«Die Grünen sagen: Die Welt geht unter und wir müssen handeln. Das ist langweilig und ermüdend»

Der Soziologe und Autor Nikolaj Schultz sagt, warum es nicht reicht, wenn man sich in der Klimakrise auf Moralismus und Fatalismus ausruht.

Ein Interview von Tuğba Ayaz (Text) und Paul Lehr (Bilder), 10.02.2024

Vorgelesen von Egon Fässler
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Nikolaj Schultz, Autor von «Landkrank», in seiner Wohnung in Paris.

Herr Schultz, Sie fordern eine ökologische Klasse, die entschieden für das Klima eintritt. Das schreiben Sie in Ihrem Memorandum «Zur Entstehung einer ökologischen Klasse», das Sie mit Bruno Latour verfasst haben. Gibt es diese mit der Klima­bewegung nicht bereits?
Nikolaj Schultz:
Nein, diese ist ein Bündel an Bewegungen, aber keine geeinte Bewegung. Sie hat keine Ideologie, wie wir sie etwa vom Sozialismus oder Liberalismus kennen. Menschen, die sich für das Klima einsetzen, haben seit fünfzig Jahren die Vorstellung, dass wir unter der Flagge von Mutter Natur Hand in Hand gehen werden, wenn die Katastrophe nah genug ist. Aber das passiert nicht.

Warum nicht?
Weil sie nicht gut genug darin waren, zu definieren, wer dieses «Wir» sein soll. Die Klima­frage ist keine des Friedens. Sie ist eine Frage des Konflikts.

Konflikte auf der Welt gibt es doch schon genug. Warum können wir in der Klima­frage nicht zusammen­stehen?
Weil es verschiedene Interessen gibt, und die sorgen nun einmal für Konflikte. Wir sehen solche Konflikte überall, etwa in Lützerath in Deutschland, wo Aktivistinnen gegen den Kohle­abbau gekämpft haben, oder bei indigenen Völkern, die für ihren Lebens­raum kämpfen. Wir sehen das auch bei der deutschen Klima­aktivistin Luisa Neubauer, einer Freundin von mir, die von ganz verschiedenen Seiten angegriffen wird. Das alles zeigt doch, dass wir einen Konflikt austragen. In einem Konflikt sollte man in der Lage sein, seinen Gegen­spieler zu benennen. Und hierzu argumentieren wir im Memorandum, dass es zur Bildung einer ökologischen Klasse ein «Wir» und ein «Sie» entlang dieser Konflikt­linie braucht.

Wie soll das gehen?
Ein Weg dorthin wäre, den Begriff der Klasse neu zu definieren. Als ein Kollektiv, das gemeinsam gegen die Zerstörung des Planeten vorgeht. Ein Kollektiv, das nicht einfach versucht, die Produktions­mittel zu übernehmen wie im einstigen Klassen­kampf. Sondern ein Kollektiv, das gegen die Folgen der Produktion kämpft. Selbstbewusst seine Interessen vertritt, um gegen diejenigen zu kämpfen, die weiterhin auf Kosten des Klimas produzieren. Ein Kollektiv, das von unten nach oben tragende Klima­ziele forciert. Doch hierzu muss sich erst auch eine Ideologie der politischen Ökologie entwickeln.

Zur Person

Nikolaj Schultz, 33, ist Soziologe und forscht an der Universität Kopenhagen. Sein Mentor Bruno Latour, der Vordenker der politischen Ökologie, entdeckte Schultz vor einigen Jahren im Master­programm an der Pariser Elite-Universität Sciences Po. Eine enge Zusammenarbeit begann, sie schrieben erste Artikel und veröffentlichten 2022 das Buch «Zur Entstehung einer ökologischen Klasse». Am 12. Februar erscheint die deutsche Übersetzung von Nikolaj Schultz’ jüngstem Werk «Landkrank», einer Mischung aus Reise­erzählung und Bildungs­roman, in der Schultz nach einer Sprache für das Unbehagen in der Klimakrise sucht.

