«The fight goes on»
Die jüngste Prozessrunde im Fall von Wilson A. bringt das erwartete Ergebnis: die Bestätigung des Freispruchs für den dritten angeklagten Polizisten. Racial Profiling sei nicht Thema dieses Verfahrens, betonen die Zürcher Oberrichter. Wirklich?
Von Brigitte Hürlimann, 21.02.2024
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Racial Profiling bezeichnet alle Polizeimassnahmen, die dazu führen, dass Personengruppen willkürlich oder unverhältnismässig behandelt werden, weil sie ethnisch-kulturell, religiös oder aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe als ‹fremd› wahrgenommen werden oder als nicht gleichberechtigt gelten.
So definiert die Allianz gegen Racial Profiling die strukturelle und institutionelle Diskriminierung von Menschen.
Diese Praxis ist in vielen Ländern, darunter auch in der Schweiz, weitverbreitet und wird von Menschenrechtsorganisationen als menschenrechtswidrig kritisiert. Die Praxis des Racial Profilings kann zu psychischen Schäden bei den Betroffenen führen. So können sie sich gedemütigt, verunsichert und bedroht fühlen. In einigen Fällen kann Racial Profiling sogar zur Gefahr für die Betroffenen werden.
Beide Organisationen verfolgen seit bald 15 Jahren den Fall von Wilson A., der im Oktober 2009 zusammen mit einem Freund in Zürich in eine Personenkontrolle geriet, die ausartete. Der heute 50-jährige Wilson A. stammt aus Nigeria. Und er sagt, der Einsatz der drei Stadtpolizisten sei nicht nur unverhältnismässig, brutal und gewalttätig gewesen – sondern aus rein rassistischen Gründen erfolgt. Bis heute will ihm das kein Gericht abnehmen.
Wilson A. sagt nach der Urteilsverkündung von letzter Woche: «The fight goes on.»
Ort: Obergericht, Zürich
Zeit: 15. Februar 2024, 10 Uhr
Fall-Nr.: SB180444
Thema: Gefährdung des Lebens, Amtsmissbrauch
Ja, dieser Entscheid kommt erwartungsgemäss. Und doch ist die Konsternation gross im Gerichtssaal, in den vollgefüllten Zuschauerreihen. Der Gerichtsvorsitzende Stefan Volken fordert zum wiederholten Male Ruhe und Ordnung ein. Sonst lasse er den Saal räumen.
Das Polizeiaufgebot an diesem Strafprozess ist beeindruckend. Mehrere Kastenwagen rund ums Zürcher Obergericht markieren schon Stunden vor Verhandlungsbeginn Präsenz. Im Gebäude drinnen: bewaffnete Uniformierte, die jede Besucherin und deren Taschen vor dem Einlass kontrollieren und während des Prozesses das Geschehen im Saal scharf im Auge behalten.
Man könnte meinen, hier stehe ein Mafia-Mitglied vor Gericht, ein Mehrfachmörder oder sonst eine überaus gefährliche und gewalttätige Person. Aber nein, es ist ein Zürcher Stadtpolizist, der sich als Beschuldigter verantworten muss. Die polizeiliche Aufmerksamkeit gilt nicht ihm, sondern der anderen Seite. Jenen Unterstützerinnen und Prozessbeobachtern, die gekommen sind, um zu hören, wie das Berufungsgericht den Fall von Wilson A. beurteilen wird. Neben ihnen hat ein gutes Dutzend Medienvertreter aus der ganzen Schweiz Platz genommen.
Sie alle hören in den frühen Abendstunden, was sich seit bald 15 Jahren abzeichnet. Der Version des schwarzen Mannes, der als Geschädigter und Privatkläger auftritt, wird nicht geglaubt, dafür jener der drei Stadtpolizisten. Zwei von ihnen mussten nicht mehr vor Obergericht antraben; ihre Freisprüche, gefällt im April 2018 vom Bezirksgericht Zürich, sind rechtskräftig geworden. Wilson A. und sein Anwalt haben nur den Freispruch des Einsatzleiters nicht akzeptiert und an die nächste Instanz gezogen.
