Überlebt

Alle zwei Wochen tötet in der Schweiz ein Mann eine Frau. Gabriella ist dem Femizid knapp entkommen. Jetzt erzählt sie ihre Geschichte, um das Grauen zu beerdigen.

Von Tuğba Ayaz (Text) und Michelle Urra (Illustrationen), 01.07.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Eine Warnung: In diesem Beitrag werden brutale Handlungen eines Mannes gegenüber seiner Partnerin beschrieben. Anlauf­stellen finden Sie am Schluss des Beitrags.

Gabriella rang nach Luft. Sie zählte: Eins. Zwei. Drei. Sie dachte an ihr zweijähriges Kind. Wenn ich je wieder atme, ist Schluss. Vier. «Ich bringe dich um!» Fünf. Gabriella spürte ihren Körper nicht mehr. Sechs. «Ich bringe dich um!» Sieben. Sie lag rücklings auf ihm. Er würgte sie. Acht. Sie rang nach Luft. Ich will mein Kind wieder­sehen. Neun. Sie riss sich los, biss seinen linken Daumen blutig, nahm ihre Schuhe, rannte die Treppen der vier Stock­werke hinunter, raus auf die Strasse.

Sie stürmte ins nächste Wohnhaus, versteckte sich beim Eingang unter der Treppe, rief die Polizei an. Ihr Kopf schmerzte. Sie tastete ihr Gesicht ab, spürte Schwellungen. Sie griff sich an den Hinter­kopf, Haar­büschel fielen aus. Als sie aus dem Fenster im Treppen­haus das Blaulicht sah, rannte sie hinaus und sagte der Polizistin:

«Entschuldigung, ich habe ihm in den Finger gebissen.»

Die Polizistin legte ihr den Arm um die Schultern. Sie fuhr sie in die Not­aufnahme. Dort bekam Gabriella intravenös ein Beruhigungs­mittel. Zwei Personen der Rechts­medizin fotografierten ihre Verletzungen. Nahmen Mass von den Würge­malen an ihrem Hals, erklärten ihr, diese seien strafrechtlich entscheidend. Sie nahmen ihr Blut ab, um es auf Alkohol- oder Drogen­gehalt zu prüfen.

Nach den Unter­suchungen sagte die Polizistin, sie solle jetzt schlafen. Gabriella kämpfte ums Überleben.

«Ich will leben»

An diesem Abend im Januar 2020 war Gabriella dem Tod nahe. Heute lebt sie ein zweites Leben. Nur noch bruchstück­haft erinnert sie sich an das Leben davor; verblasst sind die Erinnerungen an ein vermeintliches Glück, das ihr zur Lebens­bedrohung wurde. Manche Details aber haften noch in ihrem Gedächtnis, sosehr sie sie auch löschen will. «Ich erinnere mich, wie ich die Sekunden im Würge­griff zählte. Mein Kind vor mir sah und dachte: Ich will leben. So befreite ich mich mit letzter Kraft.»

Gabriella, 43, sagt entschieden: «Ich habe einen Berg erklommen. Schmerzvoll war der Weg hinauf. Jetzt liegt er hinter mir.»

Mit verbundenen Händen sitzt sie mir Anfang März 2023 in ihrem Wohnzimmer gegenüber. Sie erholt sich von einem Eingriff, leidet an einer chronischen Erkrankung. Wenn sie arbeitet, putzt sie Wohnungen. Die Sonne wärmt durch zwei grosse Fenster die einfache Zweizimmer­wohnung in einem Vorort Zürichs. Vor knapp zweieinhalb Jahren war das der Ort des Neubeginns. Damals sagte sich Gabriella nach fünf Monaten im Frauenhaus: Ich bin wieder stark genug, um mit meinem Kind alleine zu leben. Und fand diese Wohnung.

Gabriella heisst in Wirklichkeit anders. Sie will unerkannt bleiben, weil sie sich vor ihrem Ex-Partner und seinem Umfeld schützen will. Als wir uns im Februar 2023 zum ersten Mal in einer Fachstelle für gewalt­betroffene Frauen treffen, sagt Gabriella, dass sie ihre Geschichte mit Namen und Bild erzählen möchte. «Ich mache etwas ganz oder gar nicht.» Nach unserem fast fünf­stündigen Gespräch im März bei ihr zu Hause überdenkt sie ihren Übermut. Drei Tage später schreibt sie per SMS, auf Anraten ihrer Familie wolle sie anonym bleiben.

