«Ich war auf allen Protesten in Teheran seit 2009 auf der Strasse, und ausgerechnet den hier, den wichtigsten für uns Frauen, verpasse ich»: Sophie Cheriki lebt zurzeit in Österreich.

Frauen gegen das Mullah-Regime

Nach dem Tod von Mahsa Jina Amini erschüttern Proteste den Iran. Was im Ausland überrascht, ist im Land selbst schon lange klar: Die nächste Revolution kommt von den Frauen.

Von Solmaz Khorsand (Text) und Paul Kranzler (Bilder), 07.10.2022

Vorgelesen von Egon Fässler
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Sophie Cheriki sollte jetzt auf Teherans Strassen sein, mitten im Getümmel. Sie sollte sich Parolen aus dem Leib brüllen, ihr Kopf­tuch anzünden und dazu tanzen. Sie sollte ihr Handy zu Hause lassen, aus Angst geortet zu werden. Sie sollte auf der Polizei­wache bangen, ob sie je wieder raus­kommt, wie ihre Kolleginnen und Freunde, die 24 Stunden lang festgehalten wurden und wider Erwarten dann doch freikamen. Sie sollte vor Teherans Elite­universität Sharif stehen, sollte dort gemeinsam mit anderen Regime­gegnerinnen versuchen, die Polizisten und Milizen davon abzuhalten, Studierende einzukesseln und festzunehmen. Auch Cheriki sollte sich fürchten vor der «eisernen Faust der Islamischen Republik», die bereits wild um sich schlägt.

Kurz: Cheriki sollte im Iran sein – aber sie ist es nicht. Stattdessen sitzt sie auf der kleinen Terrasse des Kirchen­wirts in Bad Kreuzen, einer 2300-Seelen-Gemeinde mit einem Flüchtlings­quartier mitten in der öster­reichischen Pampa. Und das macht ihr ein schlechtes Gewissen. Seit knapp einem Monat lebt die 31-jährige Journalistin und Kinderbuch­autorin im Exil und kann es gar nicht fassen. «Ich war auf allen Protesten in Teheran seit 2009 auf der Strasse und ausgerechnet den hier, den wichtigsten für uns Frauen, verpasse ich», sagt sie traurig.

Cheriki ist Protest­veteranin, allein ihr Name beweise das, scherzt sie. Der Nachname Cheriki bedeutet auf Persisch nämlich nichts Geringeres als «Guerilla». Das habe sie schon oft bei iranischen Behörden in Bedrängnis gebracht, weil diese darin einen Aufruf zum Angriff auf die Islamische Republik vermutet haben. Sie bittet darum, dass für diesen Artikel als Vorname ihr Spitz­name Sophie verwendet wird, so nennen sie inzwischen alle.

Sophie Cheriki war eines der «Girls of Enghelab Street», eines der Mädchen der Revolutions­strasse. So nannte man die Iranerinnen, die in den Jahren 2017 und 2018 auf Teherans Strassen in Einzel­aktionen das Kopf­tuch abnahmen, auf Sitz­bänke, Statuen­sockel oder Elektrizitäts­kästen kletterten und es in aller Öffentlichkeit wie eine Friedens­fahne schwenkten. Die Mädchen der Revolutions­strasse wurden in den darauf­folgenden Jahren zum Vorbild für weitere Kampagnen, in denen Frauen mit erhobenem und unverhülltem Kopf ihren Wider­stand gegen die Islamische Republik ausdrückten.

Wegen ein paar Haarsträhnen

Cheriki gehört damit zur feministischen Vorhut der aktuellen Protest­bewegung im Iran, die sich nach dem Tod von Mahsa Jina Amini formiert hat. Die Geschichte der 22-jährigen Kurdin aus der west­iranischen Stadt Saqquez kennt mittlerweile die ganze Welt. Wie sie am 13. September mit ihrem Bruder Kiarash nach Teheran kam, knapp eine Woche bevor sie ihr Mikrobiologie­studium beginnen wollte. Wie sie am U-Bahn-Aufgang der Station Shahid Haqqani von der Sitten­polizei gefasst wurde, weil ihr Kopf­tuch angeblich ein paar Haar­strähnen nicht bedeckte. Wie ihr Bruder die Beamten anflehte, seine grosse Schwester nicht mitzunehmen, sie darauf hinwies, dass sie doch gar keine «Kinder Teherans» seien und daher die Gepflogen­heiten in der Haupt­stadt gar nicht kannten. Wie Augen­zeugen von Schlägen gegen ihren Kopf berichteten, Medien ihnen zugespielte CTs veröffentlichten, die beweisen sollten, dass Amini an einer Hirn­blutung gestorben ist, nicht – wie gemäss der Polizei­version – an einem Herz­infarkt.

