Der Hoffnungsmacher
Um den dänischen Soziologen Nikolaj Schultz entsteht gerade ein internationaler Hype. Kaum einmal hat ein Buch über die Klimakrise so viel Aufbruchstimmung ausgelöst wie sein Essay «Landkrank».
Von Daniel Graf, 10.02.2024
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Sicher, der slowenische Philosophie-Popstar Slavoj Žižek ist nicht gerade ein Mann der leisen Töne. Aber was er über Nikolaj Schultz, Soziologe und Doktorand der Uni Kopenhagen, und dessen Buch «Landkrank» verlauten lässt, ist eine Ansage.
Wenn es ein Buch gibt, so Žižek, das die Menschen noch dazu bringen könne, sich in der Klimafrage zu engagieren, dann dieses. Dipesh Chakrabarty, einer der weltweit wichtigsten Denker der Klimakrise, hat ein Nachwort zu dem Band geschrieben und empfiehlt ihn als «anregenden Wegweiser» in der Klimakrise. Für die Klimaaktivistin Luisa Neubauer, die das Vorwort zur deutschen Ausgabe beigesteuert hat, ist das Buch «radikal hoffnungsvoll». Deutschsprachige Zeitungen porträtierten den Autor kürzlich als akademischen «Nachwuchsstar» oder besprachen ein paar Wochen vor Erscheinen der Übersetzung noch schnell die englische Fassung.
Es ist vielleicht nicht übertrieben zu sagen, um Nikolaj Schultz gebe es derzeit einen kleinen Hype. Der Hauptgrund dafür: ein gerade mal 100 Seiten langer Text, irgendwo zwischen philosophischem Essay und literarischer Autofiktion.
Nach Hunderten von Klimabüchern in den letzten Jahren scheint Nikolaj Schultz mit einem schmalen, im Grundton tief melancholischen Bändchen zu schaffen, was derzeit einer ganzen Flut von Sachbüchern rund ums Thema Hoffnung nur bedingt gelingt: Zuversicht, ja vielleicht sogar eine gute Portion Emphase hervorzurufen.
Das hat offensichtlich etwas mit der Art und Weise zu tun, in der Schultz über die Klimakrise spricht. Spoiler: Die Lage zu beschönigen, gehört nicht dazu.
Ein Lebensgefühl: Schuldgefühl
Der Ventilator, ohne den ich nicht schlafen kann, treibt meinen Energieverbrauch massiv in die Höhe und sorgt für noch mehr CO2 in der Atmosphäre, was wiederum zu noch grösserer Hitze führt. Die Abkühlung meines Körpers hat ihren Preis – den wahrscheinlich zuerst und am heftigsten jemand anderes zahlen wird, am ehesten irgendwo im globalen Süden.
Es herrscht eine Hitzewelle in Paris, und der, der da spricht, wälzt sich offenbar nicht bloss wegen der Temperaturen schlaflos auf dem Laken. Er ahnt, nein, er weiss, dass die Ursache solcher Hitzewellen der menschliche Ressourcenverbrauch ist, der auch seine eigene Lebensweise bestimmt, sein Leben in den alltäglichsten Handlungen, Gewohnheiten und Bedürfnissen durchdringt.
Der Kaffee, den ich morgens brauche, um meinen Geist zu wecken, zerstört Böden und verschmutzt ausländische Flüsse. Die Probleme strömen sogar auf meine Schultern herab, wenn ich mich dusche und dabei mit jeder Minute mehr CO2 in die Atmosphäre blase. Verlasse ich dann die Dusche und trockne mich ab, häufen sich die Probleme mit jedem weiteren Kleidungsstück, das ich anziehe.
Beginnt so ein Hoffnungs-Buch?
Unbedingt. Nachhaltige Hoffnung, so lässt sich von Philosophinnen, Psychologen oder Aktivistinnen lernen, entsteht nicht aus falschem Trost oder Realitätsverweigerung, sondern allenfalls aus einem verklärungsfreien Blick auf den Ernst der Lage.
Zum Interview mit Nikolaj Schultz
Der Soziologe und Autor Nikolaj Schultz sagt im Republik-Gespräch mit Tuğba Ayaz, warum es nicht reicht, wenn man sich in der Klimakrise auf Moralismus und Fatalismus ausruht. Hier gehts zum Interview: «Die Grünen sagen: Die Welt geht unter und wir müssen handeln. Das ist langweilig und ermüdend».