Nicht alle Schilderungen Gabriellas lassen sich bis ins Letzte überprüfen, aber ihre Erinnerungen decken sich mit den Protokollen der Einvernahmen durch die Polizei und die Staats­anwaltschaft, den Verfügungen, der Anklage­schrift, dem Urteil. Gesammelt in einer blauen Papier­mappe, die sie mir nach unserem ersten Treffen überreicht. Beschriftet in ihrer Handschrift mit «Prozess» und dem Datum des Tages, an dem sie Todesangst litt.

Gabriella wäre es beinahe so ergangen wie den 21 Frauen, die im Jahr 2020 Opfer eines Tötungs­delikts wurden. In der Schweiz stirbt im Schnitt alle zwei Wochen eine Person infolge häuslicher Gewalt. Im Jahr 2022 wurden 15 Frauen in einer ehemaligen oder bestehenden Partnerschaft getötet. Laut Erhebungen der Welt­gesundheits­organisation und der Europäischen Union erlebt ungefähr jede fünfte Frau in Europa Gewalt in der Partnerschaft.

Im Jahr 2022 wurden in der Schweiz knapp 20’000 Straftaten registriert, die auf häusliche Gewalt zurückgehen; das ist eine Zunahme von 3,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Allein im Kanton Zürich rückte die Polizei vergangenes Jahr zwanzigmal am Tag wegen häuslicher Gewalt aus. Hinzu kommt eine hohe Dunkel­ziffer an Gewalt­fällen, von denen die Behörden und Fach­stellen gar nie erfahren.

Die statistische Erfassung von Frauen­morden gestaltet sich schwierig. Es fehlen einheitliche Kriterien, auch für die Definition des inzwischen gängigen Begriffs Femizid. Ist jede Tötung einer Frau in einer Partnerschaft auch ein gezielter geschlechter­spezifischer Mord? Laut der Uno nicht. Sie hat vergangenes Jahr statistische Richtlinien zur Erfassung von Femiziden heraus­gegeben. Gemäss diesen muss bei einem Femizid eine geschlechter­spezifische Intention erkennbar sein. Bei vielen Frauen­morden in Partnerschaften sei dies tatsächlich auch der Fall, weil sie sich oftmals auf Motive wie «männliche Kontrolle» zurück­führen liessen.

Am Anfang war Harmonie

Wo ist Gabriella dem damals 32-jährigen Mann erstmals begegnet, der sie beinahe erwürgen sollte? «Stellte ihn mir jemand aus dem Freundes­kreis vor? Am Imbiss­stand, wo ich arbeitete? Ich weiss es nicht mehr.» Sie erinnert sich aber, dass sie im Frühjahr 2019 ein Paar wurden.

Die Tage waren lau, die beiden flanierten den Zürichsee entlang. Er arbeitete als Hilfskoch in einem Lokal, Gabriella halbtags am Imbiss­stand. Nachmittags in seiner Zimmer­stunde holte er sie mit Blumen von der Arbeit ab. Ihr schmeichelte die Aufmerksamkeit, doch sie blieb verhalten. Sie war damals erst seit einem Jahr von ihrem Mann getrennt, mit dem sie ein gemeinsames Kind hatte. Er hatte sie ohne Abschied verlassen, nach Jahren der Partnerschaft und Ehe.

Ihr Mann hatte Vollzeit für das Kind gesorgt, während sie im Berner Oberland zehn Stunden am Tag Villen reinigte. Eine Knochen­arbeit, für die sie im Alter von 24 Jahren ihre Heimat in Südeuropa verlassen hatte. Als Gabriella mit ihrem Kind alleine da stand, betreuten mal Freundinnen, mal eine Tages­mutter auf einem Bauernhof das Kind, während sie weiterhin die Villen reinigte. Die Arbeit zehrte sie aus, der Schmerz der Trennung nagte an ihr, die ungeregelte Betreuung ihres Kindes belastete sie. Eine flüchtige Bekannte bot ihr an, sie könne vorüber­gehend bei ihrer Mutter in Zürich leben. Die würde das Kind halbtags betreuen, während Gabriella arbeitete. Mit frischem Mut zog sie im Frühjahr 2018 zu ihr.

