Bei Tamedia gefährdet der eigene Verleger die Medienfreiheit
Nach einer Intervention von Pietro Supino hat der «Tages-Anzeiger» eine Recherche über Vorfälle in einem Heim der Schweizerischen Epilepsie-Stiftung offline genommen.
Von Dennis Bühler, 19.02.2024
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Der Artikel, der am 18. November 2023 im «Tages-Anzeiger» erscheint, hat es in sich. Unter dem Titel «Zwei schwere Unfälle, zwei Todesfälle, eine verprügelte Betreuerin» wird von mehreren schwerwiegenden Vorfällen berichtet, die sich in den letzten vier Jahren im EPI-Wohnwerk zugetragen hätten, einem Heim der Schweizerischen Epilepsie-Stiftung am Stadtrand Zürichs.
Im Zentrum des Artikels steht ein Unfall, bei dem sich ein kognitiv schwer beeinträchtigter Heimbewohner im vergangenen August grossflächige Verbrühungen an den Beinen zuzog. Wochenlang lag er auf der Intensivstation des Universitätsspitals Zürich im künstlichen Koma. Zu den Verletzungen, die zwei Transplantationen notwendig machten, kam es, weil der 39-jährige Mann zwanzig Sekunden lang in viel zu heissem Badewasser sass – und weil er seine Betreuungsperson wegen seiner Behinderung nicht auf seine Schmerzen hinweisen konnte.
Wer heute auf den Link zum Artikel klickt, erhält eine Fehlermeldung: «Wir haben diese Anfrage nicht verstanden.» Denn Tamedia, der grösste Medienverlag des Landes, hat den Artikel still und heimlich depubliziert. Das ist im Schweizer Journalismus höchst unüblich.
Dass es trotzdem geschah, hat mit einer Intervention von Tamedia-Verwaltungsratspräsident Pietro Supino zu tun. Auch das ist höchst unüblich.
Und es ist von öffentlichem Interesse, weil damit das Prinzip der inneren Pressefreiheit zumindest geritzt worden ist. Dieses besagt, dass Verleger zwar die grundsätzliche Blattlinie bestimmen, sich jedoch nicht in einzelne publizistische Entscheidungen einmischen; denn Journalistinnen und Redaktionen sollen so unabhängig wie möglich agieren können.
Vor bald einem halben Jahrhundert trat eine Schweizer Redaktion aus Besorgnis um die innere Pressefreiheit sogar in den Streik. Inzwischen hat sich das Machtgefüge allerdings dramatisch zuungunsten der Journalisten verändert: durch das Verschwinden von Zeitungen, die Zusammenlegung von Redaktionen, regelmässige Sparübungen und auch die Tatsache, dass es in der Deutschschweiz seit zwei Jahrzehnten keinen Gesamtarbeitsvertrag mehr gibt.
Wie sehr Journalistinnen den Launen ihrer obersten Chefs ausgesetzt sind, verdeutlicht der Vorfall, der bei der Tamedia-Belegschaft seit bald drei Monaten zu reden gibt. Und es spiegelt sich auch in der Tatsache, dass sämtliche Mitarbeiterinnen, mit denen die Republik während dieser Recherche gesprochen hat, unerkannt bleiben möchten.
«Ich schäme mich für diesen Text»
Was also ist geschehen? Am 24. November, sechs Tage nachdem im «Tages-Anzeiger» besagter Artikel über die schweren Vorfälle im EPI-Wohnheim erschienen ist, werden in Winterthur die Ergebnisse des jährlichen Tamedia-Qualitätsmonitorings besprochen. Die Mitarbeiterinnen der «Zürichsee-Zeitung» und des «Zürcher Unterländers» sowie die Angehörigen des Zürich-Ressorts des «Tages-Anzeigers» sind via Video zugeschaltet, die Redaktion des «Landboten» ist vor Ort – wie auch Verwaltungsratspräsident Pietro Supino.
Durch die Veranstaltung führt der Chefredaktor des Zeitungsverbunds, Benjamin Geiger. Er zeigt positive und negative Beispiele der vergangenen zwölf Monate, der Ton ist sachlich. Beim Artikel über die Vorfälle im EPI-Wohnheim kritisiert er einzig die Illustration, die er für zu drastisch hält. Die Zeichnung zeigt den Moment, in dem ein Betreuer den in der Badewanne mit brühend heissem Wasser sitzenden, schwerbehinderten Heimbewohner findet. Mathias Müller von Blumencron, der Leiter Publizistik des Verlags, bemängelt, die Illustration insinuiere, dass ein Betreuer untätig geblieben sei, statt dem Heimbewohner sofort zu Hilfe zu eilen.