Jeder kennt diese Geschichte mittlerweile. Und jede Iranerin kennt sie auswendig. Jedes Detail hat sich ins Gedächtnis gebrannt. Getötet wegen ein paar sichtbarer Haar­strähnen. Amini, deren kurdischer Ruf­name Jina «Leben» bedeutet, war keine Aktivistin, Journalistin oder Menschenrechts­anwältin. Keines von den Mädchen aus dem reichen Norden Teherans, die mit ihrer «aufreizenden» Kleidung und ihrem Make-up «provozieren», sondern eine unauffällige und unpolitische 22-jährige Kurdin aus der Provinz. Wenn es sogar eine wie sie treffen konnte, wen dann nicht?

Die Fassungslosig­keit über ihren Tod wich sehr schnell der Wut, die sich derzeit mit noch nie da gewesener Intensität und Ausdauer gegen das Regime entlädt, das längst mit scharfer Munition in die Menge schiessen lässt, prügelt, tötet und inhaftiert. So wie es das immer tut, wenn im Iran protestiert wird, im Moment sogar noch viel mehr als sonst, weil sich mit gedrosseltem Internet noch besser morden und einsperren lässt.

Diese Erfahrung hat man bereits 2019 gemacht, als Irans Macht­haber das Internet das erste Mal abgedreht haben – und in der digitalen Dunkel­heit die Bevölkerung angriffen, ohne dass eine lästige Welt­öffentlichkeit, deren Interesse ohnehin nicht lange währt, wenn sich kein baldiger Regime­wechsel abzeichnet, davon Notiz genommen hätte.

Bislang hat noch nie ein Protest das erreicht, was er gefordert hatte: den System­sturz. Nicht als die Studierenden 1999 auf die Strasse gingen, weil eine liberale Zeitung verboten wurde; nicht 2009, als die Menschen wegen Wahlbetrug demonstrierten; nicht 2017, als die Menschen sich Grund­nahrungs­mittel nicht mehr leisten konnten; nicht 2019, als die Regierung die Benzin­preise erhöhte und die ärmere Bevölkerung in Massen auf die Strasse trieb. Jedes Mal knüppelte das Regime die Proteste noch brutaler nieder als die Male davor. Übrig blieben nur Tote, Inhaftierte und die Verbitterung, es wieder nicht geschafft zu haben.

Revolution im Vorstadium

Diesmal aber ist etwas anders. Dieser Protest ist anders, sagen alle. Und nach 43 Jahren Geschichte von Protesten gegen die Islamische Republik mag das was heissen. Die Welt wird Zeugin einer feministischen Bewegung, die sich in der Trauer und der Wut über den Tod einer jungen Frau, einer Kurdin und damit Angehörigen einer unterdrückten Minderheit, gefunden hat. Unter der Parole «Frau, Leben, Freiheit» wird quer durch alle Bevölkerungs­schichten landes­weit nichts weniger als das Ende der Islamischen Republik gefordert. Auf Persisch wie Kurdisch.

«Zum ersten Mal sind bei einem Protest Frauen­rechte gekoppelt an die Forderungen nach Freiheit und Demokratie», erklärt die Soziologie­professorin Azadeh Kian von der Université Paris Cité. «Zum ersten Mal sagen die Demonstrierenden: Wir können nicht über die Zukunft des Iran sprechen, wenn die Frauen nicht die gleichen Rechte haben.»

Einige wagen gar, von einer Revolution im Vorstadium zu träumen. Als würde sich endlich ein Kreis schliessen und als würden die ersten Opfer der Islamischen Republik diese nun in die Knie zwingen. Nach 43 Jahren Entrechtung, Erniedrigung und Unterdrückung sind es die Frauen, die es geschafft haben, die Nation im Kampf gegen ihre Geisel­nehmer zu einen. «Schreibt der Iran gerade feministische Welt­geschichte?», fragen Kommentatorinnen im Ausland. Ja, das tut er, auch wenn es nicht ins Bild der einen oder anderen Welt­anschauung hinein­passen mag, dass ausgerechnet Frauen aus dem Nahen Osten allen vormachen, wie einem tödlichen Patriarchat zu begegnen ist.