Grüne Parteien leisten diese Arbeit kaum. Die Grünen waren die grossen Verlierer der letzten Wahlen in der Schweiz. In Frankreich, wo Sie leben, erreichten sie 2022 nicht einmal drei Prozent. Was machen grüne Parteien falsch?
Auch sie waren nicht gut genug darin, Konflikte zu benennen. Des Weiteren haben sie den Kampf um eine kulturelle Erzählung nicht ausreichend geführt. Wenn man den Fernseher einschaltet und einen Kandidaten der Grünen, der Sozialisten, der Liberalen und der Konservativen sieht, erkennt man rasch, dass letztere drei absolut keine realistische Idee zu den Klimafragen haben. Aber sie haben zu ihren Themen Visionen, Konzepte, Erzählungen, mit denen sie Menschen berühren. Die Sozialistinnen sprechen vielleicht von Gleichheit, die Liberalen von individueller Freiheit, die Konservativen von der Nation. Sie verwenden Begriffe, die durch ihre Geschichte kulturell geprägt sind.

Und wovon sprechen die Grünen?
Sosehr ich ihre Anliegen unterstütze, sie betreten die Bühne und sagen: Die Welt geht unter und wir müssen handeln. Sie sind panisch. Sie moralisieren. Aber Moralismus ist langweilig und Panik ermüdend. Wie oft haben Sie schon eine Kandidatin einer grünen Partei gehört, die mit neuen Visionen oder Erzählungen besticht? Die Grünen haben sich auf Moralismus ausgeruht, auf Fatalismus, auf Apokalypse, stets in einem pädagogischen Ton. Sie haben kein kulturelles Narrativ entwickelt. Aber die kulturelle Festung ist strategisch sehr wichtig, wenn man das Reich der Politik erobern will. Die Grünen müssten Klima­themen positiv und interessant machen, ja gar sexy, damit sich die Menschen dafür interessieren. Menschen handeln eher, wenn sie berührt werden.

Wie erreichen Sie Menschen mit Ihrer Arbeit?
Neben meiner wissenschaftlichen Arbeit ist es mir wichtig, mich in der Kunst einzubringen. Als Bruno Latour und ich zum Beispiel ein Theater­stück mitentwickelten, luden wir für eine Szene den irischen Musiker Grian Chatten von der Band Fontaines D.C. ein. Er komponierte ein Lied über die Erde. Einige meiner engen Freunde sind Musiker. Ich versuche, sie für Lied­texte über die Umwelt zu sensibilisieren. Viele Pop- und Rock­stücke handeln vom Individuum, von der Freiheit, der Liebe, aber kaum von der Umwelt. Ökologische Fragen gehören nicht bloss in die Politik oder Wissenschaft. Sie gehören auch in die Kunst. Sie kann auch dazu beitragen, dieses kulturelle Narrativ zu entwickeln.

Bruno Latour war für Ihr Denken prägend. Kurz nach der gemeinsamen Publikation 2022 verstarb er mit 75. Was bleibt von ihm?
Seine intellektuelle Arbeit als Vordenker. Er erkannte früh, dass das Klima die politische, die existenzielle Frage des 21. Jahrhunderts sein würde. Bruno hat uns eine politische und soziologische Sprache gegeben, um die Erde zu verstehen, die unter uns bebt. Als Mentor war er für mich wegweisend. Als engen Freund schätzte ich seine Grosszügigkeit, seinen Humor. Er verstand, dass wir Freude, Leidenschaft und Humor brauchen, um in einer so verzweifelten Zeit denken zu können.

In Ihrem jüngsten Buch «Landkrank» erkennt der Erzähler: Das Problem für die Klima­krise bin ich. Als er in einer Hitze­nacht in Paris wach liegt, kreisen seine Gedanken: Ein Ventilator braucht zu viel Strom, verursacht noch mehr Hitze. Sein Morgen­kaffee zerstört Böden. Seine Kleidungs­stücke verursachen Emissionen und Treibhaus­gase. Wie können wir mit diesen Tatsachen überhaupt noch leben?
Natürlich können wir nicht leben, wenn wir permanent daran denken. Deshalb verdrängen viele von uns ihr Unbehagen an der Klima­krise, weil sie ihnen Angst macht. Diese verbreitete Klima­apathie ist genauso schlimm. Mein Buch fordert nicht dazu auf, dass wir alle im Klima­fatalismus aufgehen!