Ein Jahr später begegnete ihr dieser Mann, der ihr Blumen schenkte, sie begehrte. Zwei Monate lang lehnte sie seine Einladungen zu sich nach Hause ab. Einmal brachte sie ihm seinen Pullover vorbei, den er bei einem Ausflug in ihrem Rucksack vergessen hatte. «Ich überraschte ihn beim Putzen. Er schien ein geordnetes Leben zu führen.» Er lernte ihr Kind kennen, machte den Clown. Gabriella berührte dieser Umgang. Nachdem sie gut drei Monate ein Paar waren, schlug er vor, sie und ihr Kind könnten zu ihm zu ziehen. Bei der Mutter der Bekannten fühlte sie sich ohnehin nicht mehr wohl, eine eigene Wohnung konnte sie sich nicht leisten. Im Sommer 2019 zog sie zu ihm.

Gabriella gefiel seine Zweizimmer­wohnung in einer kleinen Gemeinde, eine Zugstunde von Zürich entfernt. Sie hatte ihren Job beim Imbiss­stand gekündigt, bezog vorüber­gehend Sozial­hilfe. Sie verbrachten zu dritt Nachmittage auf der Spielwiese. Gingen zu zweit aus, wenn das Kind beim leiblichen Vater war. «Er kochte für uns, war fürsorglich. Ich war wirklich verliebt. Bald merkte ich aber, wie wenig ich von ihm wusste.»

So verwunderte es Gabriella, als er einmal unvermittelt in Tränen ausbrach. Und dann erzählte, ihm habe als Kind die Liebe seiner Eltern gefehlt, die in der Schweiz arbeiteten, während er bei seiner Oma in Südeuropa aufwuchs. «Ich tröstete ihn, fühlte mich aber überfordert, weil er das davor nie erwähnt hatte.»

Bald fiel Gabriella auf, dass er oft angetrunken von der Arbeit heimkehrte. Einmal ertappte sie ihn morgens mit der halben Flasche Rotwein, die vom Abend übrig war. «Ich weiss nicht, ob er davor heimlich trank und ich es nicht merkte. Ich fragte vorsichtig, ob er sich Hilfe holen wolle.» Er habe verharmlost, wie viel er trinke. Schliesslich habe sie insistiert: Du brauchst Hilfe, auch wegen deines Kindheits­traumas, der fehlenden Elternliebe.

Gabriella begleitete ihn in die erste Therapie­stunde. Er liess sich für einen Monat krank­schreiben. Und ging kein zweites Mal. Er sei nur in die Therapie gegangen, gab er ihr gegenüber zu, um einen Monat abzuhängen. Sie befremdete es, dass er in diesem Monat auch tagsüber trank. Aber weil er betrunken guter Laune war, überging Gabriella ihr Bauch­gefühl.

Bereits im August 2019 begann der Irrsinn, der Gabriella an den Rand des Abgrunds treiben sollte.

Plötzlich ein Schlag ins Gesicht

Gabriella bereitete das Frühstück vor. Es war sieben Uhr morgens. Am nächsten Tag wollte sie zu ihrer Mutter ins Ausland fahren. Sie musste noch packen, das Auto tanken, Proviant einkaufen. Als sie ihn weckte, brüllte er sie an. Sie erschrak, dachte aber: «Vielleicht weckte ich ihn grob, weil ich gestresst bin.» Er stand auf, suchte Streit.

Im Schlafzimmer griff er nach ihren Kleidungs­stücken, schmiss sie aus dem Fenster. Sie versuchte, ihn vom Fenster wegzuziehen, er stiess sie weg, machte weiter. Plötzlich schlug er sie mit der Faust ins Gesicht. «Der Schmerz lähmte mich. Aber ich schlug noch zurück.»

Die Nachbarin von unten klingelte, bot an, das Kind zu sich zu nehmen, bis sie «den Konflikt» gelöst hatten. «Sie fragte nicht, ob ich Hilfe brauche. Sie nahm das Kind, liess mich zurück.»

«Schau mal, was du gemacht hast!», schrie Gabriella weinend, zeigte auf ihre blut­unterlaufene Wange. «Wie soll ich so zu meiner Familie fahren?» Sie erinnere sich noch genau an diese beiden Sätze, an ihre pochende Wange, an die Angst. Was danach geschah, ist in ihrem Gedächtnis zerstückelt: Er entschuldigte sich mehrmals, erklärte es als Ausrutscher, ging zur Arbeit, sie blieb mit der Verzweiflung allein.

«Alarmierten Sie seine Schläge?», frage ich Gabriella.

«Nein», sagt sie. «Zwar erschrak ich, spürte, es wäre besser, mich zu trennen. Nachdem er sich mehrmals entschuldigt hatte, sich rausredete, mir vorwarf, ich hätte ihn zurück­geschlagen, überredete er mich. Ich suchte Erklärungen für sein Verhalten, begründete es etwa mit seinem Kindheits­trauma.»

