Autor Necati Öziri: «Mein Zugang zur Literatur ist über das gesprochene Wort.»

«Identität ist keine Couch, auf der ich mich ausruhe»

Necati Öziri hat mit «Vatermal» sein gefeiertes Roman­debüt über das Aufwachsen ohne Vater vorgelegt. Im Gespräch redet er über das Verhältnis zu seinen Figuren und er verrät, warum er nichts von post­migrantischer Literatur hält.

Von Tuğba Ayaz (Text) und Peter Wolff (Bilder), 08.01.2024

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Vorgelesen von Danny Exnar
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Herr Öziri, Sie sagten in einem Podcast-Interview, wir schuldeten es der Geschichte, dass wir uns jeden Morgen als Erstes fragen, was wir tun können, damit sich Deutschland nicht wieder in ein faschistisches Land verwandelt. Was können die Menschen in Deutschland oder anderswo tun?
Ich schreibe Texte, die einem mitgeben sollen: So darf die Welt nicht sein. Solche Gefühle kann die Literatur anstossen und daraus resultieren dann Fragen. Etwa: Was kann ich tun, damit die Welt nicht so bleibt? Aber die Antworten darauf liegen ausserhalb der Sphäre der Kunst. Menschen können etwa in Parteien eintreten und ihre Programme rehumanisieren. Sie können Geflüchtete zu Ämtern begleiten oder sich in der Seenot­rettung engagieren. Es gibt genug zu tun. Aber jede Person muss für sich selbst die Antworten finden.

In Ihrem Roman «Vatermal» lernen sich die Eltern der Haupt­figur Arda in Deutsch­land kennen. Beide haben die Türkei aus unter­schiedlichen Gründen verlassen. Inwiefern prägt das Arda?
In Arda kommen zwei Formen der Migration zusammen. Seine Mutter geht den Weg der sogenannten Arbeits­migration, weil ein Erdbeben in der Türkei ihre Existenz zerstört. Sein Vater geht den Weg der sogenannten politischen Flucht. Die beiden Formen der Migration lassen sich in meinen Augen aber kaum trennen. Und für beide Formen gilt: Migration bedeutet fast immer sozialen Abstieg.

Finden Sie?
Ja. Sie nicht?

Nicht zwingend. Ich weiss etwa von meinen Eltern: Wären sie in der Türkei geblieben, hätten sie kaum das Mittelstands­leben geführt, das sie inzwischen in der Schweiz führen.
Interessant. Als was sind Ihre Eltern gekommen?

Als Arbeiter.
Ich kann über die Schweiz nichts sagen. Aber hier in Deutschland arbeiten viele geflüchtete Menschen, die als Ärzte gekommen sind, als Kranken­pfleger.

Zum Autor und zu seinem Roman

Necati Öziri, 1988 geboren, ist im Ruhr­gebiet aufgewachsen und lebt heute in Berlin. Er war Dramaturg am Maxim Gorki Theater, künstlerischer Leiter des dortigen Studio Я und des inter­nationalen Forums des Theater­treffens der Berliner Festspiele. Als Theater­autor schreibt er unter anderem für das National­theater Mannheim oder das Residenz­theater München. Für das Schauspiel­haus Zürich schrieb er eine «Korrektur» von Richard Wagners «Ring der Nibelungen». Beim Lesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis 2021 gewann er in Klagenfurt den Kelag- und den Publikums­preis. Sein Debüt «Vatermal» stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Der Roman erzählt eine Familien­geschichte über drei Generationen. Arda liegt mit Organ­versagen im Spital. Er weiss nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Abwechselnd besuchen ihn seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin. Die beiden haben seit zehn Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Arda schreibt seinem Vater, der die Familie noch vor seiner Geburt verlassen hat, einen Brief. Mit dem Unbekannten hat Arda einzig einen Fleck auf der Wange gemein, ein Vatermal. In seinem Brief erzählt er von den Stunden auf dem Ausländer­amt, von Polizei­kontrollen, von seiner Einbürgerung, von seinen Freunden Boyan, Danny und Savaş, vom Erwachsen­werden. Gezeichnet von sozialen und politischen Umständen hadern die Figuren mit dem Leben und machen doch ihren Weg.

Necati Öziri: «Vatermal». Claassen, Berlin 2023. 304 Seiten, ca. 35 Franken.

