«Das Urteil zeigt, wie wichtig der EGMR für die Schweiz ist»

Der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte (EGMR) rügt die Schweiz wegen Racial Profiling. Er zwingt uns, die Augen zu öffnen, sagt der Stadtzürcher Ombuds­mann Pierre Heusser.

Ein Interview von Brigitte Hürlimann, 01.03.2024

Vorgelesen von Danny Exnar
0:00 / 20:58

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Pierre Heusser, sieben Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschen­rechte (EGMR) stellen einstimmig fest, die Schweiz habe mehrere Grundrechte verletzt. Sie heissen eine Beschwerde von Mohamed Wa Baile gut, der vor neun Jahren im Zürcher Haupt­bahnhof Opfer einer rassistischen Polizei­kontrolle wurde. Wird das Urteil Auswirkungen haben?
Pierre Heusser:
Wegschauen, wie das in den letzten Jahren geschah, ist seit diesem Entscheid nicht mehr möglich. Der Gerichtshof hat zuvor schon zweimal Racial-Profiling-Fälle behandelt, ist dort aber bei den Verfahrens­fragen stehen geblieben. Im Fall Wa Baile gegen die Schweiz hat die Strassburger Instanz in einem Leiturteil auch materiell entschieden. Das ist neu und bemerkenswert.

Was bedeutet «materiell entscheiden»?
Der EGMR bestätigt inhaltlich, dass es im Fall von Mohamed Wa Baile zu einer Diskriminierung kam. Bei ihm wurden allerdings auch Verfahrens­rechte verletzt – weil die Schweizer Gerichte und Behörden nicht geprüft haben, ob Racial Profiling vorliegt. Nur schon das tangiert Grundrechte, die in der Bundes­verfassung und in der Europäischen Menschenrechts­konvention (EMRK) festgelegt sind. Das stellt der Gerichtshof fest, und er hätte eigentlich mit seiner Begründung aufhören können. Es folgen aber noch inhaltliche Ausführungen zur Diskriminierungs­frage.

Und was sagt der Gerichtshof?
Es liege klarerweise eine Diskriminierung vor. Die europäischen Richter kommen aufgrund einer Art von Beweislast­umkehr zu diesem Resultat.

Wie funktioniert das?
Da muss ich ausholen …

Tun Sie das.
Ein Mann wird am Zürcher Haupt­bahnhof kontrolliert, und im Polizei­rapport steht, dass es sich um einen Dunkel­häutigen handelt. Das war den Polizisten also bewusst. Der Mann ficht die Kontrolle an und erklärt, das Vorgehen der Polizei sei nicht korrekt gewesen, weil nur er kontrolliert worden sei. In diesem Punkt stimmt ihm das Zürcher Verwaltungs­gericht zu. Es sagt, die Kontrolle sei nicht rechtmässig gewesen, es fehle an einer genügenden gesetzlichen Grundlage. Dazu muss man wissen: Jede Polizei­kontrolle bedeutet einen Eingriff in die Grundrechte. Und das ist eben nur erlaubt, wenn es eine genügende Gesetzes­grundlage gibt. Den Beweis dafür muss der Staat erbringen. Es liegt nicht an den Betroffenen, zu beweisen, dass es keinen Grund für die Kontrolle gab.

Das galt doch schon vor diesem neuesten Entscheid aus Strassburg.
Ja, das gilt, seit es die Bundes­verfassung gibt, dort sind die Regeln für Grundrechts­eingriffe festgelegt. Eigentlich ist nichts neu, was in diesem Urteil steht, all das sagen zahlreiche NGOs, die zuständigen Uno- und Europarats­gremien, aber auch unsere Eidgenössische Kommission gegen Rassismus schon lange. All diese Befunde, Berichte und Empfehlungen hatten bisher keine Wirkung. Der EGMR hat der Schweiz nun die Augen geöffnet, zwangsweise.

Zur Person

zVg

Der in Genf geborene Pierre Heusser ist promovierter Jurist und Rechts­anwalt. Der Mittfünfziger leitet seit dem August 2020 die Ombudsstelle der Stadt Zürich. Zuvor war Heusser Leiter des Rechts­dienstes der Aids-Hilfe Schweiz und danach zwanzig Jahre lang als selbstständiger Anwalt tätig; mit einem Schwer­punkt im Sozialhilfe­recht. Seine Dissertation befasst sich mit dem «Stimm- und Wahlrecht von Ausländerinnen und Ausländern».

