Schlaff und bloss Kulisse: Ohne die USA wäre die Nato nur noch ein Papiertiger. Hulton Archive/Getty Images

Das Ende der Welt, wie wir sie kennen

Wird Donald Trump wiedergewählt, wird er die Nato-Mitgliedschaft der USA beenden. Diese Entscheidung brächte die internationale Ordnung zum Einsturz.

Von Anne Applebaum (Text) und Karen Merkel (Übersetzung), 05.02.2024

Vorgelesen von Jonas Gygax
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«Ich gebe einen Scheiss auf die Nato.» So formulierte Donald Trump als Präsident seine Haltung gegenüber Amerikas ältestem und stärkstem Militär­bündnis. Nicht dass dieser Ausbruch in Anwesenheit des damaligen nationalen Sicherheits­beraters John Bolton überraschend gekommen wäre. Schon lange bevor er in die Politik wechselte, stellte Trump den Wert amerikanischer Allianzen infrage. Über die Europäer schrieb er einst, dass «ihre Konflikte keine amerikanischen Leben wert sind. Ein Rückzug aus Europa würde unserem Land jährlich Millionen von Dollar einsparen.»

Besonders gegen die Nato, die 1949 gegründet wurde und die seither von Demokraten, Republikanerinnen und Parteilosen gleicher­massen unterstützt wird, hegt Trump schon lange einen Groll. Mehrfach drohte er mit einem Austritt – auch auf dem Nato-Gipfel 2018.

Trump setzte den Austritt nicht in die Tat um, weil immer jemand da war, der ihm das ausgeredet hat. Bolton sagt, er selbst habe auf Trump eingewirkt; auch Verteidigungs­minister Jim Mattis, Stabs­chef John Kelly, die Aussen­minister Rex Tillerson und Mike Pompeo und selbst Vize­präsident Mike Pence sollen sich gegen diesen Schritt gestemmt haben.

Nachhaltig überzeugen konnten sie Trump alle nicht. Und sollte er 2024 wiedergewählt werden, wird von seinen früheren Beratern keiner mehr im Weissen Haus sitzen. Sie alle haben mit dem ehemaligen Präsidenten gebrochen, in einigen Fällen auf dramatische Weise. Andere Analysten, die Russland und Europa wirklich verstehen würden, gibt es in der Republikanischen Partei nicht mehr. Die meisten von ihnen haben nämlich entweder 2016 Erklärungen gegen Trump unterzeichnet oder ihn nach 2020 kritisiert.

In einer zweiten Amtszeit wäre Trump von Personen umgeben, die entweder seine Abneigung gegen internationale Sicherheits­bündnisse teilen oder sich damit nicht auskennen, weil sie ihnen schlicht egal sind. Darum würde sich in einer zweiten Amtszeit Trumps Widerwille gegenüber den amerikanischen Bündnis­partnern wahrscheinlich in einem klaren Politik­wechsel manifestieren.

«Der Schaden, den er in seiner ersten Amtszeit angerichtet hat, war reparabel», sagte Bolton mir gegenüber. «Der Schaden einer zweiten Amtszeit wäre irreparabel.»

Zur Autorin und zu diesem Text

Anne Applebaum ist eine mehrfach ausgezeichnete amerikanische Journalistin, Historikerin und Buch­autorin, zuletzt erschien «Twilight of Democracy: The Seductive Lure of Authoritarianism» («Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist»). Sie hat lange für die «Washington Post» geschrieben sowie für diverse andere Titel, unter anderem den «Economist» als Warschauer Korrespondentin. Heute ist sie Redaktorin des Magazins «The Atlantic» und lebt mit ihrem Mann in Polen. Dieser Text erschien am 4. Dezember 2023 unter dem Titel «Trump will Abandon Nato» im «Atlantic».

Institutionell und vielleicht auch politisch könnte ein Nato-Austritt Trump vor Probleme stellen. Sobald er seine Absichten bekannt gäbe, würde eine Verfassungs­krise ausbrechen. Denn rechtlich sieht es so aus: Wollen die USA Verträge abschliessen, erfordert das die Zustimmung des Senats. Ob aber das Parlament zustimmen muss, wenn die USA Verträge kündigen möchten, darüber sagt die Verfassung nichts. Um diese Gesetzes­lücke zu schliessen, haben die Senatoren Tim Kaine (Demokraten) und Marco Rubio (Republikaner) ein Gesetz entworfen. Dieses soll verhindern, dass sich ein US-Präsident aus der Nato ohne eine Zweidrittel­mehrheit im Senat oder einen Beschluss durch beide Kammern, Repräsentanten­haus und Senat, zurück­ziehen kann.