Gabriellas Angst vor einer zweiten Gewalttat wuchs, wenn er nachts betrunken in die Wohnung stolperte, sie anpöbelte. Sie fühlte sich gelähmt. Sie wollte weg, wusste aber nicht, wohin. Er machte sie glauben, sie würde keinen Job finden, keine Miete zahlen können. Von einem Frauen­haus wusste sie damals noch nichts.

An einem Abend im Oktober 2019 schlug er sie erneut. Das Kind war mit dem Vater verreist, Gabriella hatte dessen Auto geliehen bekommen. Sie gingen zu zweit aus, amüsierten sich. Auf der Heimfahrt stritten sie sich wegen einer Banalität. Er verpasste ihr eine Ohrfeige. Gabriellas Wange glühte, ihr Kopf bebte. Sie sass am Steuer, konnte gerade noch den Wagen an die Strassen­seite lenken. Sie stellte ihn zur Rede, er reagierte nicht. «Heute verstehe ich nicht, warum ich ihn nicht aus dem Auto schmiss und einfach wegfuhr.» Zurück zu Hause trank er an diesem Abend weiter. Gabriella verkroch sich ins Bett. Der Schlaf war ihr Flucht­ort geworden. Forderte er Sex, stellte sie sich schlafend.

«Nach dem zweiten Schlag wusste ich: Es ist aus. Aber ich fühlte mich hilflos, wollte mir zugleich keine Hilfe holen. Eine gute Freundin wollte bereits mein erstes blaues Auge der Polizei melden. Ich fürchtete, das würde seine Wut verschlimmern. Ich war so darum bemüht, die Gewalt vor meinem Kind zu verbergen. Meine Blutergüsse überdeckte ich mit Make-up, trug mitten im Winter eine Sonnen­brille. Ich schämte mich vor mir selbst. Glaubte, ich sei schuld. Ich fühlte mich alleine, so alleine.»

Scham und Schuld sind gängige Emotionen bei häuslicher Gewalt. Ein Grund dafür ist die gesellschaftliche Stigmatisierung gewalt­betroffener Frauen. Denn in der Debatte schwingt mit: selbst schuld, wer sich das gefallen lässt. Bei Fachstellen zeigt sich aber: Frauen bleiben oftmals aus finanzieller oder emotionaler Abhängigkeit bei gewalt­tätigen Männern oder weil sie fürchten, das Sorgerecht für die Kinder zu verlieren. Zu den diffusen Scham- und Angst­gefühlen führt auch das Bagatellisieren häuslicher Gewalt: «Er meint es nicht so», «ein Ausrutscher», «ein Versehen» – das hören betroffene Frauen oftmals aus ihrem Umfeld. Auch Gabriella. Als sie Freundinnen und ihrem Ex-Mann später von der lebens­bedrohlichen Gewalt erzählte, sagten diese sinngemäss: Wenn er so weit ging, musst du ihn ja ordentlich provoziert haben.

Gefangen in dieser Ohnmacht reiste Gabriella mit ihm und ihrem Kind an die Hochzeit seiner Schwester in Südeuropa. Zur Gewalt kam dort eine weitere Dimension hinzu. Er schikanierte sie. Als sich Gabriella etwa für die Trauung das Festkleid mit Strumpf­hosen angezogen hatte, rieb er seinen Schuh an ihre Wade, bis sich eine Laufmasche bildete. «Ich dachte: Der spinnt. Er schaute mich mit einem irren Blick an.»

Gabriella zeigt mir auf ihrem Mobil­telefon ein Bild dieser Hochzeit. Sie trägt Schwarz. Von ihrem Kopf­schmuck hängt schwarzer Tüll, der ihr Gesicht verdeckt. Sie blickt nachdenklich nach unten, umarmt ihr Kind auf dem Schoss. Sie nennt das Bild «die Beerdigung».

Gabriella vertraute sich nach der Hochzeit seiner Schwester an. Sie nahm Gabriella ernst, schickte ihren Mann vor, der ihren Bruder belehrte. Doch das nützte nichts.

Zurück zu Hause versuchte Gabriella Konfrontationen zu meiden. Sie kochte, sie putzte, spielte Heiterkeit vor. Sie trank kein Glas Wein mehr zum Genuss. Sie wollte ihre Wahr­nehmung schärfen. «So konnte ich sicher­gehen, dass nicht ich das Problem bin.»