Nikolaj Schultz findet Bilder, die ein Lebensgefühl erfassen: die beklemmende Ahnung von uns westlichen Wohlstandsbewohnern, dass sich in Zeiten des drohenden Klimakollapses irgendetwas im Freiheitsversprechen unserer Gesellschaften grundsätzlich verschoben, ja in eine Unentrinnbarkeit verkehrt hat. Es ist das Gefühl einer zwangsläufigen Verstrickung. Der doppelte Verdacht, dass die eigene erlernte Lebensform unweigerlich bedeutet, wissentlich nur immer weiter zu einem längst erkannten Problem beizutragen; dass jedoch mit Fatalismus und Vergeblichkeitsdenken rein gar nichts gewonnen ist.
Schultz eröffnet sein Buch damit, diese Verstrickung und das daraus resultierende Schuldgefühl erst einmal schonungslos zu benennen – und anzuerkennen, ohne es im nächsten Satz gleich wieder zu relativieren oder eine erfolgreiche Gegenwehr aus dem Hut zu zaubern. Vielmehr beschreibt sein Buch, scheinbar durch und durch klassisch, eine Reise, real und gedanklich.
Sein Erzähler-Ich flieht vor der Pariser Hitze auf die südfranzösische Insel Porquerolles. Dem dröhnenden Pochen im Kopf und den bohrenden Schuldgefühlen aber entkommt er dadurch nicht. Auf Porquerolles, dem gerade einmal 12,5 Quadratkilometer grossen Eiland, tritt ihm das Dilemma nur umso unausweichlicher entgegen. In Gestalt einer alten Frau.
Problem mit drei Buchstaben
«Verzeihen Sie mir, wenn ich störe, aber könnten Sie vielleicht irgendwo anders hingehen?» Gerade eben hat der aus Paris Geflohene am Strand von Porquerolles seine Sachen in den Sand gelegt, da macht ihn «eine verzweifelte alte Frau» darauf aufmerksam, dass sie schon «den ganzen Morgen durch die Sonne» läuft und an dem völlig überfüllten Strand keinen Platz zum Ausruhen findet. Sie ist eine von wenigen hundert ständigen Bewohnerinnen der Insel. «Ich bin hier geboren, ich bin eine Porquerollaise, aber ich weiss nicht mehr, wo ich hingehen könnte.»
15’000 Touristen kommen oft an einem einzigen Sommertag vom Festland auf die Insel. Die Menschenmassen führen nicht nur zu steigender Verschmutzung und dazu, dass an Tagen besonders grosser Anstürme schon mal das Trinkwasser auf der Insel ausgeht. Der Tourismus verändert auch die geodynamischen Prozesse, trägt zur Erosion der Küsten und Strände bei. «Mit jeder Schiffsladung Ausflügler» wird «ein Stückchen Boden» abgetragen, das Eiland und der Lebensraum dieser Frau also buchstäblich jeden Tag ein bisschen kleiner.
Auch hier schildert Schultz eine Standardsituation, wie sie jede seiner mitteleuropäischen Leserinnen kennt. Im Grunde ist man für das Ferienparadies, in das man reist, die Hölle. Aber wie Schultz dies formuliert, ist für die Eindringlichkeit seines Buches ganz entscheidend.
Das ist ihre Insel, und ich nehme sie ihr weg. Ich nehme sie ihr weg, weil ich einer der fast 15’000 Menschen bin, die im Sommer täglich vom Festland herüberkommen.
Das folgt genau der umgekehrten Logik wie die Rechtfertigungsprosa, zu der wir alle in solchen Situationen neigen. Wo immer erst die vielen die verheerende Wirkung ausmachen, stiehlt sich das Ich doch gewöhnlich mit einem bestens erprobten Arsenal der Ausflüchte davon: Ich bin unschuldig, weil mein Anteil so verschwindend gering und quasi irrelevant ist.
Mit einem vergleichsweise simplen, aber ungeheuer mächtigen Move stellt Schultz diese Logik vom Kopf auf die Füsse und sagt den Satz, der 15’000-mal richtig ist: «Ich nehme sie ihr weg.» Der Effekt ist ein geradezu befreiender, weil ein solcher Satz Verantwortungsbereitschaft an die Stelle jener Lebenslügen setzt, die wir uns längst selber nicht mehr glauben.