Das gibt es natürlich auch in der Schweiz. Aber geht es Menschen, die beispiels­weise aus einem Dorf in der Türkei nach Deutsch­land zogen, wirtschaftlich nicht besser – selbst wenn sie sehr hart arbeiten müssen?
Im Dorf wären sie Arbeiter, so wie alle anderen auch. In Deutschland aber sind sie Bürger zweiter Klasse. Sie verdienen weniger, sind über­proportional von Armut betroffen, haben grössten­teils keinen deutschen Pass, dürfen also nicht wählen. Das alles meine ich mit sozialem Abstieg. Es gibt wenige, die den Aufstieg schaffen. Die Statistik ist da eindeutig. Ich will Ihnen Ihre individuelle Erfahrung nicht absprechen. Ich glaube aber, dass Migration immer auch bedeutet, noch mal von vorne anzufangen, und zwar ganz unten.

Man muss sich erst einmal etwas erarbeiten.
Ja, so wird einem das immer gesagt. Man müsse doppelt so gut sein, heisst es, aber das meint eigentlich, man soll sich mit der Hälfte zufrieden­geben. Man wird unfair behandelt.

So geht es Ihren Figuren in Ihrem Roman permanent. Und doch stellen Sie sie nicht als Opfer ihrer Umstände dar.
Schön, dass Sie das so lesen. Mich interessieren keine Geschichten von Verlierern, aber auch nicht von Heldinnen. Menschen sind drei­dimensionale Charaktere. Meine Figuren haben eine Handlungs­macht. Für mich sind das nicht drei Ausländer …

… für mich auch nicht, und doch nehme ich sie als Figuren mit einer türkischen Migrations­geschichte wahr, weil auch ich sie habe.
Das ist okay, Sie docken darüber an. Aber das ist kein vollständiges Bild von den Figuren. Für mich sind das Arda, Aylin und Ümran. Sie alle bringen eine eigene Geschichte mit. Migration ist nur ein Teil davon. Da ist zum Beispiel eine Mutter-Tochter-Geschichte, eine Vater-Sohn-Geschichte. Ich erzähle, was es bedeutet, seine besten Freunde zu verlieren. Über das Privileg, lebens­lange Freund­schaften zu haben. Über das Raus­kämpfen aus einem Kleinstadt-Ich. In all dem suche ich das universell Menschliche. Man kann also auch darüber einen Bezug herstellen.

Bestimmt.
Die Schrift­stellerin Karosh Taha hat in einem wunder­baren Essay mal geschrieben, Bücher seien wie Kaffee­satz. Was die Menschen darin lesen, sage mehr über sie aus als über das Buch. Mit welcher Figur man sich in meinem Roman identifiziert, hat viel mehr mit einem selbst zu tun als mit der Figur.

Wie denken Sie über die Debatten zu Repräsentation, also dass es möglichst diverse Figuren braucht, mit denen sich verschiedene Menschen identifizieren können?
Das ist alles gut und wichtig, aber so funktioniert mein Schreiben nicht. Überhaupt nicht.

Sie verstehen Schreiben als eine Übung im Ehrlichsein, sagten Sie in einem Fernseh­beitrag. Wie meinen Sie das?
Ich meine damit, dass ich nicht darüber nachdenke, wie andere den Text lesen. Ich denke nicht: Ich schreibe einen anti­rassistischen Roman oder erzähle von trans­generationalen Traumata in Familien. Ich frage mich auch nicht, wie meine Figuren rüber­kommen, wenn sie Drogen verkaufen oder boshaft sind. Ich gehe ganz nah an meine Figuren heran, höre ihnen zu, zeige sie mit all ihren Fehlern. Das ist für mich ehrlich sein.

Ehrlich zu sein bedeutet auch, hinzuschauen, sich mit Gefühlen zu befassen. Wie schmerzhaft ist das?
«Vatermal» ist ja ein auto­fiktionaler Roman. An die eigenen Erfahrungen und Erinnerungen heranzu­gehen, ist immer schmerzhaft. Aber dann fiktionalisiert man sie und die Figuren fangen an, Dinge zu tun, mit denen man selbst nicht gerechnet hat. Das ist der schönste Moment in der Kunst. Das Erzählen einer Geschichte ist ein ermächtigender Akt, auch wenn es schmerzhaft ist.

In Ihrer Autoren­biografie steht, in Ihren Texten sei «natürlich alles wahr». Wie nahe sind Sie Ihrer eigenen Geschichte mit diesem Roman gekommen?
Ich weiss gar nicht. Das Dilemma steckt ja schon darin, dass meine «eigene Geschichte» bereits eine Geschichte ist. Was ich an der auto­biografischen Lesart problematisch finde: Sie wird dem Buch und den Figuren nicht gerecht.