Wo findet man die Gründe für eine polizeiliche Kontrolle?
Meist in den Polizei­gesetzen. Aber eben, es muss ein klarer Grund sein, etwa ein Tatverdacht oder eine Fahndung. Schon das Verwaltungs­gericht sagt, im Fall Wa Baile habe die Stadt­polizei keinen genügenden Kontroll­grund benennen können. So hat in Bezug auf diese Rüge ein Gericht – das Zürcher Verwaltungs­gericht – entschieden. Doch dann folgt zwingend die nächste Frage. Wenn es keinen Kontroll­grund gab, war es wegen der Hautfarbe von Herrn Wa Baile eine diskriminierende Handlung? Hier haben sich die Schweizer Behörden aus der Verantwortung gezogen.

Wie ist das möglich?
Das Verwaltungs­gericht liess die Frage offen, weil die Kontrolle ja bereits als unrecht­mässig beurteilt wurde. Die Richterinnen hätten aber auch die zusätzliche Rüge wegen Diskriminierung prüfen müssen. Das Urteil des Verwaltungs­gerichts wurde zwar ans Bundes­gericht weiter­gezogen, aber das höchste Schweizer Gericht trat auf die Beschwerde nicht einmal ein. Dazu sagt der EGMR in aller Deutlichkeit: Stopp.

Und weiter?
Wenn jemand erklärt, er sei diskriminierend behandelt worden, macht er eine Grundrechts­verletzung geltend. Das muss von den Schweizer Gerichten angeschaut werden, was in diesem Fall nicht geschah – weder beim Verwaltungs­gericht noch bei den Strafgerichten, die sich mit der Busse gegen Herrn Wa Baile zu befassen hatten, noch beim Bundes­gericht. Dem Betroffenen wurde es verunmöglicht, den Vorwurf, er sei wegen seiner Hautfarbe diskriminiert worden, vor einem Schweizer Gericht zu klären. Und es geht noch weiter. Der EGMR äussert sich grundsätzlich dazu, ob die Institutionen in der Schweiz überhaupt in der Lage sind, in solchen Fällen eine wirksame Beschwerde zu ermöglichen.

Sind sie das?
Der Gerichtshof erkennt einen grossen Handlungs­bedarf. Es ist bedauerlich, dass der Schritt nach Strassburg nötig war. Das Recht auf eine wirksame Beschwerde ist nicht nur in der EMRK, sondern auch in Artikel 29a unserer Bundes­verfassung festgehalten. Das Urteil zeigt, wie wichtig der EGMR für die Schweiz ist, solange wir kein Verfassungs­gericht haben. Die Strassburger Instanz weist auf blinde Flecke in Verwaltung und Justiz hin. Und sie zeigt, wie wichtig es ist, dass wir NGOs haben, die solche strategischen Prozesse führen. Herr Wa Baile hätte wohl nicht allein durch­prozessieren können, fast zehn Jahre lang. Er tat dies mit Unterstützung der Allianz gegen Racial Profiling und anderer Menschen­rechts­organisationen.

Insgesamt neun hiesige Gerichts­instanzen haben sich mit dem Fall Wa Baile befasst. Jede einzelne von ihnen hätte die Möglichkeit gehabt, sich mit der Diskriminierung auseinander­zusetzen.
Sie hätten nicht nur die Möglichkeit gehabt, sie hätten es tun müssen. Das ist eine weitere Lehre aus dem EGMR-Entscheid: Wenn die Strafrechts­behörde jemanden bestrafen will, der sich gegen eine Kontrolle gewehrt hat, müsste sie zuallererst als prozessuale Vorfrage klären, ob die Kontrolle überhaupt zulässig war. Falls nicht, liegen womöglich Rechtfertigungs­gründe vor. Denn es ist erlaubt, sich gegen eine unzulässige, diskriminierende Kontrolle zu wehren.