Im Iran überrascht das niemanden.

Schon immer seien die Iranerinnen wehrhaft gewesen, erzählt Kian. Sie sind Meisterinnen des zivilen Ungehorsams, mal subtiler, mal direkter. Die ersten Proteste von Frauen gehen zurück auf das Jahr 1891, als der damalige König Nāser al-Din Shāh den Briten eine Monopol­konzession für Herstellung, Kauf und Verkauf von Tabak erteilte und grosse Demonstrationen der einheimischen Kaufleute auslöste. Auch die Frauen schlossen sich an, selbst im königlichen Harem, wo sie sich weigerten, dem Herrscher die Wasser­pfeife vorzubereiten und zu reichen.

Aufruhr auf den Strassen: Frauen führen die Proteste an, wie hier am 28. September in Karadsch, im Westen von Teheran. Imago/Zuma
Ruhe im Parlament: Präsident Ebrahim Raisi erklärt, dass die Unruhen im Land aus den USA, aus Israel und generell dem Westen gesteuert seien. Imago/Zuma

In den Jahren und Jahrzehnten danach waren die Frauen wesentlicher Teil einer jeden politischen Bewegung und auch der Revolutionen, sei es die konstitutionelle ab 1905 – die erste ihrer Art im Nahen Osten – oder die Islamische von 1979, die sie allerdings verraten sollte. Ohne die Frauen wäre Letztere niemals möglich gewesen, doch ohne die Unterdrückung der Frauen wäre die Islamische Republik nie als solche konsolidiert worden. Azadeh Kian sagt: «Die Gender­ungerechtigkeit ist das Fundament des islamischen Regimes.»

In allen Bereichen wurden die Frauen zu Menschen zweiter Klasse degradiert, im Namen des Islam und ganz offiziell. Ihre Aussagen als Zeuginnen vor Gericht sind nur halb so viel wert wie die eines Mannes, die Ausübung und das Studium vieler Berufe ist ihnen verboten, das Singen in der Öffentlichkeit untersagt. Es ist kein Wunder, dass Frauen in allen Protesten seit 1979 gegen das Regime aufbegehrt haben. Und jetzt an vorderster Front stehen. Eine Revolution in den Start­löchern wegen ein paar Haar­strähnen, die nun einmal mehr sind als ein paar Haar­strähnen.

«Das Regime hat den Schleier sakralisiert»

Ab der ersten Klasse Volks­schule muss jedes Mädchen den Hidschab tragen, die züchtige Bedeckung von Haut und Haaren. «Es ist die effektivste Methode, die halbe Bevölkerung unter Kontrolle zu halten», sagt Sophie Cheriki bei einem Spazier­gang unweit ihrer Flüchtlings­unterkunft in Bad Kreuzen. Sie weiss noch, wie sehr sie deswegen als kleines Mädchen die Schule gehasst hatte: dieses verdammte Kopf­tuch, das bis zur Brust reichte und so eng vernäht war, dass es nicht verrutschen konnte, dazu den dunklen langen Mantel, mit dem es sich so schlecht in der Pause im Hof herum­laufen liess. Sie lacht, wenn sie sich daran erinnert, wie dreckig ihr Kopf­tuch immer war, weil dauernd irgend­welche Essens­krümel daran klebten und sie Saft darauf verschüttete. Es machte ihr in frühen Jahren bewusst, was es bedeutete, im Iran ein Mädchen zu sein.

«Das Regime hat den Schleier sakralisiert», sagt Soziologin Kian. «Die Macht­haber sagen: Er repräsentiert das Blut der Märtyrer. Daher sind die Frauen, die sich wehren, ihn zu tragen, als Regime­gegnerinnen zu betrachten.» 74 Peitschen­hiebe oder bis zu zwei Monate Gefängnis lautet die Strafe für alle Frauen, die das Kopf­tuch in der Öffentlichkeit nicht tragen. Dabei bleibt es oft nicht. Wer wegen «schlechten Hidschabs» vor Gericht landet, wird zumeist angeklagt, eine Prostituierte zu sein oder eine Agentin des Auslands, die Propaganda unters Volk bringe. Das Straf­mass kann sich dann schnell auf ein paar Jahre, gar Jahr­zehnte erhöhen.