Inwiefern nicht?
Meine Figuren sind wie meine Kinder. Sie sind mir ein bisschen ähnlich, gleich­zeitig auch eigen­ständig. Sie hassen nichts mehr, als wenn ich sie nur als Verlängerung meiner selbst sehe. Und nichts brauchen sie mehr, als dass ich ihnen zuhöre, ohne sie in eine Richtung zu lenken. Ausserdem tut die auto­biografische Lesart so, als sei das Ich im Buch fiktiv und das Ich in der Welt wahr. Es gibt dieses Wahre Ich aber nicht. Erfahrungen sind genauso Geschichten und Fiktion.

Wie meinen Sie das?
Erfahrungen werden zu Geschichten. Wir können uns nicht erinnern, ohne im gleichen Moment eine Geschichte zu erzählen. Wenn Sie mir zum Beispiel eine Erinnerung aus Ihrer Kindheit erzählen, kann es gut sein, dass sich Ihre Mutter oder Geschwister anders an die gleiche Situation erinnern. Der Autor Deniz Utlu sagte bei einer Lesung treffend: Das Erzählen braucht das Erinnern, aber das Erinnern braucht auch das Erzählen. Ich stimme dem zu. Unsere Identität ist immer in Bewegung. Deswegen ist für mich Identität keine Couch, auf der ich mich ausruhe.

Irgendwann festigt sich unsere Identität doch?
Ich möchte durch­lässig und wandelbar bleiben. Ich glaube nicht, dass ich irgendwann sage: Ich bin gefestigt. Und so schreibe ich auch immer über Menschen, die unterwegs sind. Wer ankommt, interessiert mich nicht.

Warum nicht?
Weil ich die Reise schöner finde, als an einem Ort zu verweilen.

In Ihrem Roman schreibt die Haupt­figur Arda einen Brief an seinen Vater, den er nicht kennt. Was hinterlässt die Leer­stelle des Vaters in der Familie?
Sie bedeutet vor allem Armut. Arda wächst in einem allein­erziehenden Haushalt auf, im Ruhrgebiet, mit einer Migrations­geschichte. Er gehört also in drei Punkten zu den Gruppen, die am meisten von Armut betroffen sind. Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft, in der noch immer fast alles auf einen Allein­versorger ausgelegt ist. Allein­erziehende Mütter sind vor diesem Hinter­grund die Verliererinnen der letzten zwanzig Jahre.

Sie zeigen aber auch, dass sich Mütter unter­einander als Familie organisieren.
Klar, die Frauen im Roman sind nicht einfach allein­erziehend, weil die Männer fehlen. Arda und Aylin wachsen in einem starken Netzwerk von Frauen auf, die sich gegen­seitig auch helfen. Während die eine etwa bei McDonald’s arbeitet, passt die andere auf die Kinder auf.

Arda schreibt an einer Stelle, er hätte den Vater gebraucht, um zu lernen, wie er «Wut in Taktik verwandelt». Ist sein Brief auch die Suche nach einer männlichen Identität?
Arda fehlt ein positives männliches Vorbild. Er lernt nicht, wie man klug mit der Gewalt der Welt umgeht. Er sieht stattdessen, dass man wegrennt oder häusliche Gewalt ausübt. Nun existiert Männlichkeit ja nicht nur in den eigenen vier Wänden. Aber auch ausserhalb der Familie findet er keine Vorbilder. Irgendwann erkennt er: Meine Freunde sind in der Zeitung mit Balken vor den Augen. Und Arda wächst in einer Gesellschaft auf, die ihm permanent sagt: Wir brauchen dich nicht. Das mindert sein Selbst­bewusstsein. Er fragt sich, warum diese Gesellschaft höchstens über ihn redet, aber nicht mit ihm.

Ich habe gelernt, dieses Gefühl der Ausgrenzung zu ignorieren. So trifft es mich nicht mehr.
Wenn mich die Polizei anhält, kann ich es aber nicht ignorieren.

Verstehe. Als Mann ist das anders?
Als nicht weisser Mann, ja, nicht als Mann generell, da müssen wir differenzieren. Aber es stimmt: Arda steht andere Kämpfe durch als seine Schwester Aylin. Das heisst überhaupt nicht, dass die Kämpfe weniger hart sind, nur sind sie eben anders. Aylins Geschichte spielt sich eher in privaten Räumen ab: bei Freundinnen, bei ihrer Mutter, später in ihrer Pflege­familie. Während sich Ardas Geschichte eher im öffentlichen Raum abspielt: auf dem Ausländer­amt, am Bahnhof, auf den Strassen. Auf ihn wirkt sich das Gefühl, ausgegrenzt zu werden, anders aus. Aber am Ende gilt für beide: Wenn sie Johanna und Sebastian hiessen, würden sie dieses Gefühl gar nicht kennen.