Es sind solche psychologisch bewussten und rhetorisch geschliffenen Schlüsselsätze, die massgeblich den Sound dieses Essays ausmachen. Stil ist hier nicht Beiwerk, kein Zierrat, sondern Erkenntnismotor.
«Jeden Tag», schreibt Schultz, «erfahre ich, in welcher Weise ein weiterer Aspekt meines Lebens mit diesen Problemen verflochten ist und wie mein In-der-Welt-Sein meine eigene Verstrickung vergrössert.» Und dann, mit einer Fortführung, die einen ganzen Argumentationszusammenhang in wenigen Silben auf die Spitze treibt:
Jeden Tag wird mir klar: Das Problem bin ich.
Die Energie von Schultz’ Essay hat eine Menge mit solchen Pointen zu tun. Sie haben die Kraft eines Aphorismus, aber nichts Kalenderspruchhaftes, weil sie sich nicht isolieren lassen. Sie entwickeln ihre Wirkung erst aus dem zuvor Gesagten – und sind auf ein aktives Weiterdenken aus.
Für die Hyperbolik, mit der sich hier das einzelne Ich zum Problem erklärt, kommt alles darauf an, dass sie der Egozentrik der eigenen Emotionen entsagt und den Narzissmus einer folgenlosen Selbstgeisselung zum Teufel jagt. Denn die Zukunft, so hat es der Schriftsteller Jonathan Safran Foer einmal formuliert, «hängt nicht von unseren Gefühlen ab; in grossem Mass hängt sie sogar davon ab, dass wir unsere Gefühle endlich einmal beiseitelassen». Von exorzistischen Selbstanklagen hat der Planet herzlich wenig, wenn daraus nicht nachhaltiges Umdenken und konkretes Handeln erwachsen.
Mit seiner geistreich-eleganten Prosa prägt Nikolaj Schultz einen Denkstil aus, der über die Form auch beim Lesen einen Denkprozess in Gang setzt.
Entsprechend sind die Bezüge zur philosophischen Tradition, vor allem der Existenzialisten, niemals Bildungshuberei; sie dienen auch nicht der Beglaubigung durch Autoritäten aus dem Kanon – im Gegenteil. Augenöffnend und erkenntnisfördernd wirken sie, weil Schultz nie bloss bestätigend zitiert. In seinen philosophiegeschichtlichen Referenzen ist letztlich die Abweichung das Entscheidende. Erst die Differenz markiert den heutigen geistesgeschichtlichen Ort.
Die Sonne geht auf, und mit ihr kehrt auch die Hitze zurück. Ich erbitte das Gegenteil von dem, was Diogenes einst verlangte. Ich wünsche mir nur ein wenig Schatten, doch die Sonne brennt jetzt schon durch die Vorhänge.
Verbundenheit denken
Inmitten der Inselszenerie erzählt Schultz von der Erinnerung an ein schneeloses Weihnachten in seiner dänischen Heimat. Es ist ein äusserer Anlass, mit dem die Klimakrise mitten hinein in die Familie greift. Denn in der Beklommenheit der Grossmutter, die vom ausbleibenden Schnee lieber gar nicht sprechen will, tut sich auch ein Spalt zwischen den Generationen auf:
Sie erkannte, dass gerade jene Ziele, für die sie gekämpft hatte, ihre Nachkommen in Gefahr und Katastrophe gestürzt hatten. (…)
Sie hatte sich selbst befreit, dafür jedoch die nachfolgenden Generationen in Geiselhaft genommen.
Es ist ein typischer Nikolaj-Schultz-Passus, bei dem sich das Argument sukzessive zuspitzt bis zur One-Liner-Pointe:
Die Generation meiner Grossmutter lebte in der Gegenwart, aber von der Zukunft.
Nikolaj Schultz, so schreibt sein deutscher Verlag, «findet Einsichten und einen Ton, der ihn zur Stimme einer Generation machen könnte». Dazu kann man nur sagen: hoffentlich nicht! Was zunächst nach «Fridays for Future versus Boomer» klingt, zielt nämlich weit über die Generationenperspektive hinaus.
Wenn Schultz sein Erzähler-Ich «nach einem Ausgleich zwischen Mitgefühl und Zorn» suchen lässt, dann sind wieder die Rhetorik und die unsichtbaren Verbindungslinien zwischen den Kapiteln entscheidend:
Individuell ist auch sie Opfer einer planetarischen Metastase. Kollektiv gebe ich ihr und ihrer Generation die Schuld daran.
