Aus der Arena

Aus politischen Gründen? «Tages-Anzeiger» entlässt Journalisten

Ein Zürcher Reporter fällt bei Verleger Pietro Supino in Ungnade und verliert seine Stelle. Die Redaktion reagiert mit einem geharnischten Protestbrief.

Von Dennis Bühler und Carlos Hanimann, 16.02.2022, Update um 16.25 Uhr

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Tamedia hat den Journalisten Kevin Brühlmann entlassen und per sofort freigestellt. Grund dafür sind zwei Artikel, die Brühlmann in jüngster Zeit geschrieben hat: eine Recherche über die so einfluss­reiche wie diskrete Baugarten-Stiftung, die dem Verleger Pietro Supino missfiel. Und ein misslungenes Porträt über eine Stadtrats­kandidatin, das antisemitische und sexistische Passagen beinhaltete. Das hat die Republik von mehreren voneinander unabhängigen Quellen erfahren. Am Mittwoch schrieben auch «Tachles» und «Inside Parade­platz» über den Vorgang.

Der Entlassung war eine öffentliche Kontroverse um einen Text von Brühlmann voraus­gegangen. Brühlmann, ein 31-jähriger Mitarbeiter im Zürich-Ressort, war in die Kritik geraten, weil er in einem Porträt über die Zürcher Stadtrats­kandidatin Sonja Rueff-Frenkel (FDP) antisemitische und sexistische Klischees bedient hatte. Brühlmann bat sogleich um Entschuldigung für die unbestritten gravierende antisemitische Entgleisung, öffentlich und privat: «Es tut mir wirklich leid, dass ich sie und viele andere Menschen verletzt habe», schrieb Brühlmann auf Twitter. «Ich versuche, aus diesem Fehler zu lernen.»

Der «Tages-Anzeiger» druckte eine Entschuldigung und nahm die problematischste Passage vom Netz: Die Qualitäts­standards seien nicht eingehalten worden, verlautete der Tagi, «und die Kontroll­instanzen haben nicht funktioniert».

Redaktion warnt vor «verheerender Aussen­wirkung»

Am letzten Freitag nun wurde Brühlmann entlassen. Am Dienstag hat die Redaktion des «Tages-Anzeigers» mit einem Brief protestiert und fordert Brühlmanns Wieder­einstellung. Der Wortlaut des Briefs ist der Republik bekannt.

Beim Porträt über Rueff-Frenkel handle es sich «um ein einmaliges Versagen», heisst es im Brief, der am Dienstag­abend mit 71 Unterschriften an die Geschäfts­leitung, Tamedia-Chef­redaktor Arthur Rutishauser und Verleger Pietro Supino ging und in der Zwischen­zeit von weiteren Redaktorinnen unterzeichnet wurde. «Fehler passieren uns allen. Es darf nicht sein, dass man wegen eines einzigen Fehlers den Job beim ‹Tages-Anzeiger› verliert.​​» Weil die gesamte Qualitäts­sicherung versagt habe, sei es ungerecht, wenn Brühlmann allein dafür gerade­stehen müsse.

Tatsächlich beging in diesem Fall nicht nur Autor Brühlmann Fehler, sondern auch die redaktionelle Leitung. Gemäss Informationen der Republik lasen das problematische Porträt insgesamt fünf Personen, bevor es publiziert wurde – darunter je ein Mitglied der Chef­redaktion und der Ressort­leitung. Niemand intervenierte. Nun muss Brühlmann für das Versagen büssen.

Die unterzeichnenden Redaktorinnen und Redaktoren warnen im Brief, dass «die Aussen­wirkung der Kündigung» verheerend sei. «Der ‹Tages-Anzeiger› gälte fortan als Medium, das aus faden­scheinigen Gründen Journalisten entlässt, deren politisches Profil nicht genau der Vorstellung des Unternehmens entspricht.»