Mohamed Wa Baile wurde wegen Nicht­befolgens einer polizeilichen Anordnung gebüsst. Im Strafverfahren gegen ihn begründete der Polizist die Kontrolle damit, der Mann habe seinen Blick abgewandt. Deshalb wurde er, der Dunkel­häutige, als Einziger aus dem Pendler­strom heraus­gepickt. Sämtliche Schweizer Gerichte akzeptierten den «abgewandten Blick» als ausreichenden Grund für die Personen­kontrolle.
Ich hatte einen Fall bei uns auf der Ombuds­stelle, da ging es um einen Mann, der ebenfalls rügte, unrechtmässig kontrolliert worden zu sein. Als Kontroll­grund wurde ihm mitgeteilt, er habe dem Polizisten zu lange in die Augen geschaut …

Das klingt wie ein schlechter Witz.
Wer zu wenig lange in die Augen eines Polizisten schaut, macht sich verdächtig, wer zu lange hinschaut, ebenfalls. Man müsste also genau wissen, wie viele Sekunden Blick­kontakt unverdächtig sind.

Was folgern Sie daraus?
Beide Beispiele zeigen, wie schwammig, unklar und einzelfall­bezogen solche Kontroll­gründe manchmal sind. Der EGMR sagt, für polizeiliche Personen­kontrollen müsse ein objektivierbarer Grund vorliegen, der nach­vollziehbar ist. Den Blick abzuwenden oder zu lange hinzuschauen, reicht nicht. Aber auch das ist keine neue Erkenntnis. Viele Menschen wenden den Blick ab, wenn sie die Polizei kreuzen. Oder weichen aus. Wer hat nicht ein bisschen Herzklopfen, wenn er die Polizei sieht oder am Zoll vorbeifährt? Allein daraus einen Kontroll­grund abzuleiten, wird in Zukunft nicht mehr möglich sein. Das gilt generell für allgemeine Kontroll­gründe wie Lebens­erfahrung, Bauch­gefühl oder auffälliges Verhalten. Mit solchen Allgemein­plätzen kann die Polizei künftig keine Diskriminierungs­vorwürfe mehr entkräften.

Was hat der Gerichtshof darüber hinaus festgehalten?
Dass es Racial Profiling gibt, auch in der Schweiz. Das wird von gewissen Kreisen und Polizei­korps immer noch in Abrede gestellt. Die Strassburger Richter weisen auf die Möglichkeit hin, statistische Daten zu erheben, was schon längst hätte passieren müssen; vor allem, wenn behauptet wird, es gebe kein Racial Profiling oder nur in Einzel­fällen. Der Gerichtshof erwähnt ausserdem, dass Racial Profiling explizit in einem Gesetz geregelt werden könnte. Heute wird das über den Diskriminierungs­artikel abgehandelt.

Wie geht es nun konkret weiter?
Es braucht unabhängige Beschwerde­stellen. Das sieht man auch im Fall Wilson A., der ebenfalls Racial Profiling geltend macht. Bei ihm musste eine Staats­anwältin zweimal gerichtlich dazu gezwungen werden, Anklage gegen die Polizisten zu erheben. Das kommt bei Straffällen gegen Polizisten immer wieder vor. Was erstaunlich ist, gilt doch der Grundsatz «in dubio pro duriore»: Die Staats­anwaltschaft hat im Zweifels­fall anzuklagen. Es braucht aber schon vorher, auf der Ebene der Polizei, unabhängige Untersuchungs­stellen. Im angel­sächsischen Raum gibt es spezialisierte Abteilungen für «internal affairs». Diese sind von der übrigen Polizei abgekoppelt. Das kennen wir in der Schweiz nicht in dieser Form. Bei uns müssen Kollegen gegen Kollegen ermitteln. Bei den Staats­anwältinnen haben wir das gleiche Problem, denn sie arbeiten eng mit den Polizisten zusammen.

Anders als die Polizisten, die Staats­anwältinnen und die Schweizer Gerichte glaubt der Gerichtshof Mohamed Wa Baile, dass er Opfer von Racial Profiling wurde. Warum eigentlich?
Herr Wa Baile konnte glaubhaft machen, dass für die Kontrolle am Haupt­bahnhof nur er aus der Pendler­masse gepickt wurde. Basierend auf den vorliegenden Studien und Publikationen sagt der EGMR, es gebe eine starke Vermutung dafür, dass das ein diskriminierender Akt war. Diese «starke Vermutung» führt zu einer Umkehr der Beweislast. Das ist entscheidend: Es liegt an den Schweizer Behörden, zu beweisen, dass die Kontrolle nicht diskriminierend war. Das kann nur der Staat, sonst niemand. Ab sofort muss eine betroffene Person nur noch nachweisen, dass sie als einzige heraus­gepickt wurde. Dann liegt es am Staat, zu belegen, dass es dafür einen sachlichen, objektiven Grund gab.

