Die Gefahr, die uns droht

Wenn Donald Trump ins Weisse Haus zurückkehrt, kann er seinen grössten politischen Wunsch umsetzen: das Gesetz und die institutionelle Gewalt für seine persönliche Macht zu gestalten.

Von David Frum (Text), Karen Merkel (Übersetzung) und Gregory Gilbert-Lodge (Illustration), 31.01.2024

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Die menschliche Vorstellungs­kraft ist zu wunderbarer Kreativität fähig, doch sie versagt oft, sobald sie sich der Zukunft zuwendet. Vielleicht wird sie gebremst, weil sie Vertrautes bevorzugt. Wir alle wissen, dass es in der Vergangenheit viele Momente schwerer Instabilität, der Krisen und sogar radikaler revolutionärer Umwälzungen gegeben hat. Wir wissen, dass diese Dinge vor Jahren, Jahr­zehnten oder Jahr­hunderten geschehen sind. Doch wir wollen nicht glauben, dass sie sich morgen wiederholen könnten.

Wenn es um Donald Trump geht, schwindet die Vorstellungs­kraft noch mehr. Trump bewegt sich so weit ausserhalb der normalen Grenzen menschlichen Verhaltens – ganz zu schweigen von normalem politischem Verhalten –, dass es schwierig ist, zu akzeptieren, was er möglicher­weise tun könnte, selbst wenn er seine Absichten offen erklärt. Hinzu kommt, dass wir bereits eine Präsidentschaft von Trump erlebt haben. Wir können aus dieser Erfahrung einen trügerischen Trost ziehen: Wir haben es schon einmal überstanden. Die amerikanische Demokratie hat überlebt. Vielleicht ist die Gefahr geringer als befürchtet?

In seiner ersten Amtszeit wurden Trumps Korruption und Brutalität abgemildert durch seine Ignoranz und seine Faulheit. Doch sollte Trump eine zweite Amtszeit antreten, hätte er ein viel besseres Verständnis der Schwach­stellen des Systems und mehr Unterstützer im Schlepptau, die bereitwilliger wären als zuvor. Und er hätte eine viel klarere Strategie, um sich an seinen Gegnerinnen zu rächen und Straffreiheit für sich selbst zu erlangen. Die meisten Menschen, die sich fragen, was eine weitere Amtszeit Trumps bedeuten würde, unterschätzen das Chaos, das vor ihnen liegt.

Das erste Verbrechen – der Amtseid

Bis zum Wahltag 2024 wird Donald Trump mitten in mehreren Straf­verfahren stecken. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er in mindestens einem davon bereits verurteilt sein wird. Sollte er die Wahl gewinnen, wird Trump das erste Verbrechen seiner zweiten Amtszeit am Tag der Amts­einführung begehen: Sein Schwur, die Verfassung der Vereinigten Staaten zu verteidigen, wird ein Meineid sein.

Eine zweite Amtszeit Trumps würde das Land sofort in eine Verfassungs­krise stürzen, die schrecklicher wäre als alles, was es seit dem Bürgerkrieg gab. Selbst in den Wirren der 1960er-Jahre, selbst während der Grossen Depression in den 1930er-Jahren hatte das Land eine funktionierende Regierung mit dem Präsidenten an der Spitze. Doch die Regierung kann nicht funktionieren mit einem angeklagten oder verurteilten Verbrecher an der Spitze. Der Präsident wäre ein Geächteter, oder er wäre auf dem besten Weg, ein Geächteter zu werden. Um sein eigenes Überleben zu sichern, müsste er die Rechts­staatlichkeit zerstören.

Von Trump selbst und aus seinem Umfeld wissen wir relativ genau, was die unmittelbaren Prioritäten einer zweiten Trump-Administration wären:

  1. Einstellung aller straf- und zivilrechtlichen Verfahren, die auf Bundes- und Staatsebene gegen Trump laufen.

  2. Begnadigung und Schutz derjenigen, die versucht haben, die Wahl 2020 nachträglich zugunsten von Trump zu kippen.

  3. Das Justiz­ministerium in Bewegung setzen, um gegen Trump-Gegner und -Kritikerinnen vorzugehen.

  4. Die Unabhängigkeit des öffentlichen Dienstes abschaffen und Bundes­beamte entlassen, die sich weigern, Trumps Befehle auszuführen.