An einem Tag im November 2019 wollte er seinen Geburtstag vorfeiern. Er hatte Schnaps gekauft, mit einem Mietauto fuhren sie zu einem Freund. Gabriellas Kind verbrachte ein paar Tage beim Vater. Sie sass am Steuer, er hatte bereits einiges getrunken. Auf der Fahrt sagte er aus dem Nichts «du Hure», er habe grosse Lust, sie zu schlagen. Gabriella schwieg, aus Angst, es würde eskalieren.

«Mir zog es den Magen zusammen. Ich erstarrte. Kennen Sie dieses Gefühl der tiefen Angst?»

Gabriella hielt an einer Tankstelle. Überlegte sich, ob sie im Shop jemanden um Hilfe bitten sollte. Als sie sich wieder ins Auto setzte, warf er ihr das Mobil­telefon an die Nase. Sie blutete, blutete und blutete. Er stieg aus und ging weg. Sie dachte: Dieses Mal mache ich es richtig.

Sie ging zurück zur Tankstelle, wo sie in der Toilette ihr Gesicht wusch und die Blutung zu stoppen versuchte. Zwei Männer fragten, ob sie Hilfe brauche. Aber Gabriella verneinte. «Mir fehlte die Kraft, mich zu erklären.»

Wie komme ich hier weg?

Nach diesem Abend schloss sich Gabriella mit ihrem Kind drei Tage im Schlaf­zimmer ein. Sie verliess es nur, um etwas zu essen zu holen und für die Toilette. Er feierte mit seinen Jungs im Wohnzimmer, soff sich ins Koma, ignorierte sie. In diesen Tagen packte sie einen Koffer, für den Fall, dass sie plötzlich flüchten müsste.

Sie sprachen kein Wort mehr miteinander. Nachts kreisten ihre Gedanken: Wie komme ich hier weg? Wer kann mir helfen? Wo kann ich hin?

Die Weihnachtstage 2019 vergingen ohne Gewalt. Kurz danach schenkte er ihr einen Verlobungs­ring. Er bereue sein Verhalten, sagte er, versprach, ein neuer Mensch zu werden. «Er wirkte irre. Ich weinte aus Angst.»

Er fragte sie, ob sie vor Freude weine. Gabriella bejahte, wieder aus Angst. «Heute frage ich mich: Wie hielt ich dieses kranke Spiel nur aus? Ich verleugnete mich selbst. Ich verstehe es nicht.»

Gabriella unterbricht unser Gespräch, um auf dem Balkon zu rauchen. Ich schaue mich im Wohn­zimmer um. Überall stehen Pflanzen, in einer Ecke die Setzlinge für den Frühling. Auf einer Kommode eine liegende Buddha­figur aus Stein, ein Büchlein mit Übungen zur Achtsamkeit, eine Duftlampe, Familien­bilder. Auf einem Beistell­tisch ein Krimi auf Französisch, ein Lehrbuch für Deutsch, eine Anleitung zur Zen-Meditation. «So lernte ich, zu vergeben», sagt sie, als sie mich auf das Buch schauen sieht. «Vergebung heilt Wunden. Ich erkannte: Seine innere Leere trieb ihn in diese Grausamkeit.» Trotzdem frage sie sich: Was habe ich in meinen vergangenen Leben falsch gemacht, dass mir so etwas wider­fahren musste?

An diesem Abend der Eskalation im Januar 2020 zeigte sich seine Grausamkeit in einer unberechenbaren Heftigkeit. Gabriella hatte zu Mittag gekocht. Er pflaumte sie an, das Essen schmecke ihm nicht. Sie ignorierte ihn, packte die Tasche für das Kind, es verreiste ein paar Tage zur Schwester des Vaters.

Als sie am Nachmittag alleine waren, trank er Bier, stichelte, murmelte im Badezimmer Gemeinheiten vor sich hin. Wieder ignorierte sie ihn.

Als er gegen halb vier Uhr ein paar Bier intus hatte, beschimpfte er sie. Gabriella wollte ins Badezimmer fliehen. Da baute er sich vor ihr auf, gab ihr drei heftige Ohrfeigen. Er nannte sie eine «Scheisskuh», warf sie aufs Sofa, trat ihr gegen das linke Schienbein. Er packte ihre rechte Hand, verbog ihren Ringfinger. Gabriella konnte sich befreien, verliess weinend die Wohnung.