«Die Welt ist eine rassistische. Die Welt ist eine sexistische. Also erzähle ich auch davon.»

Arda erzählt über die unausge­sprochene Regel in seiner Familie, man müsse sich im Ausländeramt, in Arzt­praxen oder beim Arbeitsamt benehmen wie «Ausländer». Worin zeigt sich das?
Etwa darin, dass sie auf dem Amt Türkisch sprechen oder flüstern, damit sie keiner versteht. Das ist auch die Erwartungs­haltung, die an sie heran­getragen wird: still sein. Womit natürlich auch mitschwingt, keine Forderung zu stellen, sich zu beugen.

Mit dem Brief an den Vater fragt sich Arda, wer sein Vater ist, den er nur von Erzählungen kennt. Doch geht es im Grunde darum, wer er selbst ist?
Ich glaube, wir alle erwarten von unseren Eltern Antworten auf das Leben, darauf, wer wir sind. Aber wir stellen irgend­wann fest, wir müssen sie uns selbst geben. Auch Arda kommt an diesen Punkt. Als er die Bausteine seiner Geschichte zusammen­setzt, nimmt er sein Leben selbst in die Hand. Das Erzählen wird für ihn zu einem ermächtigenden Akt. Dabei sucht er nach einer eigenen Sprache. Das wiederum zeigt sich am stärksten im Sound des Romans.

Inwiefern?
Den Figuren wird permanent Zeit geraubt: in Polizei­kontrollen, auf dem Ausländer­amt, weil sie immer zu Fuss gehen, statt sich ein Ticket für den Bus leisten zu können. Dieser Zeit­raub spiegelt sich wider in knappen, schnörkel­losen Sätzen. Wenn ich von Arda und seinen Jungs erzähle, sind da Schnelligkeit und Beat. Die Geschichte von Ardas Mutter, Ümran, wiederum erzähle ich langsamer, weil sie zum Beispiel von einer Kindheit in den 1960er-Jahren in der Türkei erzählt und Ümran da noch nicht permanent Zeit gestohlen wird. Und Ardas Schwester, Aylin, klingt hoffentlich nochmals anders. Ich wollte, dass alle drei Figuren einen eigenen Sound haben.

Sie sagten bei einer Lesung, Sie hätten sich den Text laut vorgelesen, um am Klang zu feilen.
Ich glaube, das kommt vom Theater. Das ist die Kunst­schule, in der ich gross geworden bin. Dort geht es immer darum, wer zu wem spricht, und das Publikum hört den Text. Mein Gehör ist mein am besten funktionierendes Organ. Ich könnte Ihnen nicht sagen, welche Farbe die Tür in diesem Café hat, wo ich oft hinkomme …

… aber wie sie klingt?
Genau, ich präge mir Klänge ein. So ist auch mein Zugang zur Literatur über das gesprochene Wort. Ich lese zum Beispiel auch extrem langsam, weil ich im Kopf laut mitspreche. Miryam Schellbach [Programm­leiterin seines Verlags; Anm. der Red.] sagte einmal: «Necati, man merkt, ob da jetzt Griff oder Klinke steht, ist für dich nur in zweiter Linie wichtig. In erster Linie ist für dich entscheidend, wie es im jeweiligen Satz klingt.» Und das stimmt. Klinke hat zwei Silben und Griff eine. In Klinke steckt für mich schon die Bewegung drin.

Am Anfang Ihres Romans stehen Auszüge aus Christa Wolfs «Kassandra». Welche Rolle spielt dieser Text für Sie?
Ich bewundere Christa Wolfs Texte für ihren eigenen Klang. Man liest einen Christa-Wolf-Text und weiss sofort, das ist ein Christa-Wolf-Text. Auch ich wollte einen Text mit einem eigenen Sound schreiben. Ich erwähne Kassandra auch wegen der Erzähl­situation, die mit Ardas vergleichbar ist: Kassandra weiss, sie wird gleich sterben. Und geht nochmals ihr Leben durch. Auch ihr gibt das Erzählen Würde. Und Christa Wolf schreibt immer nur, wie sich die Welt anfühlt. Das ist auch mir wichtig. Trotzdem steckt in dem fast schon persönlich privaten Gefühl immer eine politische Dimension. Das alles bewundere ich an Christa Wolfs Schreiben.

Schreiben geht für Sie am besten weit weg von zu Hause. Warum?
Mit Distanz sehe ich die Dinge klarer. Und da ich beim Schreiben den Figuren zuhöre, der inneren Stimme, brauche ich dafür Ruhe. Das geht in Berlin nicht. Ich bin das Klischee eines Autors, schrecklich anstrengend für mich selbst und mein Umfeld. Ich schreibe, vergesse die Zeit, vergesse zu essen. Ich stecke in einem Tunnel.