Isoliert klingt das hart und unversöhnlich. Aber das Ich, das oben bereits zuallererst sich selbst in die Verantwortung genommen hat, bereitet mit der rhetorischen Unterscheidung von Ursachenbenennung und Schuldzuweisung einen solidarischen Ausweg vor. Es ist gerade die intime familiäre Konstellation, die dem Erzähler vor Augen führt, wie notwendig es ist, der Idee eines Schuldverhältnisses zwischen den Generationen entgegenzutreten.
(Die quälenden Fragen) verbieten mir nicht nur zu träumen, sondern machen auch meine Angehörigen zu Geiseln, verwandeln sie in Schurken. Sie lassen mich nicht in Ruhe und verschonen auch nicht die Menschen, die mir wichtig sind, und jene, denen ich wichtig bin.
An die Stelle einer Entsolidarisierung tritt die Einsicht, dass eine Spaltung dem Leiden über die Folgen der Klimakrise nur einen zweiten Schmerz hinzufügen würde. Und anstatt das Trennende zu verabsolutieren, fällt der Blick auf die Verbundenheit durch eine gemeinsame Verstrickung.
Ohne die Belastungsprobe zwischen den Generationen kleinzureden, macht Schultz in der erzählerischen Abfolge deutlich: Es braucht das Zusammenwirken der Generationen und aller gesellschaftlichen Gruppen stärker denn je. Mit moralischem Rigorismus werden wir höchstens unglücklich, selbstgerecht – und scheitern.
Keine Ethik für Engel
Am eindringlichsten führt Schultz das alles anhand der Inselszenen vor Augen. Die Worte «Freiheit» und «Schuld» bilden dabei den Link zwischen der Grossmutter-Szene und der Begegnung mit der älteren Porquerollaise.
Obwohl ich die Zerstörung bemerke, die (meine Freiheit) am Wohnort dieser Frau anrichtet, kann ich dennoch nicht davon lassen. Auch wenn meine Freiheit vor meinen Augen ihre Unschuld verliert, kann ich nicht auf sie verzichten.
Ohne all die Freiheiten, für die die Grossmutter gekämpft hatte, kommt auch der Enkel nicht aus. Auch mit diesem Eingeständnis trifft Schultz ein Lebensgefühl, das mitten hinein in die fruchtlosen Debatten über eine angebliche grüne Verbotskultur führt. Ökologie oder Emanzipation, schreibt Schultz, dürfe niemals die «ultimative Alternative sein»,
denn die Erde hat keine Chance gegen die Macht der Freiheit. Ohne Zweifel kann ich Freiheit nicht in der bisherigen Weise ausüben und denken, aber ich kann auch nicht vollständig darauf verzichten.
Sind wir nun etwa vom Rigorismus direkt in der Apologetik gelandet? Bei einem achselzuckenden «Lässt sich halt nicht ändern»?
Natürlich nicht. Schultz will lediglich die ethischen Anforderungen von einem unrealistischen und deshalb kontraproduktiven Perfektionismus befreien. Um die Suche nach einem moralischen Kompass für das Anthropozän erzählerisch zu fassen, lässt er eine Art sokratischen Dialog mit sich selbst folgen: einen Erkenntnisprozess, den die Leserin mit dem Autor gemeinsam durchläuft.
Gebraucht wird: keine Ethik für Engel, sondern eine Moral für (fehlbare) Menschen. Nur ist es mit der Vermittlung zwischen der Freiheit des Ich und der Freiheit der anderen nicht mehr getan. Die Ethik der Klimakrise erfordert ein Denken weit über den Menschen hinaus. Das erfordert – siehe oben – auch, die Klassiker neu zu lesen. Denn das Problem, so lässt Schultz seinen Erzähler sagen, ist, «dass ich die Gesellschaft, von der diese Philosophen sprachen, nicht mehr sehe, denn sie bestand ausschliesslich aus Menschen». Im Anthropozän aber, wenn der Mensch das Schicksal des gesamten Lebens auf der Erde mitbestimmt, lässt sich die Ethik nicht länger anthropozentrisch denken.
Hier schliesst Schultz direkt an die Öko-Philosophie von Bruno Latour an, dessen enger Mitarbeiter er war und mit dem er gemeinsam eine Art Manifest zur Begründung einer «ökologischen Klasse» verfasst hat.