Sie lief zum Bahnhof, wo sie sich auf eine Bank setzte. Sie rief ihre engste Freundin an, die im Ausland lebt, erzählte ihr alles. Die Freundin riet ihr, sofort Hilfe zu holen. Sie suchte für Gabriella die Telefon­nummer des nächsten Frauen­hauses raus. «Ich hätte das in diesem Moment nicht geschafft.»

Gabriella wählte die Nummer. «Kommen Sie sofort ins Frauenhaus», habe ihr die Frau am Telefon gesagt. «Gehen Sie nicht zurück in die Wohnung.»

Gabriella nahm einen Bus in die nächste Stadt. Sie wollte spazieren, ihre Gedanken ordnen. In dieser Zeit rief er mehrmals an, schliesslich nahm sie den Anruf an und sagte: «Ich komme nicht zurück.»

Er insistierte, wollte sich erklären. Gabriella legte auf, fragte sich: Sollte sie ins Frauenhaus? Doch zurück zu ihm, weil er sich beruhigt hatte?

Sie ging zurück in die Wohnung.

Es war gegen halb acht Uhr abends, er beschimpfte sie wieder als «Scheisskuh», stiess sie gegen einen Tisch. Sie trug an ihrem rechten Oberschenkel ein Hämatom davon.

Die gewalttätige Auseinander­setzung verlagerte sich ins Badezimmer. Er packte Gabriella, stiess sie mehrmals gegen den Heiz­körper, wo sie sich den Hinterkopf anschlug. Für ein paar Sekunden verlor sie das Bewusstsein.

Sie kam wieder zu sich, wollte das Badezimmer verlassen. Er liess sie nicht durch. Versetzte ihr einen Kopfstoss: Stirn gegen Stirn. Gabriella erlitt eine Beule. Daraufhin schlug er mit den Fäusten gegen ihren Kopf. Einige Schläge konnte Gabriella abwehren, indem sie die Hände schützend vor das Gesicht hielt. Auf den Händen bildeten sich davon Hämatome.

Er riss Gabriella an den Haaren zu Boden. Ihr fielen Haarbüschel aus.

Gabriella lag zusammen­gekauert am Boden im Korridor vor dem Badezimmer. Während sie versuchte, ihren Kopf mit den Händen zu schützen, trat er sie vier oder fünf Mal gegen den Hinterkopf und den Nacken. Er trug blaue Turnschuhe mit weissen Plastik­sohlen.

Gabriella versuchte, die Wohnung zu verlassen. «Ich öffnete die Tür. Ich schrie um Hilfe ins Treppen­haus. Meine Stimme hallte ins Leere. Niemand kam, niemand!»

Er packte sie von hinten, zog sie runter. Er lag rücklings auf dem Boden, Gabriella auf ihm. Er würgte sie von hinten. «Ich bringe dich um!», sagte er. Gabriella zählte acht bis zehn Sekunden. Sie dachte an ihr Kind, riss sich los, biss ihm den linken Daumen blutig, nahm ihre Schuhe, rannte die Treppen der vier Stockwerke hinunter, raus auf die Strasse, ins nächste Wohnhaus, wo sie die Polizei rief. Als sie Blaulicht sah, rannte sie hinaus und sagte der Polizistin:

«Entschuldigung, ich habe ihm in den Finger gebissen.»

«Wollen Sie zurück zu ihm?»

Die Polizei nahm ihn in der Wohnung fest. Sie fotografierte Blutflecken am Boden, an den Wänden, im Wasch­becken. Die Rechts­medizin dokumentierte derweil Gabriellas Verletzungen: leichtes Schädel-Hirn-Trauma, Bruch des Bodens der Augenhöhle links, Prellung an den Hand­gelenken und am Knie links, Würgemale, psychisches Trauma wegen mehrfacher Todes­drohung.

Gabriella spricht nüchtern über ihre Todesangst. Doch wirkt sie in manchen Momenten aufgewühlt. «Es ist schwer, wieder alles hervor­zuholen. Aber mit diesem Interview beerdige ich dieses Grauen.»

Am Morgen nach der Tat befragte die Polizei Gabriella im Spital. «Wollen Sie zurück zu ihm? Das fragten sie mich allen Ernstes.» So absurd die Frage scheint: Es ist nicht unüblich, dass Frauen in einer gewalt­tätigen Beziehung bleiben. In aller Regel brauchen gewalt­betroffene Frauen rund fünf Anläufe für eine Trennung. Oft meiden sie den Schritt aus Angst vor Drohungen, Stalking, Tötung. Manche nehmen eine gewalt­tätige Beziehung in Kauf, weil ihnen der Täter so berechenbarer scheint.