Supino intervenierte wegen kritischer Recherche

Gemäss Recherchen der Republik ist Brühlmanns Entlassung nicht allein mit dem misslungenen Porträt der Stadtrats­kandidatin begründet worden. Vielmehr habe Brühlmann den Groll von Verleger Supino auf sich gezogen, als er vergangenen November eine Recherche über die geheimnis­umwitterte Baugarten-Stiftung publizierte, eine private Geld­geberin für allerlei kulturelle, soziale und wissenschaftliche Tätigkeiten in der Stadt Zürich.

Den Text hatte «Tages-Anzeiger»-Co-Chef­redaktor Mario Stäuble bei Brühlmann bestellt, gegen­gelesen und für gut befunden. Offenbar sehr zum Missfallen des Verlegers. Gemäss mehreren gut unterrichteten Quellen habe sich Stäuble nach der Publikation in einer Sitzung mit allen Chef­redaktoren der Tamedia-Zeitungen und in Anwesenheit von Verleger Pietro Supino lange und ausführlich für die Recherche seines Reporters entschuldigt und für das eigene Versagen gegeisselt.

Doch damit war die Sache nicht erledigt. Denn Supino wandte sich offenbar erneut an Stäuble – und dieser wies Brühlmann an, sich bei der Baugarten-Stiftung zu entschuldigen. Der Reporter soll sich zunächst mit Verweis auf die Redaktions­freiheit geweigert haben. Aber er geriet so stark unter Druck, dass er letztlich doch ein paar dürre Worte des Bedauerns an die Baugarten-Stiftung gerichtet haben soll. Auch Stäuble soll sich bei der Stiftung entschuldigt haben. Stäuble wollte vorerst keine Stellung nehmen und verwies an die Medienstelle.

Entlassung aus politischen Gründen?

Es ist nicht das erste Mal, dass Verleger Pietro Supino sich in redaktionelle Belange einmischt. Für Schlag­zeilen sorgte 2018 etwa ein Porträt von Somedia-Verleger Hanspeter Lebrument, das später gelöscht wurde und für das sich der Autor persönlich entschuldigen musste. Im gleichen Jahr zog Supino ein Interview zurück, das er der eigenen Redaktion gegeben hatte.

Entlassungen aus politischen Gründen sind im Schweizer Journalismus äusserst selten – auch bei Tamedia, deren Redaktionen von Verleger Supino seit Jahren zu einer Sparrunde nach der anderen gezwungen werden.

Der schlagzeilen­trächtigste Fall liegt Jahrzehnte zurück: 1991 wurde «Tagi»-Chefredaktor Viktor Schlumpf entlassen, weil er sich geweigert hatte, einen bei der Konzern­spitze in Ungnade gefallenen Inland­redaktor zu versetzen – 177 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kultur protestierten in einem ganz­seitigen Inserat in der NZZ gegen die Absetzung, die sie als Schaden für die Presse­freiheit taxierten; Tamedia nahm die Entlassung zwar nicht zurück, setzte aber auch den Geschäfts­führer ab, der Schlumpf die Kündigung ausgesprochen hatte.

In der Entlassung Brühlmanns sieht die Redaktion nun ein unmissverständliches Signal, wie sie in ihrem Protest­brief schreibt: «Wir Redaktorinnen und Redaktoren befinden uns in ständiger Gefahr, unsere Stelle zu verlieren. Wenn es Druck gibt, sei es von oben oder von aussen, ist die Unterstützung und Rücken­deckung unserer direkten Vorgesetzten wertlos.»

Zudem werde ein Präzedenz­fall geschaffen, der die Chef­redaktion und die Unternehmens­leitung beim nächsten Fehler eines Mitarbeiters oder beim nächsten Shitstorm unter noch grösseren Zugzwang bringe.