Kaine sagte mir: «Ich bin zuversichtlich, dass die Gerichte uns in dieser Sache recht geben und es einem Präsidenten nicht gestatten würden, sich einseitig zurück­zuziehen.» Ein Tauziehen würde es trotzdem geben. Zu erwarten wären heftige Auseinander­setzungen in aller Öffentlichkeit. Frühere Oberbefehls­haber der Alliierten, ehemalige Generalstabs­chefs der USA, einstige Präsidenten und Staatschefs verbündeter Länder – sie alle würden gemeinsam, laut und deutlich für die Nato plädieren.

Es geht vor allem um die Abschreckung

Doch all das fällt dann womöglich kaum ins Gewicht. Der Schaden wäre nämlich angerichtet, bevor sich der Kongress auch nur zur Beratung versammelt hätte. Denn der Einfluss der Nato beruht nicht so sehr auf dem Recht oder Institutionen, er ist primär psychologischer Natur. Jeder, der einem Bündnis­mitglied gefährlich werden könnte, geht davon aus, dass es von der Nato verteidigt würde. Dass die Sowjetunion zwischen 1949 und 1989 West­deutschland nicht angegriffen hat, das lag nicht daran, dass sie die deutsche Reaktion fürchtete. Dass Russland in den vergangenen 18 Monaten Polen, die baltischen Staaten oder Rumänien nicht angegriffen hat, liegt nicht daran, dass Russland Polen, die baltischen Staaten oder Rumänien fürchtet.

Die Sowjetunion hielt sich einst aus dem gleichen Grund zurück wie Russland heute: Weil die Macht­haber in Moskau fest davon ausgehen, dass die USA bereit sind, diese Länder zu verteidigen.

Die Abschreckung entsteht eben nicht allein aus dem Nato-Vertrag, einem nüchternen Dokument, dessen Unter­zeichner in Artikel 5 lediglich festhalten, dass «ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird». Die Abschreckung beruht vor allem darauf, dass dem Kreml klar ist: Sollte die gemeinsame Sicherheit der Bündnis­partner infrage gestellt werden, dann sind die Amerikaner zur kollektiven Verteidigung entschlossen, dann ist das US-Militär auf einen solchen Einsatz vorbereitet und der US-Präsident ist fest entschlossen zu handeln.

Trump könnte den Kreml mit einer einzigen Rede, einem einzigen Kommentar, ja sogar mit einem einzigen Social-Media-Post auf andere Gedanken bringen. Danach könnten Kongress, Medien und selbst die Republikanische Partei weiter über die Rechtmässigkeit des Nato-Austritts streiten – der Schaden wäre angerichtet.

Wenn der Oberbefehlshaber sagt: «Ich werde einem Verbündeten nicht zu Hilfe kommen, wenn er angegriffen wird» – warum sollte dann noch jemand die Nato fürchten, unabhängig davon, welche Verpflichtungen auf dem Papier bestehen? Sobald Russland oder andere potenzielle Aggressoren keine Angst mehr haben vor der Reaktion der USA, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie angreifen. Wem ein solches Szenario zu unwahrscheinlich scheint, sollte sich daran erinnern, dass es vor Februar 2022 wenige für möglich hielten, dass Russland jemals in der Ukraine einmarschiert.

Ich habe mehrere Personen mit engen Verbindungen zur Nato gebeten, sich vorzustellen, was mit Europa, der Ukraine oder auch Taiwan und Südkorea geschehen würde, sollte Trump sich weigern, Artikel 5 einzuhalten. Alle waren sich einig, dass das Vertrauen in das Verteidigungs­bündnis schnell bröckeln würde. Alexander Vershbow, einst US-Botschafter und stell­vertretender General­sekretär bei der Nato, weist darauf hin, dass Trump den US-Botschafter von seinem Posten abziehen und Diplomaten daran hindern könnte, an Nato-Sitzungen teilzunehmen. Auch könnte er die Zahlungen für das Haupt­quartier in Brüssel einstellen – und dagegen hätte der Kongress keine Handhabe: «Es gäbe rechtlich nichts, was ihn davon abhalten könnte.»

Zwar würde es einige Zeit brauchen, um amerikanische Stützpunkte in Europa zu schliessen oder Tausende von Soldaten zu verlegen. Die politischen Gremien der Allianz aber müssten über Nacht ihre Arbeitsweise ändern. James Goldgeier, Professor für internationale Beziehungen an der American University in Washington und Autor mehrerer Bücher über die Nato, erwartet chaotische Zustände: «Es ist ja nicht so, dass man sagen kann: Okay, jetzt haben wir einen anderen Plan, wie wir mit allem umgehen können.» Eine Alternative zu den Kommando­strukturen der Nato gibt es nicht. Es gibt keine anderen Weltraum­waffen, nicht einmal andere Optionen, um Munitions­nachschub zu beziehen.