«Ich antwortete: Schauen Sie mich an. Soll ich zurück, um an den Galgen zu kommen?»

Gabriella zeigte ihn an. Im Januar 2020 verfügte die Polizei: Wegweisung aus der Wohnung, Rayon­verbot und Kontakt­verbot für vierzehn Tage. Auf Antrag verlängerte sie die Schutz­massnahmen nach Ablauf um drei Monate – während er sich weiter in Untersuchungs­haft befand.

Am Tag nach der Tat ging Gabriella mit zwei Polizisten in die Wohnung, um frische Kleider zu holen. «Mein Puls raste, ich schaute mich nicht um. Ich holte den Koffer, den ich für meine Flucht gepackt hatte, und mein Tagebuch. Als ich darin blätterte, sah ich: Die beschriebenen Seiten waren heraus­gerissen worden.»

Die Polizei fuhr Gabriella in ein Frauenhaus. Zu ihrem Schutz musste sie dort ihre Konten in den sozialen Netzwerken löschen, sich eine neue Telefon­nummer zulegen. Ihr damals dreijähriges Kind blieb zwei Wochen beim Vater, danach kam es ins Frauenhaus.

Gabriella weinte und weinte in den ersten Tagen im Frauenhaus. Sie schaute sich nicht im Spiegel an. Sie wollte die Verletzungen nicht sehen; Verletzungen, die sie an ihre Todesangst erinnern würden.

In den ersten Wochen litt sie an Angst- und Schlaf­störungen. Sie nahm zwei Monate lang rezept­pflichtige Schlafmittel.

Das Frauenhaus schickte sie zu einer Psychologin, die sie aber nur zwei Mal traf. Dann kam im Frühjahr 2020 die Covid-Pandemie. Gabriella versuchte, alleine zu Kräften zu finden.

Erwachte der Tag, sagte sie sich: Du bist in Sicherheit. Du lebst. Dein Kind ist bei dir. Deine Wunden heilen.

Jeden Tag zwang sie sich zu einem Spaziergang. Im Gehen fand sie Ruhe. Mit den anderen Frauen im Haus sprach Gabriella kaum. Sie befremdete, dass manche der Frauen abends in der Gruppe wehklagten und weinten. Sie verarbeitete im Stillen.

Fünf Monate verbrachte sie mit ihrem Kind im Frauenhaus. In diesen fünf Monaten traf sie nur einmal eine Freundin zum Kaffee in der Stadt. Dafür musste sie angeben, wohin sie geht, wen sie trifft, wie lange sie bleibt. Ihrer Familie im Ausland erzählte sie erst nach diesen fünf Monaten, was ihr widerfahren war. «Da blickte ich nüchtern auf die Sache, weinte nicht mehr. Das war mir wichtig, um meine Familie nicht zu belasten.»

Während ihrer Zeit im Frauenhaus lief das Straf­verfahren. Bei der Einvernahme durch die Staats­anwaltschaft im März 2020 stritt er die versuchte schwere Körper­verletzung vom Januar 2020 ab. Im Protokoll steht:

«Daraufhin hätten Sie ihr mehrere Faust­schläge gegeben, sie an den Haaren zu Boden gerissen und ihr dann mit den Füssen in den Hinterkopf und Nacken­bereich getreten, vier bis fünf Mal. Was sagen Sie dazu?»

«Nein, das stimmt nicht.»

«In der Folge hätten Sie sie stark gewürgt und mit dem Tode bedroht?»

«Das stimmt nicht. Sie hat mir in den Daumen gebissen. (…) Ich habe sie weder gewürgt noch mit dem Tode bedroht.»

Gemäss den Plädoyer­notizen von Gabriellas Anwältin erzählte er in den Einvernahmen «mindestens fünf verschiedene Versionen» zu den Ohrfeigen und Kopf­stössen, die er ebenfalls grössten­teils abstritt. Den ersten Faustschlag vom August 2019 bezeichnete er etwa als «kleinen Klaps aufs Gesicht».

Ich frage Gabriella, was dieses Abstreiten bei ihr auslöst. Sie schluckt, blickt ins Leere. «Er hat wohl schizophrene Züge. Jeder Mensch ist verantwortlich für seine Handlungen. Ich bin überzeugt: Seine Taten werden auf ihn zurück­kommen, er wird dafür büssen.»