Will der EGMR mit seinem Urteil ein Zeichen setzen?
Das ist definitiv so. Der Gerichtshof hat den Fall als «impact case» bezeichnet. Das sind Fälle, die eine Auswirkung – einen impact – auf die Weiter­entwicklung der Rechts­praxis haben sollen. In allen Mitglieds­staaten der EMRK, nicht nur in der Schweiz. Deshalb ist der Entscheid fast ein Drehbuch, wie man künftig mit Racial Profiling umzugehen hat. Der EGMR wollte ganz offen­sichtlich einen Pflock einschlagen.

Bleibt zu hoffen, dass das Urteil nicht in den Schub­laden verstaubt. Oder ausschliesslich im akademischen Elfenbein­turm diskutiert wird.
Das schliesse ich aus. Ein Urteil aus Strassburg zu ignorieren, wäre eine Verletzung der Europäischen Menschen­rechts­konvention. Jedes Gericht, aber auch ich als Ombuds­mann, muss gestützt auf diesen Entscheid verlangen, dass die Polizei glaubwürdig und nach­vollziehbar erklärt, warum es zu einer Personen­kontrolle kam. Falls ihr das nicht gelingt, muss ich ab sofort von einem diskriminierenden Racial Profiling ausgehen. Die Polizei hat ihre Praxis anzupassen, sonst wird es reihenweise zu weiteren Klagen kommen – die bereits von den unteren Gerichten gutgeheissen werden müssen.

Die Zürcher Stadtpolizei sagt, sie habe in den letzten Jahren einiges getan in puncto Rassismus und Racial Profiling.
Das stimmt, sie hat zum Beispiel eine App eingeführt, in der die Polizistinnen die Kontroll­gründe eintragen müssen. Aber dort gibt es immer noch die Möglichkeit, einen allgemeinen Grund anzuklicken, etwa «Verhalten und Erscheinen einer Person» oder «objektive Erfahrungs­werte». Das wird ab jetzt nicht mehr genügen. Wer solche Gründe anführen will, muss zusätzlich darlegen, was genau gemeint ist. Überhaupt müssen sich die Polizisten schon vor der Kontrolle fragen, ob es wirklich einen Grund gibt, der genügt. Das berühmte «Bauchgefühl» reicht nicht mehr aus. Doch die Polizei braucht für ihre Arbeit konkrete Anweisungen und Vorgaben. Das liegt nicht in ihrer Verantwortung. Dafür ist die Politik zuständig.

Der Gerichtshof erwähnt die mangelhafte Polizei­ausbildung beim Thema Racial Profiling.
Solange es Fälle von Racial Profiling gibt, ist die Ausbildung wohl verbesserungs­würdig. Ich war schon bei solchen Ausbildungs­blöcken dabei und beeindruckt, wie offen diskutiert wird; auch zu den Themen cop culture oder cop silence. Das alles ist kein Tabu. Aber: Es wird in der Ausbildung thematisiert, und dann kommt der Arbeits­alltag. Ich sehe in erster Linie Nachhol­bedarf auf der institutionell-strukturellen Ebene. Wir müssen der Polizei einen Rahmen setzen, in dem sie sich bewegen kann.

Was ist hier gefordert?
Es braucht klare Anweisungen für die Polizei­arbeit, aber auch eine Fehler­kultur. Fehler werden immer passieren, selbst wenn alle Forderungen umgesetzt sind. Es muss möglich sein, dass ein Polizist sagt: «Sie haben recht, das hätte ich nicht machen sollen» – und sich beim Betroffenen entschuldigt. Damit können allenfalls Verfahren verhindert werden. Wenn ich von institutionell-strukturellen Änderungen rede, dann meine ich Anpassungen bei den Gesetzen, die Daten­erhebung – und eben die unabhängigen Stellen zur Behandlung von Beschwerden.

Das setzt aber einen politischen Willen voraus.
Ja und nein. Es bräuchte eher einen politischen Willen, den EGMR-Entscheid zu missachten. Das ist der grosse Unterschied. Bis zu diesem Urteil waren es politische Forderungen, die folgenlos blieben – jetzt gibt es einen gerichtlichen Entscheid eines Gerichtshofs, dem wir unterstehen, bei dem wir uns verpflichtet haben, die Urteile umzusetzen. Von daher: Es braucht nur den Willen, sich an die EMRK zu halten. Das ist mehr als politisch, sondern menschen­rechtlich gefordert. Jetzt müssen wir handeln.