  5. Sollten diese gesetz­widrigen Aktionen Proteste in amerikanischen Städten auslösen, dem Militär befehlen, sie zu zerschlagen.

Ein erneut eingesetzter Trump würde die Vereinigten Staaten in eine Reihe von unvorstellbaren Szenarien führen. Würde der Senat Trumps Kandidatinnen bestätigen, die wegen ihrer Bereitschaft ausgewählt wurden, dem Präsidenten bei einem Staats­streich gegen die US-Regierung zu helfen? Würden die Mitarbeiter des Justiz­ministeriums zurücktreten? Würden die Menschen auf die Strasse gehen? Würde das Militär den Befehl, Demonstrationen zu unterbinden, befolgen oder verweigern?

Das bestehende Verfassungs­system bietet keinen Raum für die subversiven juristischen Manöver eines Verbrechers an der Spitze. Wenn ein Präsident sich selbst für Bundes­verbrechen begnadigen kann – was Trump wahrscheinlich versuchen würde –, dann könnte er seine Begnadigung im Voraus schreiben und Besucher im Weissen Haus erschiessen. (Im Gegenzug könnte der Vize­präsident den Präsidenten im Oval Office ermorden und sich dann sofort selbst begnadigen.) Wenn ein Präsident dem Generalstaats­anwalt befehlen kann, ein Bundes­verfahren gegen ihn einzustellen – was Trump sicherlich tun würde –, dann wird die Behinderung der Justiz zu einem gewöhnlichen Recht des Präsidenten.

Wenn Trump Präsident werden kann, dann schulden die Vereinigten Staaten einem seiner Vorgänger, Richard Nixon, rückwirkend eine grosse Entschuldigung. Nach den Regeln einer zweiten Trump-Präsidentschaft hätte Nixon locker das Recht gehabt, das Justiz­ministerium anzuweisen, die Ermittlungen zu Watergate einzustellen und dann sich selbst und alle Beteiligten für den Einbruch und die Vertuschung zu begnadigen.

Nach seiner Wahl 2016 war Trump bald umgeben von prominenten und einflussreichen Leuten, die erkannten, dass von ihm eine Gefahr ausging, weil ihn Gesetze nicht interessieren. Sie fanden Wege, um einen Mann zu bändigen, den sie – mit den Worten von Trumps erstem Aussen­minister – als «verdammten Vollidioten» ansahen und – um seinen zweiten Stabschef zu zitieren – «die fehlerhafteste Person, die ich je in meinem Leben getroffen habe», deren «Unehrlichkeit einfach verblüffend ist». Aber in einer zweiten Amtszeit von Trump gäbe es keinen Rex Tillerson, keinen John Kelly, keinen Jeff Sessions, der sich als General­staatsanwalt von den Ermittlungen zu den Verbindungen des Präsidenten nach Russland zurückzog, was dazu führte, dass ein unabhängiger Sonder­ermittler eingesetzt wurde.

Seit 2021 sind Trump-skeptische Republikanerinnen aus der Politik gedrängt worden. Die Abgeordneten Liz Cheney und Adam Kinzinger haben ihre Sitze im Repräsentanten­haus verloren, weil sie sich für Wahl­integrität eingesetzt haben. Aus dem gleichen Grund zog der Abgeordnete Tom Emmer seine Kandidatur als Sprecher des Repräsentanten­hauses zurück. Die republikanische Fraktion im Senat ist für den Autoritarismus im Stile Trumps weniger anfällig – es fällt jedoch auf, dass die jüngeren und neueren republikanischen Senatoren (Ted Cruz, Josh Hawley, J. D. Vance) dazu neigen, Trumps Pläne zu unterstützen, während seine Gegnerinnen im Senat der scheidenden Generation angehören. Auch Trumps härteste Konkurrenten für die Nominierung 2024 wagten es nur selten, seinen Macht­missbrauch zu kritisieren.