Nur die schwarzen Männer im Tram kontrolliert
Damals war es noch Bruno Steiner, der Wilson A. vertrat und vor dem Bezirksgericht acht Stunden lang plädierte, bis ihm der vorsitzende Richter das Wort entzog. Im März 2023 ist Steiner gestorben. Seither ist Daniel Walder Rechtsvertreter des Privatklägers. Vor Obergericht wird ihm eine zweistündige Redezeit zugestanden.
Walder schildert die Polizeikontrolle vom Oktober 2009, kurz vor ein Uhr morgens, im Tram, beim Zürcher Bahnhof Wiedikon. Ein Polizeifahrzeug hatte das Tram zuvor gekreuzt und der Einsatzleiter zwei schwarze Männer gesehen, die dort drinsassen. Er wies seine Untergebenen an, ins Tram zu steigen, um die Männer zu kontrollieren. Einer von ihnen, Wilson A., habe einer polizeilich gesuchten Person geglichen, wird der Einsatzleiter später zu Protokoll geben.
Die beiden Männer sind not amused über die Kontrolle; sie erwähnen, dass wieder einmal nur die schwarzen, nicht aber die weissen Passagiere drankämen, und ziehen nicht subito ihre Ausweise aus den Taschen. Sie steigen aber bei der nächsten Haltestelle aus, wie angewiesen – und dann eskalierts. Die Polizei setzt Pfefferspray ein, schlägt mit Fäusten und Stöcken auf Wilson A. ein. Sein Begleiter schreit:
«Wilson, they will kill you.»
Wilson A. wird ruppig zu Boden gebracht, gefesselt und auf den Posten geführt. Ein Arzt untersucht ihn dort auf Drogen und Alkohol und findet nichts. Einem zweiten Arzt fällt der rasende Puls des Festgenommenen auf, er lässt ihn ins Universitätsspital bringen. Dort werden unter anderem folgende Verletzungen dokumentiert:
Quetschungen und Prellungen an Hals, Nacken und Kiefer (sollen zum Teil durch Würgen entstanden sein, doch das Würgen wird bestritten)
Bruch des Knochenfortsatzes am 2. Lendenwirbelkörper
Oberschenkelzerrung
Meniskusriss
Schürfungen und Prellungen an den Knien
Quetschungen an den Handgelenken
Augenentzündung (wegen des Pfeffersprays)
Unterblutung im linken Auge (einer der Polizisten drückte mit dem Finger ins Auge von Wilson A., was er auch zugibt)
Schwellungen im Unterbauch
Schwellungen und Blutergüsse im Bereich des Brustbeins und des Defibrillators
Keiner hat etwas Unerlaubtes gesehen
Die zwei Polizisten und die Polizistin bleiben unverletzt. Sie halten ihre Version des Geschehens kurz nach der Kontrolle in «Wahrnehmungsberichten» fest. Diese fallen einheitlich aus. Keiner beschuldigt einen Kollegen, unverhältnismässig gehandelt zu haben. Keine hat etwas Unerlaubtes gesehen, sicher kein Würgen.
Solch übereinstimmende Aussagen sind nichts Aussergewöhnliches bei Verfahren gegen Polizisten. Über die Cop Culture, den Korpsgeist, den Code of Silence oder die mangelhafte Fehlerkultur innerhalb der Polizei sind schon ganze Bücher verfasst worden. Unter Rechtsanwältinnen kursiert das Bonmot, es gehe eher ein Kamel durchs Nadelöhr, als dass ein Polizist verurteilt werde.
Der Verteidiger des Einsatzleiters, Thomas Sprenger, braucht vor Obergericht nur wenige Minuten, um darzulegen, warum sein Mandant freizusprechen sei. «Der Vertreter des Privatklägers plädiert ausserhalb der Aktenrealität und macht Ausführungen zu einem Vorfall, den es so nie gab. Wilson A. musste verhaftet werden, weil er sich so fürchterlich über die Kontrolle aufregte, in Rage geriet und unbändig reagierte. Er war zu keinem Zeitpunkt das Opfer von rassistischer Polizeigewalt.»
Dieser Auffassung stimmt das dreiköpfige Gerichtsgremium zu. Es bestätigt den vorinstanzlichen Entscheid und spricht den Einsatzleiter frei.