Das sagt die Zürcher Ombuds­stelle seit fünfzehn Jahren.
Stimmt, meine Vorgängerin, Claudia Kaufmann, hat den Begriff des Racial Profilings erstmals 2009 in ihrem Jahres­bericht erwähnt, eher in einem Nebensatz und mit Hinweis auf einen Bericht von Amnesty International Schweiz, der 2007 publiziert wurde. Nur schon diese Neben­bemerkung führte zu heftigen Reaktionen und zu Widerspruch, vor allem aus der Polizei. Ein Jahr später widmete sich Kaufmann schwerpunkt­mässig dem Thema und schrieb zusätzlich einen Fachartikel unter dem Titel «Racial und Ethnic Profiling: Ein bei uns unbekanntes Phänomen?».

Mit wenig Erfolg.
Es wurde jeweils erwidert, es gebe doch einen runden Tisch gegen Rassismus, eine App für die Polizei, eine ausgebaute Schulung und klare Regeln in den Dienst­anweisungen, dass Rassismus nicht geduldet werde. Das stimmt alles, und alles ist wichtig. Aber es sind Massnahmen auf der individuellen Ebene, auf der Ebene der Umsetzung. Das ist gut, aber es genügt nicht. Es braucht Anpassungen auf der institutionellen Ebene. Institutioneller Rassismus verlangt nach institutionellen Massnahmen.

Wie konnte man das fünfzehn Jahre lang ignorieren?
Das müssten Sie eine Psychologin fragen.

Sie haben keine Erklärung dafür?
Es ist halt einfacher, bei schwierigen und heiklen Themen wegzuschauen. Claudia Kaufmann beginnt ihren Fachbeitrag zu Racial Profiling mit dem Kindervers «Es geht ein böses Ding herum, das kann man gar nicht sehen …» Rassismus ist eine Diskriminierungs­form, die von vielen Leuten immer noch grundsätzlich verleugnet wird. «Ich bin doch kein Rassist», heisst es oft. Viele verstehen nicht, was Alltags­rassismus, was struktureller Rassismus ist. Bei den Behörden, den Gerichten oder der Polizei war der Wille nicht da, das Thema anzuschauen. Jetzt ist es keine Frage des Willens mehr. Jetzt muss man. Ein anderes Thema ist, dass das Polizei­korps nicht sehr divers ist.

Wie meinen Sie das?
Das Korps widerspiegelt nicht die multi­kulturelle Realität in der Stadt Zürich. Viele Stadtpolizisten wohnen ausserdem nicht in der Stadt, was ich verstehen kann. Sie wollen nicht in der Freizeit ständig jenen Leuten begegnen, mit denen sie es beruflich zu tun haben. Manche wohnen auf dem Land und erleben die Stadt vor allem als ein Ort von Problemen – sie kommen für die Arbeit in die Stadt und werden hier mit lauter Schwierigkeiten konfrontiert. Der Wille ist zwar da, mehr Frauen und mehr Menschen mit Migrations­hintergrund für die Polizei zu gewinnen. Aber es ist schwierig, entsprechende Leute zu finden. Die Situation wurde nicht einfacher, seit der Kantonsrat entschieden hat, dass Personen mit C-Ausweis nicht mehr zur Polizei­ausbildung zugelassen werden, wie das von der Stadtpolizei geplant war. Und was in anderen Kantonen problemlos funktioniert.

Zusammengefasst: Was sind für Sie die wichtigsten Aussagen im Urteil Wa Baile gegen die Schweiz?
Es sind drei Kernaussagen: Der Entscheid zeigt, wie wichtig der EGMR für die Schweiz ist – es ist kein Ruhmes­blatt für die Schweizer Gerichte, dass der Fall bis nach Strassburg musste. Ich bin der Meinung, sie hätten erkennen müssen, um was es geht. Es war alles überdeutlich vorhanden. Zweitens zeigt das Urteil, wie wichtig die NGOs sind, die solche Prozesse führen. Und drittens: Hier geht es nicht «nur» um die Europäische Menschenrechts­konvention, sondern um Schweizer Recht, das verletzt wurde. Alle drei EMRK-Artikel, die gerügt wurden, gibt es auch in der Schweizer Bundes­verfassung.

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