Der Hidschab-Zwang gehört zu den Säulen der Islamischen Republik. Bricht er weg, ist das System Geschichte. Daher könnten die Bilder und Videos von Frauen, die ihre Kopf­tücher ins Feuer werfen, auf offener Strasse mit unbedecktem Kopf protestieren, in Restaurants ohne Kopf­tuch in Ruhe frühstücken und sich dabei fotografieren lassen, politischer und aufwieglerischer für die Islamische Republik nicht sein. Und ermächtigender für die Frauen – und die Männer, die sich zum ersten Mal in dieser Eindeutigkeit an ihre Seite stellen.

Unmittelbar nach der Revolution waren sie weniger solidarisch. Es kommt nicht von ungefähr, dass am 8. März 1979 die erste Demonstration gegen die Islamische Republik von Frauen angeführt wurde. Mehr als 100’000 sind damals gegen den Verschleierungs­zwang auf die Strasse gegangen, die meisten ohne Kopf­tuch, einige aber auch mit, weil sie darauf bestanden, dass der Hidschab eine freiwillige Angelegenheit sei, die man den Frauen nicht aufzwingen dürfe. Sie unterstützten ihre unverschleierten Geschlechts­genossinnen. Die Männer nicht. Selbst die Säkularsten unter ihnen. Tragt den Fetzen halt, hiess es nur, wir müssen erst einmal diese Islamische Republik auf stabile Beine stellen! Heute kämpfen und sterben sie an der Seite ihrer Frauen, Freundinnen, Mütter, Schwestern und Töchter.

Die Mädchen der Revolutions­strasse

Angefeuert hat Sophie Cheriki die Protestierenden aus ihrem Exil. Sie hat Freunden und Fremden Nachrichten geschrieben und mit Herzchen und Kampffaust-Emojis auf Insta-Storys reagiert, solange diese noch durch­kamen. «Schau dir nur dieses Selbst­bewusstsein an», sagt sie, als sie die Videos einer jungen Frau zeigt, die eine Sitten­polizistin anbrüllt, es nicht zu wagen, sie anzufassen. «Ich hatte das damals nicht.»

Mit damals meint Cheriki den 30. Januar 2018. Sie weiss noch, wie kalt es an diesem Dienstag­vormittag war, am Vortag hatte es geschneit, Teherans Strassen waren voller Matsch. Die Journalistin hatte bei der Arbeit gemeldet, dass sie ein wenig später in die Redaktion kommen würde. Sie habe noch etwas zu erledigen. Was sie zu erledigen hatte, sollte sie bis zum Abend auf allen Kanälen zu einer Berühmtheit machen. An viel erinnert sie sich nicht mehr, nur daran, dass sie ein Nerven­wrack war, zitternd und nicht voller Mut wie die Frauen heute, dass sie auf eine Sitz­bank mitten in der Revolutions­strasse stieg mit einem Stock in der Hand, um den ihr grau-weisses Kopftuch gewickelt war. Auf einem Video ist sie zu sehen, eine junge Frau mit offenem dunkel­blauem Winter­mantel, schulterlangen, hellbraun gefärbten Haaren und einer grossen Hipster­brille, die etwas unsicher, aber unbeirrbar ihre kleine Flagge schwenkt.

Fünf Minuten ist Cheriki da oben gestanden. Inspiriert von Vida Movahed, dem ersten «Mädchen der Revolutions­strasse», das am 27. Dezember 2017 mitten in den Protesten rund um die hohen Lebensmittel­preise auf einen Verteiler­kasten geklettert war und stumm ihre Fahne geschwenkt hatte. Das Bild von der stoischen Frau mit den langen braunen Haaren wurde zu einem Symbol des Wider­stands im Iran. Movahed wurde eingesperrt für ihre Aktion, viele ihrer Nach­ahmerinnen ebenso. Cheriki nicht, sie hatte Glück, sagt sie. Man habe sie damals «nur» beschattet, verfolgt, ihre Wohnung durchsucht und sie schliesslich vorgeladen, um sie aufzufordern, alle ihre sozialen Kanäle zu schliessen, die ohnehin davor gehackt worden waren.