Es ist zugleich ein heikler Punkt in seinem neuen Essay, weil das Ziel der Klimagerechtigkeit bislang ja bereits innerhalb der menschlichen Sphäre an den Interessensgegensätzen zerschellt. Und weil die im engen Sinne politischen Fragen der Klimakrise in Schultz’ Erzählung allenfalls indirekt eine Rolle spielen. Doch selbst mit Blick auf das Duell «Klimanotstand vs. Hoffnung» bleibt festzuhalten: Hoffnungszerstörung erfolgt auch und massgeblich durch eine den Problemen vollkommen unangemessene Politik. (Etwa wenn – Vorsicht, persönliche Meinung – nach dem heissesten Jahr der Geschichte Milliarden nicht in die Verkehrswende, sondern in einen massiven Autobahnausbau fliessen.)
Mag sein, dass mancher Leser die politischen Sachfragen in Schultz’ Essay vermisst. Der Verzicht ist aber erstens aus der Logik des Textes heraus vollkommen stimmig. Zweitens ist es eine unsinnige Erwartungshaltung, von einem einzelnen Text die Antwort auf alle Aspekte einer komplexen Materie zu erwarten.
Worum es Schultz geht, ist etwas sehr viel Grundsätzlicheres: ein fundamental verändertes Selbstbild des Menschen in seinem Verhältnis zu allen Lebewesen.
Wenn ich meine Freiheit zurückhaben will, ist das nur möglich, indem ich an einer Gesellschaft vielfältiger Entitäten partizipiere und mich für umsichtige reflexive Verhandlungen mit und eine entsprechende Pflege von Wesen unterschiedlicher Gestalt einsetze, die meine fortwährende Existenz in all ihren Dimensionen ermöglichen.
Das ist kein Plädoyer für einen reinen Altruismus gegenüber nicht menschlichem Leben. Auf dem Spiel steht nichts weniger als der Erhalt der eigenen Lebensgrundlagen. Es geht um die Bewohnbarkeit der Erde, nicht zuletzt für den Menschen. Und diese, schreibt Schultz, erfordert, dass es «meine Freiheit vermeidet, grenzenlos zu sein».
Aufbruch
Eine Reiseerzählung, die für eine gedankliche Bewegung steht – und am Ende wird die Bootsfahrt zurück aufs Festland auch noch als Leitmetapher für das Navigieren durch die Klimakrise eingespannt. Da segelt Schultz recht nah an der Kitschgrenze, aber er umschifft die Klippen des Konventionellen, weil auch hier das Entscheidende immer die Distanz zum Althergebrachten ist.
Die Schifffahrt bildet bei Schultz den schärfsten Kontrast zur kolonialistischen Expeditionsemphase früherer Zeiten und ersetzt das klassische Heldennarrativ durch eine radikale Selbstproblematisierung. Erst die Rückkehr bildet den eigentlichen Aufbruch: den Start in die Veränderung.
Einen «ethnografiktiven» Essay nennt Schultz seinen Text, und das bringt ziemlich gut auf den Punkt, warum es zu kurz greifen würde, sein Buch als realitätsgetreue Nacherzählung einer Reise zu lesen. Zwar verarbeitet Schultz hier eigene Erfahrungen, doch die Dramaturgie folgt immer auch heuristischen Kriterien: Sie zielt auf eine Erkenntnisreise beim Lesen. Schultz’ «ethnografiktiver» Essay ist eine hochgradig sprachbewusste Antwort auf die Frage: Wie lässt sich von der Klimakrise sprechen, sodass es Menschen inspiriert und zum Handeln animiert anstatt zu lähmen?
Der Grundimpuls bei der Lektüre ist dann auch Empowerment. Durch Erkenntnis, die nicht vorgebetet wird, sondern sich als Erfahrung, als Erkenntnisvorgang vollzieht. Durch Aufrichtigkeit und Klarheit. Durch einen befreienden Anti-Perfektionismus, der Energien freisetzt für konkreten Wandel.
Schultz liefert keine Checkliste mit Handlungsanweisungen. Sein Text bewirkt etwas viel Grundlegenderes: Veränderungsdrang.
Damit entlässt uns Schultz aus dem Essay. Dann ist es an uns. Denn das Problem sind wir. Aber halt auch die einzig mögliche Lösung.
Nikolaj Schultz: «Landkrank». Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Suhrkamp, Berlin 2024. 122 Seiten, ca. 21 Franken.