Europa wäre per sofort einem möglichen russischen Angriff ausgeliefert – auf den es nicht vorbereitet ist und auf den es auf Jahre nicht vorbereitet sein wird.

Keine Hilfe mehr für die Ukraine

Ohne die Nato und ohne ein amerikanisches Engagement für die europäische Sicherheit würde auch der Nachschub für die Ukraine versiegen. Nur schon die Möglichkeit, dass die USA aus der Nato austreten könnten, würde viele europäische Länder zwingen, ihre Militär­reserven im eigenen Land zu halten – schliesslich könnten sie sich dann selbst bald mit einer Invasion konfrontiert sehen. Den Ukrainern würde die Munition recht schnell ausgehen. Es würde wieder denkbar, dass Russland die gesamte Ukraine einnimmt – denn das ist nach wie vor das Ziel von Wladimir Putin.

Die ukrainische Militär­logistik käme in grosse Schwierigkeiten, denn die Russen könnten Flughäfen und andere Versorgungs­zentren in Polen und Rumänien bombardieren. Dem sind sie bereits sehr nahe gekommen: Mindestens eine russische Rakete ist versehentlich in Polen eingeschlagen, und auch die rumänisch-ukrainische Grenze wurde bei Angriffen getroffen. Zu Beginn des Krieges griffen die Russen absichtlich einen Stützpunkt in der Westukraine an, der ganz in der Nähe der polnischen Grenze liegt. Es war bekannt, dass auf diesem Stützpunkt ausländische Soldaten trainiert wurden. Sollten die Russen beginnen, Stützpunkte in Polen selbst anzugreifen, würde es logistisch unmöglich, Waffen in die Ukraine zu liefern.

Ein Nato-Austritt hätte zudem Folgen weit über Europa hinaus. Ein solcher Schritt brächte auch alle anderen Sicherheits­bündnisse der USA in Gefahr. Taiwan, Südkorea, Japan und sogar Israel müssten damit rechnen, dass sie nicht mehr automatisch auf die Unterstützung der USA zählen können. Das Ende der Nato würde sie nicht direkt betreffen, aber der Untergang der Allianz würde allen überall signalisieren: Die Vereinigten Staaten sind kein zuverlässiger Verbündeter mehr.

Alle Verbündeten Amerikas hielten umgehend Ausschau nach neuen Partnern. Viele europäische Länder würden Russlands Nähe suchen. Bei vielen asiatischen Staaten läge eine Schluss­folgerung nahe, die Senator Kaine so zusammen­fasst: «Sie würden denken: Wir müssen uns China annähern, schon aus Gründen der Selbst­erhaltung.» Um sich selbst gegen eine Invasion zu schützen, würden pragmatische Macht­haber von Staaten in Reichweite von China oder Russland beginnen, die wirtschaftlichen und politischen Forderungen der zweit- beziehungs­weise dritt­grössten Militär­macht der Welt ernster zu nehmen.

Gleichzeitig hätten viele politische Parteien und Staats­oberhäupter, die von Russland und China unterstützt werden – oder von Iran, Venezuela, Kuba –, ein neues und überzeugendes Argument für autokratische Methoden: Die USA, deren Image durch Trump und den Trumpismus bereits schwer beschädigt wurde, würden als Land wahrgenommen werden, das sich zurückzieht und wegschaut.

Mit der Zeit würde auch der wirtschaftliche Einfluss der USA abnehmen. Handels­abkommen und Finanz­vereinbarungen würden sich verändern, was wiederum Einfluss auf amerikanische Unternehmen und schliesslich auf die US-Wirtschaft hätte.

Wenn Trump wiedergewählt wird, dann wird die Amerikanerinnen zunächst das dramatische Scheitern ihrer eigenen Institutionen beschäftigen. Und zwar so sehr, dass sie lange nicht merken würden, welche Probleme die Veränderungen in der internationalen Ordnung nach sich ziehen. Probleme in Ländern wie Litauen und Südafrika würden weit entfernt und irrelevant erscheinen. Dass der Einfluss der USA auf den Rest der Welt schwindet, bliebe weitgehend verborgen.

Die Menschen in den USA würden erst merken, wie viel sich verändert hat, wenn es zu spät ist.

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