Gabriella sah ihn nach der Gewalttat noch einmal: an der Haupt­verhandlung im Oktober 2020 im zuständigen Bezirks­gericht. Als sie den Gerichts­saal betrat, spürte sie Herzrasen, ihr Magen zog sich zusammen. Sie schaute kein einziges Mal in seine Richtung. Sie wollte vermeiden, dass sich ihre Blicke kreuzen. «Das hätte ich nicht ertragen.»

Ihre Anwältin hatte sie vor der Verhandlung bestärkt, sie auf mögliche Fragen vorbereitet. Dennoch ergriff sie im Gerichts­saal Angst: Was, wenn sie mir nicht glauben?

Als der Richter sie fragte, warum sie sich an die exakten Daten der Gewalt­ereignisse erinnere, habe sie geantwortet:

An den Faustschlag im August 2019 erinnere ich mich, weil ich am nächsten Tag zu meiner Familie fahren wollte.

An die Ohrfeige im Oktober 2019 erinnere ich mich, weil ich mich auf eine Halloween-Feier mit ihm freute.

An die Beschimpfungen, Drohung, an das Nasenbluten im November 2019 erinnere ich mich, weil es ein Tag vor seinem Geburtstag war.

An die schwere Gewalt im Januar 2020 erinnere ich mich, weil ich Todesangst erlitt.

Er wurde schuldig gesprochen: der versuchten schweren und leichten Körper­verletzung, der mehrfachen Tätlichkeiten, Beschimpfungen, Drohungen. Besonders bei seinen Tritten gegen den Hinterkopf und Nacken­bereich, so hält die Anklage fest, nahm er in Kauf, Gabriella «lebens­bedrohliche Verletzungen» zuzufügen.

Er bekam eine Freiheitsstrafe von 36 Monaten, wovon er 18 Monate absitzen musste. Die anderen 18 Monate wurden auf Bewährung ausgesetzt. Als EU-Bürger wurde er für sieben Jahre des Landes verwiesen. Er musste Gabriella Schadenersatz von 537.50 Franken bezahlen und eine Genugtuung von 3000 Franken.

Gabriella empfindet dieses Strafmass als «halbe Gerechtigkeit». «Drei Jahre dafür, dass er mich fast umbrachte? Und ein bisschen Geld, dass ich meine Klappe halte? Ein Witz. Aber meine Anwältin war mit dem Urteil zufrieden.»

Im Juli 2021 verliess er das Gefängnis, wegen des Landes­verweises musste er sogleich die Schweiz verlassen. Die Polizei teilte Gabriella telefonisch mit, dass er entlassen worden sei. «Im ersten Moment zuckte ich zusammen. Aber Angst vor ihm verspürte ich da keine.» Gabriella fühlte sich sicher, auch weil in der Zeit danach monatlich eine Polizistin anrief, sie fragte, ob sie Angst erlebe, er oder sein Umfeld sie bedrohe.

Gabriella hat seit kurzem wieder einen Partner. Sie lernte ihn über ihr gemeinsames Hobby kennen, die Malerei. Sie öffnet ihr Herz mit Vorsicht, trotz der Verbundenheit, die sie bereits zu ihm spürt. «Ich will mich wieder auf einen Menschen einlassen. Die Liebe lasse ich mir nicht nehmen.»

Zu Anlaufstellen für Hilfe: Sie sind oder fühlen sich bedroht? Reden Sie darüber!

Opferhilfe Schweiz. Sind Sie von Gewalt in der Familie oder in der (Ex-)Partnerschaft betroffen? Die Opferhilfe unterstützt Sie dabei, Auswege aus der Gewalt zu finden. Sie informiert Sie über Ihre Rechte und vermittelt Ihnen und Ihren Kindern weitere Hilfe. Und sie unterstützt dabei, einen sicheren Ort zu finden.

Online-Opferberatung. Die Opferhilfe Schweiz bietet vertraulich, kostenlos und anonym Beratung an, im Chat oder online.

Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein. Erleben Sie körperliche, psychische und/oder sexualisierte Gewalt und benötigen Sie eine ambulante Beratung oder einen Zufluchtsort? Hier können Sie ein Frauenhaus in Ihrer Region kontaktieren.

Häusliche Gewalt. Informationsblätter. 17 Informations­blätter des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann geben Auskunft zu Grundlagen und spezifischen Formen von häuslicher Gewalt sowie zur Rechtslage in der Schweiz.

Zur Autorin

Tuğba Ayaz, 1986 in St. Gallen geboren, wuchs im Appenzeller­land auf und lebt in Zürich. Sie hat Übersetzen und Dolmetschen studiert und ist heute als freie Reporterin tätig.

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