Wilson A. habe widersprüchlich ausgesagt, so Stefan Volken bei der mündlichen Urteilsbegründung. Sein Freund, der ebenfalls bei der Kontrolle anwesend war, bestätige die Vorwürfe nicht – es geht vor allem darum, ob der Einsatzleiter sein Opfer von hinten gewürgt und damit in eine lebensbedrohliche Situation gebracht hat. Wilson A. war kurz vor der Personenkontrolle einem herzmedizinischen Eingriff unterzogen worden und trug einen implantierten Defibrillator.
Er habe die drei Polizisten darauf aufmerksam gemacht, dass er herzkrank sei, sagt er.
Stimmt nicht, sagt der Einsatzleiter.
Das Obergericht glaubt den Polizisten. Auch wenn alle drei komplett die Aussage verweigert hätten, so Volken, wäre es zu Freisprüchen gekommen: «Das Beweisergebnis ist klar und zwingend.»
Und einmal mehr: Racial Profiling sei nicht Prozessthema, das werde den Polizisten nicht vorgeworfen, das stehe so nicht in der Anklageschrift, und an diese Anklageschrift sei das Gericht gebunden.
Allzu viel ist nicht nachvollziehbar
Die Krux an diesem Fall ist: Es hätte von Anfang an anders kommen können, kommen müssen. Allzu viel ist schiefgelaufen – oder schlicht nicht nachvollziehbar.
Dabei müssten doch die Behörden das allergrösste Interesse daran haben, einen Vorfall wie diesen akribisch zu untersuchen; sei es, um die Beschuldigungen zu widerlegen oder andernfalls um Lehren und Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen. Sich zu entschuldigen. Wiedergutmachung zu leisten. Und in erster Linie um aufzuzeigen, dass Vorwürfe wegen Racial Profilings und überbordender Polizeigewalt ernst genommen, seriös abgeklärt werden.
Denn was kaum jemand bestreitet:
Nichtweisse Menschen werden deutlich häufiger kontrolliert als weisse, auch in der Stadt Zürich. Das ist für die Betroffenen demütigend und belastend.
Ständiges Kontrolliert- und Verdächtigtwerden gehört zu ihrem Alltag; egal, wie lange sie schon in der Schweiz leben, egal, wo sie sich aufhalten, wie sie gekleidet sind, wie unauffällig sie sich benehmen. Diese Vorbelastung muss den Polizistinnen bekannt sein – und sie haben ihr Verhalten entsprechend anzupassen. Sprich: Auch wenn sie einen konkreten und begründeten Verdacht haben, der zur Kontrolle einer nichtweissen Person führt, ist ein behutsames und respektvolles Vorgehen angezeigt.
Wegen der Diskriminierungserfahrung der kontrollierten Person.
Und sie könnte ja unschuldig sein. Wie das bei Wilson A. der Fall war.
Der Einsatzleiter gab zwar in der Untersuchung an, er habe nach einem polizeilich ausgeschriebenen dunkelhäutigen Mann gesucht. Aber macht das jeden Schwarzen in der Stadt Zürich verdächtig? Auch einen, der friedlich mit seinem Kollegen im Tram sitzt und einfach nur nach Hause fahren will?
Die Kontrolle beim Bahnhof Wiedikon lief aus dem Ruder, so viel ist klar. Doch die strafrechtliche Aufarbeitung, die daraufhin erfolgte, hinterlässt nicht den Eindruck, es sei darum gegangen, den Vorfall klären zu wollen.
Keine Lust, den Fall vor ein Gericht zu bringen
So wurde beispielsweise nie überprüft, ob der Einsatzleiter vor der besagten Kontrolle im Oktober 2009 das Fahndungsbild eines gesuchten schwarzen Mannes gesehen hatte – oder ob das Argument erst später nachgeschoben wurde, um die Aktion zu legitimieren. Ausserdem wurde kein Gutachten zu den Verletzungen von Wilson A. in Auftrag gegeben. Also nicht von einer Expertin geklärt, wie diese entstanden sind – und ob der herzkranke Mann in Lebensgefahr schwebte.
Staatsanwältin Christine Braunschweig wollte den Fall zweimal einstellen und damit verhindern, dass es überhaupt zur gerichtlichen Beurteilung kommt. Als sie dennoch Anklage erheben musste, zuletzt auf Anweisung des Bundesgerichts, verlangte sie vor dem Bezirksgericht Freisprüche für die drei Polizisten. Der Begriff des Racial Profilings kommt in ihrer Anklageschrift nicht vor. Ausstandsbegehren gegen die Staatsanwältin waren chancenlos.