Jüdische Persönlichkeiten setzten sich für Brühl­mann ein

Bereits am Wochenende hatte das Gerücht einer Kündigung die Runde gemacht. In der Folge wandten sich am Montag besorgte jüdische Stimmen mit einem Brief an die Chefetage von «Tages-Anzeiger» und TX Group, die den «Tages-Anzeiger» herausgibt, darunter etwa die Ökonomin Dina Pomeranz, der Historiker Jacques Picard oder die ehemalige Bundes­richterin Vera Rottenberg. Sie wollten mit dem Schreiben an Verleger Pietro Supino der Entlassung Brühlmanns entgegen­wirken. Zu spät. Brühlmann war zum Zeitpunkt, als der Brief bei den Verantwortlichen ankam, bereits gekündigt.

«Als jüdische Zürcherinnen und Zürcher waren wir bestürzt über den Artikel (über Rueff-Frenkel; Anm. d. Red.)», schreiben die Autorinnen im Brief, über den das jüdische Wochen­magazin «Tachles» am Mittwoch­morgen als erstes Medium berichtete. Eine Entlassung aber hielten sie «für unangemessen und sogar kontra­produktiv». Sie sei «nicht zielführend, sondern schädlich».

Brühlmann habe sich aufrichtig entschuldigt. Darüber sei man froh und dankbar gewesen. Es gebe keinen Grund, an seiner ehrlichen Reue und seinem Lernwillen zu zweifeln. «Es geht bei diesen Thematiken leider nicht um einzelne Individuen, sondern um ein breites gesellschaftliches und institutionelles Problem.»

Stilsicher, originell und offen­sichtlich links

Brühlmann schrieb seit 2020 für den «Tages-Anzeiger». Zuvor war er Reporter bei der «Schaffhauser AZ» und gewann 2018 den Reporter­preis für eine Reportage über den US-amerikanischen Supermarkt-Giganten Walmart, der zwecks Steuer­optimierung einen Brief­kasten in Schaffhausen unterhielt. Mario Stäuble, heute Co-Chef­redaktor des «Tages-Anzeigers» und damals Leiter des Zürich-Ressorts, wurde auf den jungen Lokal­journalisten aufmerksam und warb ihn von der «AZ» ab.

Brühlmann galt als journalistisches Talent. Bald durfte er auch im «Magazin» des «Tages-Anzeigers» publizieren. Er war ein aufsteigender Stern, stilsicher, mit originellen Zugängen und frechem Auftritt – und offensichtlich linkem Profil, vielleicht zu offensichtlich. Der bissige Ton in Brühlmanns Text über die Baugarten-Stiftung wurde ihm zum Verhängnis. Er fiel bei Verleger Supino in Ungnade. Der misslungene Text über Rueff-Frenkel tat sein Übriges.

Brühlmann will seine Entlassung nicht kommentieren: «Ich möchte mich nicht äussern. Es waren zwei tolle Jahre beim ‹Tagi›, mit grossartigen Kolleginnen und Kollegen.»

Update: Nachdem Tamedia zunächst die Frist hatte verstreichen lassen, erreichte uns nach der Publikation dieses Beitrags folgende Stellung­nahme:

Zur Stellungnahme von Tamedia

Von Arthur Rutishauser, Chef­redaktor Redaktion Tamedia und «SonntagsZeitung», und Mario Stäuble, Co-Chefredaktor «Tages-Anzeiger»:

Wir bestätigen, dass Kevin Brühlmann den Tages-Anzeiger verlassen hat. Es gab wiederholt unterschiedliche Auffassungen über Qualität im Journalismus. Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zu Personal­fragen nicht weiter äussern können.

Die Qualität unseres Journalismus ist für Tamedia von höchster Priorität. Die Grundlagen dazu sind im Handbuch «Qualität in den Medien» festgehalten und den Redaktions­mitgliedern über alle Stufen hinweg bestens bekannt. Wir werden die jüngsten Ereignisse zum Anlass nehmen, unsere internen Kontroll­mechanismen weiter zu verbessern und die Kultur des Gegenlesens zu stärken, insbesondere im Hinblick auf sensible Sachthemen.

Hinweis: In einer früheren Version haben wir Mario Stäuble als «Tages-Anzeiger»-Chefredaktor bezeichnet. Das war ungenau – er ist Co-Chefredaktor. Wir haben dies nun im Text präzisiert.

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