Auf einmal ergreift Supino das Wort. Frontal attackiert er die Autorin des Artikels, die seit einem Vierteljahrhundert für den «Tages-Anzeiger» tätig ist und 2022 von der Branchenzeitschrift «Schweizer Journalist:in» zur «Lokaljournalistin des Jahres» gewählt wurde. Wie viele Redaktionskollegen ist sie nicht in Winterthur anwesend, sondern online zugeschaltet. Supino wirft ihr grobe handwerkliche Fehler vor. So habe sie nicht vor Ort recherchiert, obwohl man dort im Bistro problemlos mit Angehörigen anderer Heimbewohner hätte sprechen können. Er wisse das, weil seine Joggingstrecke daran vorbeiführe. Und er sagt: «Ich schäme mich für diesen Text. Er ist inakzeptabel.» So berichten es im Gespräch mit der Republik mehrere Mitarbeiter unabhängig voneinander.
Bestätigt wird der Vorfall auch von Vinzenz Wyss, Professor für Journalistik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, der für einen Teil des Qualitätsmonitorings verantwortlich und deshalb in Winterthur anwesend war. «Das war eine unangenehme Situation», sagt er. «Die Art und Weise, wie die Kritik vorgebracht wurde, hat mich irritiert. Regeln einer Feedbackkultur, die auch bei einer Blattkritik zu befolgen sind, wurden missachtet.»
Die betroffene Journalistin schreibt auf Anfrage, sie bitte um Verständnis, dass sie sich nicht zum Vorfall äussern könne, und verweist auf ihre Vorgesetzte. An deren Stelle antwortet jedoch die Kommunikationsabteilung:
«Die Geschichte mit dem Titel ‹Zwei schwere Unfälle, zwei Todesfälle, eine verprügelte Betreuerin› weist handwerkliche Fehler auf. Es entsteht der Eindruck einer Parteinahme. Unsere internen Kontrollmechanismen haben versagt. Zwei Beispiele: Die Bebilderung ist reisserisch, eine Recherche vor Ort fand nicht statt. Wir warten für eine Neubewertung auf das Ergebnis der Untersuchung durch die Behörden. Bis dahin hat sich die publizistische Leitung von Tamedia dazu entschlossen, den Artikel zurückzuziehen.»
Erinnerungen an die Entlassung eines Journalisten
Bei der Veranstaltung in Winterthur herrscht nach Supinos Tirade Sprachlosigkeit. Die Führungsspitze des Verlags, die fast vollständig anwesend ist, schweigt betreten: die im vergangenen Jahr neu engagierte CEO Jessica Peppel-Schulz, ihr inzwischen für die Qualitätsmonitorings zuständige Vorgänger Marco Boselli, der publizistische Leiter Mathias Müller von Blumencron, der Zeitungsverbund-Chefredaktor Benjamin Geiger und Ressortleiterin Angela Barandun. Eine einzige Lokaljournalistin wagt es, gegenüber ihrem obersten Chef direkt anzumerken, sie halte die Art und Weise seiner Kritik für unangemessen. «Wir waren alle bestürzt, ja geschockt», erklärt ein Journalist das grosse Schweigen. Umso mehr wird Supinos Auftritt in den Tagen und Wochen danach zum Redaktionsgespräch.
Die Personalkommission schreibt auf Anfrage: «Wir können bestätigen, dass der Vorfall für Irritationen und Verunsicherung bei vielen Mitarbeitenden gesorgt hat und wir dazu zahlreiche Rückmeldungen und Anfragen erhalten haben.» Daraufhin habe man mit der Geschäftsleitung das Gespräch gesucht. Zu dessen konkretem Inhalt könne man aufgrund der Verschwiegenheitspflicht keine Angaben machen.
Die Verunsicherung in der Belegschaft ist auch deshalb gross, weil es nicht das erste Mal ist, dass sich Supino in redaktionelle Belange einmischt.
Der gravierendste Fall liegt erst zwei Jahre zurück: Damals wurde ein Journalist vom Zürich-Ressort des «Tages-Anzeigers» sogar entlassen. Offiziell, weil er in einem Porträt einer Zürcher Stadtratskandidatin antisemitische und sexistische Klischees bedient hatte – dass er sich umgehend entschuldigte, nützte ihm nichts. Denn da war noch ein zweiter Artikel erschienen, mit dem er drei Monate zuvor den Groll des Verlegers auf sich gezogen hatte: ein kritischer Text über die geheimnisumwitterte Baugarten-Stiftung, eine Genossenschaft und private Geldgeberin für kulturelle, soziale und wissenschaftliche Tätigkeiten in der Stadt Zürich.
Die Redaktion protestierte vergeblich gegen die Entlassung ihres Kollegen. «Wir Redaktorinnen und Redaktoren befinden uns in ständiger Gefahr, unsere Stelle zu verlieren», schrieben sie in einem Protestbrief, aus dem die Republik zitierte. «Wenn es Druck gibt, sei es von oben oder von aussen, ist die Unterstützung und Rückendeckung unserer direkten Vorgesetzten wertlos.»