Ihre Familie und Freunde machten ihr damals Vorwürfe. Wozu dieses Risiko für eine Geste? Weshalb sein Leben aufs Spiel setzen für fünf Minuten? Welcher Teufel hat sie geritten, sie, die schon zahlreiche Vermerke wegen Verstössen gegen die Hidschab-Pflicht hatte, die von der Universität geworfen worden war, nur mit viel Zuspruch ihrer Professoren das Soziologie­studium beenden konnte und die spätestens seit den Protesten 2009, während deren sie sich politisierte, eine Akte beim Regime hatte? «Ich habe meine Tat nie bereut», sagt sie. «Es war die beste Art, um gegen das Regime zu protestieren, weil es die Islamische Republik mitten ins Herz trifft.»

Mit Rasierklingen gegen die «Huren»

Die Kontrolle über den weiblichen Körper gehört zum Kern der Ideologie des Regimes und wurde seit Anbeginn der Islamischen Revolution mit voller Härte durchgesetzt. Die Schrecken der ersten Jahre stecken vielen älteren Frauen noch in den Knochen, als para­militärische Einheiten und vollverschleierte Sitten­polizistinnen im Tschador und in Handschuhen Jagd auf sie machten. Sie wurden als «Huren» beschimpft – wie es auch heute noch geschieht –, und man reichte ihnen Taschen­tücher, in denen manchmal Rasier­klingen versteckt waren, mit denen sich die Frauen Wangen und Lippen aufschnitten, wenn sie der Aufforderung nachkamen, ihr Make-up abzuwischen. Die Gewalt der Sitten­polizei gegen die Iranerinnen hat eine lange Tradition und wurde im Laufe der vergangenen 43 Jahre mal stärker, mal schwächer eingesetzt, um von anderen politischen und wirtschaftlichen Problemen abzulenken. Unter Hard­linern hatte die Gewalt eine andere Qualität, ganz besonders unter dem ehemaligen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad.

In seiner Amtszeit (2005 bis 2013) wurden nicht nur viele Frauen­organisationen verboten, Publikationen eingestampft und Frauen­aktivistinnen verfolgt, sondern auch die Sitten­polizei, die «Gashte Ershad», neu aufgestellt und ihre Präsenz auf den Strassen im ganzen Land erhöht. Jeder kennt die weissen Vans mit der grünen Aufschrift «Gashte Ershad». Zweimal ist Sophie Cheriki in so einem in Teheran gesessen. Pro Wagen sind es meistens drei Frauen und zwei Männer, die in grossen Menschen­mengen Jagd auf «Huren» machen. Die Polizistinnen übernehmen meist die Beschimpfungen, die Männer zerren und stossen ihre Opfer wie Vieh in die Autos.

Danach kommen die Frauen und Mädchen auf das Haupt­revier in der Vozara-Strasse, wo sich die Haft­zentren der Sitten­polizei befinden. Sie werden registriert, wie Kriminelle fotografiert, die Handys werden ihnen abgenommen, und sie können – je nach Belieben – stunden­lang festgehalten werden. Und das ist das Best-Case-Szenario. «Ich habe mich nie gewehrt oder zurückgeredet bei der Einvernahme», sagt Cheriki. «Wer weiss, was dann passiert wäre.»

Das Perfide sei, dass es dem Regime mit der Sitten­polizei nicht nur gelingt, einzuschüchtern, sondern auch einen Keil zwischen die Familien­mitglieder zu treiben, sagt Cheriki. So werden als Erstes die Eltern, Geschwister und Ehe­männer angerufen und aufgefordert, ihren Töchtern, Schwestern und Frauen anständige Kleidung zu bringen und sie abzuholen. Das werde ganz gezielt gemacht, denn es führt zu einer doppelten Demütigung: Zuerst werden die Frauen von den Beamten beschimpft, und dann müssen sie sich ein zweites Mal rechtfertigen vor der eigenen Familie, die ihnen Vorhaltungen macht, weil sie es wagen, «in so einem Aufzug» unter­wegs zu sein. Der Hidschab-Zwang ist ein Hebel der staatlichen Kontrolle, der bis in die Familien reicht.