Sondern?
Als Soziologe ist es nicht meine Aufgabe, Hoffnung zu stiften oder Auswege aufzuzeigen. Ich versuche, unserer emotionalen und existenziellen Landschaft in der Klima­krise eine Sprache zu geben. Etwa zu zeigen, dass wir als zerstörerische Wesen Spuren auf diesem Planeten hinter­lassen. Wie wir damit umgehen, dass unser Lebens­raum zerbricht. Dass unsere Idee von unbegrenzter Freiheit in der Klima­krise nicht mehr funktioniert. Ich erhalte E-Mails von jungen Menschen, die schreiben, das Buch habe ihnen geholfen, ihre Gefühle in der Klimakrise zu benennen. Ich denke, es hat etwas Beruhigendes, wenn wir eine Sprache für unser Unbehagen haben. Sie hilft, uns der Krise zu stellen.

Zur Rezension von «Landkrank»

Um den dänischen Soziologen Nikolaj Schultz entsteht gerade ein internationaler Hype. Kaum einmal hat ein Buch über die Klimakrise so viel Aufbruch­stimmung ausgelöst wie sein Essay «Landkrank». Feuilleton-Redaktor Daniel Graf hat sich mit dem Buch intensiv befasst, hier lesen Sie seine Rezension.

Was macht es mit Ihnen, wenn Sie sich eingehend mit dem menschlichen Verhalten in der Klima­krise befassen?
Es wühlt mich auf, es beängstigt mich auch. Natürlich muss ich meine Arbeit auch analytisch betrachten, mich manchmal von ihr distanzieren. Dennoch erwischt sie mich immer wieder unerwartet, die Land­krankheit. So nenne ich das Gefühl, wenn ich an der Klima­krise leide. Es ist, als würde die Erde unter meinen Füssen beben. Als spürte ich, wie die Erde schrumpft. Und dann bin ich kurz­zeitig gefangen in diesem Gefühl.

Wie fühlt sich Land­krankheit an?
Es sind Gefühle der Angst, Beklemmung, der Verwirrtheit, des Kummers. Ein Schmerz über den Verlust der Welt. Die Übelkeit, der Schwindel, wenn man feststellt, dass die zerstörerischen Spuren, die wir alle hinterlassen, am Ende den Menschen in seiner Existenz bedrohen.

Wann fühlten Sie sich zuletzt landkrank?
In Venedig, wo ich für einen Vortrag hinreiste. Ich war ergriffen von der Schönheit dieser Stadt, die ich zum ersten Mal besuchte. Doch daraufhin dachte ich: Wer bin ich, dass ich mich an dieser Schönheit erfreue? Venedig ertrinkt, versinkt, weil ich dort bin. Vermutlich spiegelte man sich früher in Venedig im klaren Wasser der Kanäle. Heute spiegeln wir uns darin, weil das Wasser von uns so schmutzig ist. Die Klima­krise ist nicht eine Frage der Natur da draussen. Sie betrifft uns alle, weil wir sie mitverursachen. Damit wir mit dieser Tatsache umgehen können, sie verstehen, versuche ich, dem eine Sprache zu geben. Überhaupt nicht, um zu moralisieren.

Diese Gedanken beschäftigen auch den Erzähler in Ihrem Buch «Landkrank». Wie nahe ist er Ihnen?
Er ist eine abgewandelte Version meiner Selbst. Ein junger Mann, der an der Klima­krise verzweifelt. Die Figur basiert auf meinen Erfahrungen. Ich lag tatsächlich in einer Hitze­nacht in Paris wach, bin am nächsten Tag auf die Insel Porquerolles gereist. Dort holte mich das Unbehagen ein. Die Begegnungen und Gespräche im Buch sind real. Aber die Erzählung ist rekonstruiert. Natürlich hatte ich nicht genau in diesen Momenten alle diese Gedanken. Sie sind Teil meiner jahrelangen Arbeit. Diese Misch­form macht es zu einem schwierigen Genre.

«Landkrankheit nenne ich das Gefühl, wenn ich an der Klima­krise leide. Es ist, als spürte ich, wie die Erde schrumpft.»

Warum?
Ich verknüpfe persönliche Erfahrungen mit philosophischen und soziologischen Erkenntnissen. Ich bin kein Schrift­steller. Als Soziologe halte ich viel von Begriffen und Konzepten. Doch ich wollte kein Fachbuch schreiben. Angesichts der existenziellen Krise heute müssen wir in der Wissenschaft auf neue Arten schreiben. Wir müssen Gedanken spürbar machen, nicht bloss beschreiben. Mein Buch ist keine soziologische Literatur, sondern eine Art literarische Soziologie. Haben Sie es gerne gelesen?