Auch die EPI hält den Artikel für unproblematisch
Wenige Tage nach der Veranstaltung in Winterthur wird der Artikel über die Vorfälle im EPI-Wohnheim offline genommen. Im Zürich-Ressort ist die Empörung gross. Es bittet den Tamedia-Recherchedesk, den Artikel und die zugrunde liegende Recherche im Detail zu prüfen. Die Vorzeigeredaktion des Konzerns, auf Initiative Supinos gegründet, kommt zum Schluss: geradezu vorbildlich – auch sie hätte den Artikel so veröffentlicht.
So wird es der Republik mehrfach bestätigt. Die Co-Leiterin des Recherchedesks allerdings will öffentlich keine Stellung nehmen, auch sie verweist auf die Kommunikationsabteilung. Diese schreibt: «Der Recherchedesk hat sich die Geschichte lediglich dahingehend angeschaut, ob die Gegenseite ausreichend zu Wort gekommen ist. Eine offizielle, hausinterne Prüfung in Kenntnis aller (…) Umstände, insbesondere der mangelhaften Bebilderung und fehlenden Vor-Ort-Recherche, hat bei Tamedia nicht stattgefunden.»
An mehreren Sitzungen drängen Angela Barandun, die Leiterin des Zürich-Ressorts, Benjamin Geiger, der Chefredaktor des Zürcher Zeitungsverbunds, und Raphaela Birrer, die Chefredaktorin des «Tages-Anzeigers», darauf, den Artikel erneut online zu veröffentlichen. Birrer hatte den Artikel schon vor der erstmaligen Veröffentlichung gelesen und für gut befunden – und entschieden, die Vorfälle im EPI-Wohnheim an jenem Tag zum Frontaufmacher der Printausgabe zu machen. Auch der Rechtsdienst des Verlags hatte den Text vor der Publikation begutachtet und für korrekt befunden.
Doch Mathias Müller von Blumencron hat für alle vorgebrachten Argumente kein Gehör. In Absprache mit Verwaltungsratspräsident Supino entscheidet der publizistische Leiter von Tamedia: Der Artikel bleibt offline.
Was beim Verleger überhaupt für derart grosse Verstimmung gesorgt hat, bleibt unklar. Schnell kursieren Tamedia-intern Gerüchte, Vertreter der Schweizerischen Epilepsie-Stiftung, die wie er Mitglied des Rotary-Clubs seien, hätten sich bei ihm beschwert. Doch Belege dafür gibt es nicht, und die EPI dementiert sogar ausdrücklich. Ohnehin scheint sie im Artikel, in dem sowohl ihr CEO als auch der Leiter des Wohnwerks ausführlich zu Wort gekommen waren, viel weniger ein Problem zu erkennen als der Tamedia-Chef.
Zwar sei es darin vereinzelt zu Ungenauigkeiten gekommen, schreibt die Kommunikationschefin der Stiftung auf Anfrage der Republik. Doch sie betont, die EPI habe nie formell eine Richtigstellung eingefordert. Und: «Von unserer Seite wurde nie ein Antrag auf Online-Depublikation bei Tamedia gestellt.» Als sie später erneut mit einer Medienanfrage konfrontiert gewesen seien, hätten sie den ursprünglichen Artikel «im Internet gesucht und festgestellt, dass er online nicht mehr auffindbar ist».
Bloss zwei vergleichbare Fälle in den letzten sechs Jahren
Dass ein Artikel depubliziert wird, kommt in der Schweiz sehr selten vor: In den letzten Jahren wurden bloss zwei Fälle publik.
Im Herbst 2023 machte sich ein Journalist in den Zeitungen und auf den Onlineportalen von CH Media über eine UBS-Werbekampagne lustig – eine Woche später wurde seine Glosse gelöscht, nachdem eine Vertreterin der Grossbank sich beim Verlag beschwert hatte. «Offenbar wollte man einen wichtigen Werbeauftraggeber nicht unnötig verärgern», schrieb das Portal «Tippinpoint.ch», das den Vorgang enthüllte. «Die UBS soll einen mittleren sechsstelligen Betrag gebucht haben.»
2018 löschte der «Tages-Anzeiger» ein kritisches Porträt des Bündner Somedia-Verlegers Hanspeter Lebrument. «Der Artikel entspricht nicht unseren Vorstellungen über Qualität im Journalismus, weil er weitgehend auf anonymen Quellen basiert, der Porträtierte nicht zu Wort kommt und verschiedene, negative Werturteile nicht belegt sind», begründete der damalige Konzernsprecher. Zuvor hatte der Somedia-CEO das Porträt als «kreditschädigend» bezeichnet und sich besonders betroffen gezeigt, da «der Artikel in einer Zeitung von Tamedia erschienen ist, deren Verleger mit Hanspeter Lebrument freundschaftlich verbunden ist und der auch sein Nachfolger als Verlegerpräsident wurde».
Gemeint war damit Pietro Supino.