Der Fall Wilson A., sagt Rechtsanwalt Daniel Walder, betreffe fundamentale Grundsätze. Doch es sei jegliche Anstrengung unternommen worden, «die Wahrheitsfindung zu unterbinden». Der Staat sei den Vorwürfen nur mangelhaft nachgegangen; von einer effektiven und unabhängigen Strafuntersuchung könne nicht die Rede sein. Das verletze die Europäische Menschenrechtskonvention.
Wie geht es nun weiter?
Die Allianz gegen Racial Profiling kündigt nach dem obergerichtlichen Entscheid an, der Fall müsse vor Bundesgericht gezogen werden. Und notfalls auch noch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.
Ein Urteil aus Strassburg gegen die Schweiz – mit Signalwirkung
Die Schweiz ist am Dienstag wegen mehrfacher Verletzung der Menschenrechtskonvention (EMRK) gerügt worden. In einem einstimmig gefällten Entscheid konstatiert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine diskriminierende Polizeikontrolle – und dass es dem Betroffenen verwehrt wurde, wirksam Beschwerde zu erheben.
Konkret geht es um eine Personenkontrolle im Zürcher Hauptbahnhof, die im Februar 2015 stattfand. Der Bibliothekar Mohamed Wa Baile war auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz an der ETH Zürich, als er von der Polizei aus der Pendlermasse gepickt und aufgefordert wurde, seinen Ausweis zu zeigen. Wa Baile weigerte sich, erkundigte sich nach dem Grund für die Kontrolle und äusserte die Vermutung, es liege einzig an seiner Hautfarbe. Die Polizei durchsuchte an Ort und Stelle seine Effekten, fand einen Ausweis und liess den Mann wieder gehen. Wa Bailes Weigerung führte jedoch zu einem Strafbefehl wegen Nichtbefolgens einer polizeilichen Anordnung – und zu einer Busse von 100 Franken.
Die Verurteilung wurde zuletzt auch vom Bundesgericht bestätigt. Keines der Strafgerichte beschäftigte sich jedoch mit der Frage, ob die Personenkontrolle aus diskriminierenden Gründen erfolgte, ob es also um Racial Profiling geht. Der Zürcher Stadtpolizist sagte in der Untersuchung aus, er habe sich für die Kontrolle entschieden, weil Wa Baile den Blick von ihm abgewandt habe.
Der Bibliothekar zog den Fall parallel zum Strafverfahren vor das Zürcher Verwaltungsgericht. Dieses bestätigte zwar, es liege eine unrechtmässige Personenkontrolle vor, setzte sich aber mit dem Vorwurf der Diskriminierung ebenfalls nicht auseinander.
Insgesamt, sagt Magda Zihlmann, Rechtsvertreterin von Wa Baile, an einer Medienkonferenz am Dienstag in Bern, hätten sich neun Schweizer Instanzen mit dem Vorfall befasst – und keine einzige habe den Diskriminierungsvorwurf geprüft.
Das rügt nun auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. In seinem am Dienstag publizierten Entscheid hält er fest, die Schweiz habe den Vorwurf der Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe nicht widerlegt. Mohamed Wa Baile sei Opfer einer diskriminierenden, rassistischen Personenkontrolle geworden. Das verletzt Artikel 14 der EMRK. Die Vorwürfe wiegen derart schwer, dass zusätzlich noch das Recht auf die Achtung des Privatlebens gemäss Artikel 8 EMRK tangiert wird.
«Mit diesem Urteil wurde Rechtsgeschichte geschrieben», sagt Tarek Naguib von der Allianz gegen Racial Profiling an der Medienkonferenz in Bern. «Es ist ein Meilenstein für die Menschenrechte, europaweit. Und es ist ein Signal an die Schweizer Behörden – auf allen Stufen.»
Auch die Justiz sei künftig gefordert, Racial Profiling und überhaupt Diskriminierungs- und Rassismusvorwürfe ernst zu nehmen und zu prüfen. Was bisher nicht geschehen sei – auch in anderen Fällen. Gerichte werden dieses Urteil aus Strassburg nicht mehr ignorieren können. Das dürfte schon beim oben geschilderten Fall von Wilson A. eine Rolle spielen.
Illustration: Till Lauer