Big Mullah is watching you

Ahmadinejads Nachfolger Hassan Rohani, der bis 2021 regierte, versprach noch in seinem Wahl­kampf, die Sitten­polizei abzuschaffen, Ministerinnen in sein Kabinett zu holen, gar ein Frauen­ministerium zu schaffen und insgesamt die Lage der Frauen zu verbessern. Die Iranerinnen wollten ihm glauben und gaben ihm seine Stimme. Umsonst. Rohani setzte keines seiner Versprechen um, die Repressionen nahmen ihren gewohnten Gang.

Unter dem seit August 2021 amtierenden Präsidenten Ebrahim Raisi, der aufgrund seiner Rolle bei den Massen­exekutionen in den 1980er-Jahren im Volksmund «Ayatollah der Massen­hinrichtungen» genannt wird, haben sich die Massnahmen gegen die Frauen verschärft. Statt sich auf wirtschaftliche, ökologische und politische Krisen zu konzentrieren – eine Inflation, die derzeit bei 50 Prozent liegt, eine Bevölkerung von etwa 85 Millionen Menschen, von denen 33 Millionen unter der Armuts­grenze leben, eine bedrohliche Wasser­knappheit –, lenken Ebrahim Raisis Regierung und das Parlament, das seit den Wahlen 2020 nur mehr aus Ultra-Hardlinern besteht, die gesamte Aufmerksamkeit auf das soft target, die Frauen.

Staats­unternehmen wie die National­bank verbieten es ihren weiblichen Angestellten, High Heels und Strumpf­hosen zu tragen, Direktoren dürfen nicht länger Verwaltungs­assistentinnen beschäftigen, Staats­anwälte in einzelnen Städten plädieren dafür, Frauen bei Verstössen gegen die Kleider­ordnung den Zugang zu öffentlichen Verkehrs­mitteln zu untersagen. Im August hat die Regierung angekündigt, biometrische Daten wie Gesichts­erkennung zur Überwachung der Hidschab-Pflicht im öffentlichen Raum einsetzen zu wollen. Damit erreicht die Kontrolle über den Körper der Iranerinnen ein neues Level. Big Mullah is watching you.

Auch zeigt das Regime mittler­weile keine Scheu mehr, die Gewalt gegen Frauen in aller Form zu zelebrieren. Anfang September wurden die zwei LGBTQ-Aktivistinnen Zahra Seddiqi Hamedani und Elham Choubdar unter der Anklage «Verdorbenheit auf Erden» zum Tode verurteilt. «Das ist das erste Mal, dass eine Frau im Iran zum Tod verurteilt wird aufgrund ihrer sexuellen Orientierung», sagt die iranische LGBTQ-Aktivistin Shadi Amin. Bislang war dieses Schicksal nur Männern vorbehalten.

Obwohl das Regime im Fall von Mahsa Jina Amini vertuschen möchte, was hinter verschlossenen Türen auf der Wache der Sitten­polizei passiert ist, hat es mittlerweile kein Problem mehr damit, die Staats­gewalt gegen Frauen in all ihren Schattierungen selbst im Fernsehen zu zeigen. Das beweist der Fall der Schrift­stellerin Sepideh Rashno. Die 28-Jährige war im Juli inhaftiert worden, nachdem sie im Bus von einer streng verschleierten Frau aufgefordert worden war, sich an die Hidschab-Pflicht zu halten. In Videos ist zu sehen, wie sie Rashno droht, sie bei den Revolutions­garden anzuzeigen, wenn sie nicht pariere. Gesagt, getan. 47 Tage lang wurde Rashno eingesperrt und erst gegen eine Kaution von mehr als 27’000 Euro wieder freigelassen. Dann musste sie im Fernsehen Reue demonstrieren und sich bei der Frau entschuldigen, inklusive Umarmung. Zu sehen ist eine sichtlich von Folter gezeichnete Rashno.

Im Iran ist man diese Art von Geständnissen gewohnt, doch dieses Mal war etwas anders. Das Regime machte sich nicht einmal die Mühe, zu verschleiern, unter welch brutalen Umständen Rashnos erzwungener Auftritt zustande gekommen ist. Es war eine Warnung an alle Iranerinnen, schreibt die renommierte Politik­wissenschaftlerin Fatemeh Sadegehi jüngst in einem Artikel: «Seht, wie stark wir sind! Wir können dich zähmen. Der Zweck des Zeigens der Folter­spuren, die sorgfältig und absichtlich Sepidehs Gesicht verpasst wurden, bestand darin, andere Frauen davor zu warnen, was sie erwartet, wenn sie nicht gehorchen.»