Ja, es ist ehrlich. Doch ich fühlte mich auch schlecht dabei …
… es ist nicht nur eine erfreuliche Lektüre.

Ich dachte an meine letzten Ferien. Ich flog. Meine Unterkunft lag in einem Naturschutz­gebiet. Ich ass Fisch. Mein tägliches Baden spülte Unmengen an Sonnen­creme ins Meer. Ich fühlte mich dabei aber nicht schlecht. Erst rückblickend fühlte ich mich schlecht für meine Gleich­gültigkeit damals.
Meine Gedanken im Buch sollen eben genau auch dieser Spaltung in uns selbst eine Sprache geben. Sie sitzen hier und denken über Ihre Ferien nach. Es macht also etwas mit Ihnen. Hoffentlich haben Sie es nicht als moralisches Buch gelesen. Das ist mir wichtig: Ich würde nie sagen, dass man sich einsperren, Öko-Selbstmord begehen oder etwa keine Kinder bekommen soll. Natürlich wollen viele in die Ferien fliegen oder Fisch essen. Gleichzeitig stellen sie fest, dass genau das ihren Lebensraum bedroht.

Sie sind für Ihre Arbeit oft unterwegs und müssen auch fliegen. Wie gehen Sie mit der inneren Spaltung um?
Genau solche Fragen schwächen die Debatte um die Klimakrise. Es heisst gleich: Ja, was ist mit dir?

Die Frage drängt sich auf. Wir hatten im Sommer 2023 in der Schweiz eine Debatte, als eine Person den Medien ein Bild eines Klima­aktivisten beim Abflug nach Mexiko zuspielte.
Ohne den Fall zu kennen: Er zeigt die Spaltung, mit der wir alle hadern. Bei den Klima­fragen wird der ökologische Fussabdruck von Aktivistinnen sofort als Totschlag­argument verwendet. Aber soll etwa jemand, der den Kapitalismus kritisiert, keine Immobilie mehr kaufen dürfen? Wir wissen ja alle, dass es praktisch unmöglich ist, komplett klima­neutral zu leben. Aber auch hier zeigt diese Kritik der Heuchelei, wie zerrissen wir in uns selbst und unter­einander sind. Ich versuche auch, diese moralisch-ethischen Brüche im Buch zu beschreiben.

Und wie gehen Sie mit diesem inneren Widerspruch um?
Wie viele andere auch: Ich versuche, beim Reisen, bei der Ernährung oder Kleidung so nachhaltig zu leben wie möglich. Wie Sie wissen, wird man dem kaum vollkommen gerecht. Meine Spaltung will ich nicht verdrängen. Wegzuschauen, weil wir das Unbehagen nicht aushalten, beunruhigt mich. Mir hilft es, hinzuschauen. Zu versuchen, meine Spaltung zu verstehen, sie zu benennen. Das hilft, um zu erkennen, dass wir alle von diesem Planeten abhängig sind, den wir zerstören. So lernen wir etwa, auf Fleisch zu verzichten oder eben mit dem Zug zu reisen. Natürlich entkommen wir so nicht komplett unserer zerstörerischen Lebens­weise. Aber wir versuchen schrittweise, sie zu ändern. Und akzeptieren, dass die Klimakrise uns Menschen verändert.

Aber wenn ich das Konsum­verhalten, die Ess- und Reise­gewohnheiten vieler Menschen sehe, mich eingeschlossen, habe ich den Eindruck: Wir haben uns kaum verändert. Viele wollen sich gar nicht mit der Krise befassen oder ihre Gewohnheiten aufgeben.
Es mag solche geben, die wegschauen und wie bisher weiterleben wollen. Aber ich glaube, es gibt nur wenige Menschen, die gar nicht klima­bewusst sind. Die Klima­wissenschaft hat sich heute durch­gesetzt. Es gibt kaum einen Politiker, der die Klimakrise bestreitet. Die Klima­leugnung ist verschwindend klein. Deshalb denke ich schon, dass wir uns verändern. Viele von uns ertappen sich doch bei ihren Gewohnheiten, die sich auf das Klima auswirken. Das beginnt schon beim Kaffee, den wir beide hier mit Bohnen aus Äthiopien in Papp­bechern trinken. Gedanken wie diese erwischen uns mal hier, mal dort, auch wenn sie nicht laufend präsent sind. Wie alt sind Sie?