Sie sagten am Anfang unseres Gesprächs, dass Ihr Schreiben nicht nach Kategorien der Repräsentation funktioniert. Im Sinne von: Meine Figuren müssen eine türkische Migrations­geschichte haben, weil auch ich eine habe …
… deswegen nerven mich solche Fragen. Das merken Sie ja. Die Fragen gehen immer in diese Richtung …

Wir haben doch viel über das Schreiben gesprochen.
Alles gut. Nur wissen Sie: Ich wurde neulich in einem Interview gefragt, ob die Geschichten der ersten und zweiten Generation von Gast­arbeitern nicht genug erzählt worden seien. Und ich dachte nur: Ihr merkt nicht, wie viel Gewalt in dieser Frage steckt. Gast­arbeiterinnen sind Menschen. Genauso gut könnte man also fragen, ob die Geschichten von Menschen nicht genug erzählt wurden. Und meine Antwort ist: Nein, natürlich nicht. Aber diese Frage hat schon eine ganz bestimmte Annahme, einen bestimmten Blick auf die Figuren und die Literatur. Dem wider­spreche ich. Sie geht davon aus, es gäbe sogenannte post­migrantische Literatur. Aber die gibt es nicht für mich.

Warum nicht?
Das ist für mich ein taktischer Kampf­begriff. Auch post­migrantisches Theater ist für mich ein strategischer Begriff. Auch beim Schreiben eines Theater­stücks denke ich nicht: Ich erzähle jetzt eine Geschichte mit Migrantinnen.

Verstehe. Trotzdem ist es doch wichtig, dass es in Deutschland Theater wie das Maxim Gorki in Berlin gibt, weil es einen Zugang hat, den andere Häuser nicht haben.
Dem Satz würde ich zustimmen, aber aus anderen Gründen.

Nämlich?
Weil da gutes Theater gemacht wird, nicht Migranten­theater, auch nicht Postmigrantinnen­theater. Sie behandeln einfach Themen, die uns alle beschäftigen. Verstehen Sie?

Ja. Trotzdem ist Migrations­geschichte ein Teil von Ihnen oder von mir, von vielen anderen, die schreiben. So wie bei manchen vielleicht ihre Haut­farbe Thema ihrer Kunst ist. Diesen Anteil kann man ja nicht von sich entkoppeln.
Mein Ausgangs­punkt ist die Welt, der Mensch. Und nicht die Gast­arbeiter. Die Welt ist eine rassistische. Die Welt ist eine sexistische. Also erzähle ich auch davon. So findet das einen Weg in meine Kunst. Spricht man von Kategorien wie post­migrantischer Literatur oder feministischer Lyrik, bleibt der Blick auf die Literatur ober­flächlich. Das Problem fängt ja schon beim Begriff Auto­fiktion an. Welches Schreiben geht denn nicht von der eigenen Erfahrung und Erinnerung aus? Goethes «Leiden des jungen Werthers» ist wahr­scheinlich ein auto­fiktionaler Roman. Aber geht jemand mit Migrations­geschichte von seiner Erfahrung aus, heisst es: Da hat jemand seine eigene Geschichte aufgeschrieben, voll spannend. In meinem Buch versuche ich, universell Menschliches zu beleuchten. Und ich bekomme viele Rück­meldungen von Menschen, die die Geschichte berührt hat.

Was schreiben Ihnen die Menschen?
Manche erzählen von einer ähnlichen Familien­geschichte. Andere, dass sie dankbar sind, Einblick in eine andere Welt bekommen zu haben. Wieder andere schreiben, dass sie die Sprache gepackt hat. Da ich vom Theater komme, sehe ich Kunst immer als einen Anlass für eine Begegnung. Deshalb mag ich auch die Lesungen zum Buch so. Ich schätze wirklich den Moment: Wir atmen kurz im gleichen Raum die gleiche Luft und treffen uns. Das ist es, was mich interessiert: wenn Literatur echte Begegnung schafft.

Necati Öziri ist am 9. Januar 2024 zu Gast im Kaufleuten Zürich. Tuğba Ayaz moderiert die Lesung mit Gespräch.

Zur Autorin

Tuğba Ayaz, 1986 in St. Gallen geboren, wuchs im Appenzeller­land auf und lebt in Zürich. Sie hat Übersetzen und Dolmetschen studiert und ist heute als freie Reporterin tätig. Für die Republik erzählte sie zuletzt die Geschichte einer Frau, die knapp einem Femizid entkommen ist.

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