Die Angst vor einem zweiten Syrien

Sepideh Rashno ist mit dem Leben davon­gekommen, Mahsa Jina Amini nicht. War das die eine zu viel, deren Tod die Islamische Republik nun plötzlich in ihren Grund­festen zum Erzittern bringt? Ist es tatsächlich bald so weit? Erleben wir einen Berliner-Mauerfall-Moment, wie Fatemeh Sadeghi schreibt?

Noch ist es zu früh für Prognosen dieser Art. Aber der Wider­stand organisiert sich auf unterschiedlichen Ebenen, nicht nur auf der Strasse. So haben schon die ersten Streiks statt­gefunden, etwa jener der Lehrerschaft und Geschäfts­treibenden, so haben Händler in einzelnen Regionen wie Kurdistan ihre Läden geschlossen. Auch die Arbeiter der Öl­industrie haben gedroht, zu streiken, wenn das Regime die Gewalt gegen die Protestierenden nicht einstellt. Sollte das tatsächlich passieren, wird die Islamische Republik an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen: ihrer finanziellen Haupt­schlagader.

Sophie Cheriki hofft, eines Tages in den Iran zurückkehren zu können – wenn Frauen sich anziehen können, wie sie wollen.

«Vielleicht erleben wir bald eine Revolution», sagt Sophie Cheriki leise. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht beim nächsten oder übernächsten Mal. Aber etwas hat sich verändert in den Menschen, beobachtet sie: Sie fürchten sich nicht mehr. Die junge Generation Z hat alle angesteckt mit ihrer Wut und mit ihrer Zuversicht.

Jahrelang beherrschte die Iraner die Angst vor einem zweiten Syrien, wenn vom System­sturz die Rede war. Klar werden wir unter­drückt, hiess es dann, aber wir sind nicht Syrien, wir haben keine Terror­milizen, keinen Bürger­krieg, kein absolutes Chaos.

Cheriki steht auf der Platt­form eines Jagd­sitzes unweit ihrer Unterkunft. Sie nennt ihn liebevoll «dieses coole Baum­haus». Sie mag den Ausblick von hier oben. Es ist surreal idyllisch an diesen Herbst­tagen, sie schirmt ihre Augen mit den Händen gegen die starke Sonne ab.

Das Exil sei ihr irgendwie passiert, meint sie. Eigentlich wollte sie nur für eine Schreib­residenz im Sommer nach Prag reisen. Doch dann hat man ihr am Flug­hafen in Teheran mitgeteilt, dass sie ein Ausreise­verbot habe und eine Vorladung des Gerichts vorliege. Sie fragte ihre Anwalts­freunde um Rat. «Geh bloss nicht vor Gericht, wenn du das machst, landest du im Gefängnis», prophezeiten sie ihr. Jeder Social-Media-Post, jeder Text, den sie als Journalistin für ausländische Medien unter Pseudonym geschrieben hat, jede noch so kleine Aktion – alles war in ihrer dicken Akte vermerkt. Zwischen drei und sieben Jahre würde sie das hinter Gitter bringen, hat man ihr gesagt. Cheriki packte die Koffer, kontaktierte die richtigen Leute und floh über Istanbul und Warschau nach Prag und später Österreich, wo Verwandte leben.

Jetzt steht sie ganz am Anfang eines lang­wierigen Asyl­verfahrens. Doch daran verschwendet sie derzeit kaum Gedanken – mit diesen ist sie im Iran. «Diese Bewegung ist lebendiger als jede andere, die wir bisher hatten», sagt sie. «Sie macht mir Hoffnung.» Cheriki zeigt auf ihr Handy­display. Es zeigt die Distanz zwischen ihrer Wohnung in Teheran und der Flüchtlings­unterkunft in Bad Kreuzen: 4010 Kilometer von Tür zu Tür. Jeden Tag checkt sie die Flüge nach Teheran. Jeden Tag wartet sie auf die Nachricht, auf die so viele im Exil warten: «Wir haben gesiegt. Komm nach Hause.»

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