Siebenunddreissig.
Dann haben Sie vor knapp zwanzig Jahren die Mittel­schule abgeschlossen. Nehmen wir an, Sie hätten ein Zwischen­jahr in Asien verbringen wollen. Sie wären vermutlich mit einem Gefühl am Flughafen gesessen, dass Sie die Welt vor sich haben, um sie zu entdecken. Heute aber gehen viele von uns nicht mehr mit einem unbeschwerten Gefühl durch einen Flughafen. Und wenn doch, dann holt es uns vielleicht später ein, wie Sie mit Ihren Ferien. Das meine ich, wenn ich sage, dass die Klimakrise uns verändert – wenn auch subtil. Und die Jungen empfinden das noch einmal stärker als unsere Generation.

Inwiefern?
Als ich zum ersten Mal vom Klima­wandel hörte, war ich vielleicht elf Jahre alt. Meine Eltern, die mich in den 1990er-Jahren grosszogen, in der Blüte des Liberalismus und Kapitalismus, versicherten mir: Keine Sorge, das kriegen wir wieder hin, wie beim Ozonloch. Auch als Erwachsener bekam ich das weiter zu hören, obwohl mir klar geworden war, dass wir es eben nicht einfach hinkriegen. Ich denke, das hat einen Einfluss darauf gehabt, wie ich diese Probleme empfinde, selbst wenn ich täglich über sie lese. Die Jungen heute haben das aber nicht gesagt bekommen, weil sich die Sache offensichtlich nicht einfach wieder einrenken wird. Sie sind klimatisch verzweifelt wie kaum eine Generation zuvor. Klimaangst und Klima­kummer sind verbreitete psychische Leiden. Heute haben viele Junge erkannt, dass es vor ihnen eine Generation gab, die nicht nur von ihrem Land, sondern auch von ihrer Zukunft gelebt hat.

Von diesem Generationen­konflikt schreiben Sie auch in Ihrem Buch «Landkrank». Sie erzählen von Weihnachten in Dänemark. Ihre Grossmutter zog sich schweigend zurück, als Ihr Bruder anmerkte, in Ihrer Kindheit habe es an Weihnachten geschneit.
Meine Grossmutter liest viel über die Klima­wissenschaft, ist von der Dringlichkeit der Klima­frage überzeugt. Aber für sie darf sie nicht unsere Freiheit kosten. Und das macht durchaus Sinn, denn sie hat nach dem Krieg für Freiheit und Wohlstand gekämpft und mir damit meinen Wohlstand und meine Bildung ermöglicht. Nun erkennt sie gegen Ende ihres Lebens, welchen Preis das hatte. Was ihre Generation erarbeitete, hatte katastrophale Folgen für den Planeten. Sie hat meine Zeit auf dieser Welt und die nachkommender Generationen gefährdet – wenn auch nicht mit Absicht. Das ist so schmerzhaft, dass sie nicht darüber sprechen kann. Aber wir sollten über diesen Konflikt sprechen, mit gebotener Diplomatie. Im Sinne von: Meine Generation steht hier, deine dort – und wir versuchen gemeinsam, ein Bündnis zu schliessen.

Sie reflektieren in «Landkrank» am Ende das Segeln: Man habe einen Horizont vor Augen, aber müsse sich unterwegs anpassen, um voran­zukommen. Ist das Segeln eine Metapher für den Umgang mit der Klimakrise?
Die Idee, dass wir vorankommen, solange wir schneller und schneller in Richtung Ziel eilen, ist in gewisser Weise rückläufig. Fahren wir auf einem Boot einzig mit der Zielgeraden im Blick los, prallen wir gegen einen Felsen, eine Welle oder gegen ein anderes Boot. Stattdessen müssen wir uns dem Wind, dem Wellen­gang anpassen. Nach oben und unten, nach links und rechts schauen. Mit den Menschen um uns sprechen, die Technik des Bootes nutzen. Und uns mit all diesen Mitteln den Weg bahnen. Ich stimme Ihnen zu, das könnte für einen Bewältigungs­mechanismus stehen. Und vielleicht lernen wir so, uns in dieser Welt zu bewegen.

Zur Autorin

Tuğba Ayaz, 1986 in St. Gallen geboren, wuchs im Appenzeller­land auf und lebt in Zürich. Sie ist als freie Reporterin tätig. Für die Republik interviewte sie zuletzt den Schriftsteller Necati Öziri.