Hinrichtung des Vaters aufgenommen. Noch am gleichen Tag liess Bayan ihrem Sohn die Haare abschneiden. «Sabah fragte mich, ob Papa nicht traurig sein wird, dass seine Haare jetzt kurz sind.» «Mach dir keine Gedanken», habe sie ihm geantwortet.

Der Fünfjährige weiss bis heute nicht, dass sein Vater nicht mehr lebt. Eines Tages, sagt Bayan, wird sie ihm die ganze Geschichte erzählen. Dann wird sie auch erwähnen, dass es der letzte Wunsch seines Vaters war, ein Foto seines Sohnes zu sehen.

Die Regime­kräfte, sagt Bayan, hätten ihrem Mann versprochen, ihm das Foto zu zeigen, wenn er vor dem Galgen steht. Sie glaube nicht, sagt Bayan mit Tränen in den Augen, dass sie ihm diesen letzten Wunsch erfüllt haben. Herausfinden wird sie es nie.

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