Die meisten, die eine zweite Amtszeit von Trump mittragen würden, wären unterwürfige Handlanger, die die brutale Realität des zeitgenössischen Republikanismus verinnerlicht haben: Verteidige die Demokratie, verliere deine Karriere. Schon jetzt hat sich eine Reihe fachlich kompetenter Opportunisten zusammen­gefunden – aus rechten Thinktanks und anderswo – und hat begonnen, detailliert durchzudenken, wie die institutionellen Schutz­mechanismen gegen Trumps korrupte und rachsüchtige Impulse abgebaut werden können. Diejenigen, die in Trumps zweiter Amtszeit wahrscheinlich seine Berater wären, haben deutlich gemacht, dass sie seine Vorstellungen teilen: dass Trump straffrei bleiben soll. Und dass sie es unterstützen würden, Massnahmen zur Strafverfolgung gegen diejenigen einzusetzen, die er als seine Gegner sieht – nicht nur gegen die Familie Biden, auch gegen Trumps eigenen ehemaligen General­staatsanwalt und den früheren Vorsitzenden des Generalstabs der US-Streitkräfte.

Wenn Trump erneut die Präsidentschafts­wahl gewinnt, wird die ganze Welt zum Schauplatz seiner Politik von Rache und Belohnung. Die Ukraine wird Wladimir Putin überlassen werden; Saudi­arabien wird die Dividenden für seine Investitionen in die Familie Trump kassieren.

Austritt aus der Nato

Schon in seiner ersten Amtszeit sagte Trump zu seinen Beratern, dass er aus der Nato austreten wolle. In der zweiten Amtszeit würde Trump Beraterinnen wählen, die ihm das nicht ausreden. Auch andere Partner müssten sich auf den Autoritarismus und die Korruption einer zweiten Amtszeit einstellen. Die Liberalen in Israel und Indien wären isoliert, während sich die USA im eigenen Land reaktionärer Politik und Autoritarismus zuwenden würden; die ostasiatischen Demokratien müssten sich auf Trumps Protektionismus und Handels­kriege einstellen; Mexikos antidemokratische Morena-Partei hätte die Möglichkeit, sich von der Demokratie zu verabschieden, sofern sie im Gegenzug die Migrations­ströme in die Vereinigten Staaten unterdrückt.

Ohnehin wären die Vereinigten Staaten durch die Probleme im eigenen Land zu sehr gelähmt, um Freunden im Ausland zu helfen.

Wenn Trump gewählt wird, dann höchst­wahrscheinlich nicht von einer Mehrheit der Bevölkerung. Stellen Sie sich dieses Szenario vor: Trump hat die Mehrheit der Wahlleute mit 46 Prozent der Stimmen gewonnen, weil Kandidaten von anderen Parteien, finanziert durch republikanische Spenderinnen, die Anti-Trump-Koalition erfolgreich gespalten haben. Trump würde dann zum zweiten Mal Präsident werden, obwohl er bei den vergangenen drei Wahlen nie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hatte. Auf dieser dünnen Basis würden seine Anhänger versuchen, seine Pläne der persönlichen Straffreiheit und der politischen Rache umzusetzen.

In diesem Szenario müssten die Trump-Gegnerinnen einer harten Realität ins Auge sehen: Das US-Wahl­system hätte eine strategisch günstig positionierte Minderheit bevorteilt, angeführt von einem Präsidenten, der Gesetze bricht und die demokratische Mehrheit benachteiligt. Die eine Seite hätte die andere überstimmt. Aber die Überstimmten hätten dennoch gewonnen.

Die Überstimmten hätten kein Problem damit, das alles zu ihren Gunsten zu rechtfertigen. «Wir sind eine Republik, keine Demokratie», haben viele im Jahr 2016 gesagt. Seitdem haben sich die Überstimmten noch deutlicher gegen die Demokratie ausgesprochen. Wie Senator Mike Lee einen Monat vor der Wahl 2020 twitterte: «Demokratie ist nicht das Ziel.»

Solange die Herrschaft der Minderheit ein gelegentliches oder zufälliges Ergebnis zu sein scheint, mag die Mehrheit damit einverstanden sein. Sobald sie aber weiss, dass die Minderheit beabsichtigt, ihre Macht für immer zu erhalten – und sie zu nutzen, um das gesamte Rechts- und Verfassungs­system zu untergraben –, wird die Mehrheit möglicher­weise nicht mehr so bereitwillig mitmachen. Eine Folge der zweiten Amtszeit von Trump könnte eine amerikanische Version der Massen­demonstrationen sein, die 2023 die Strassen von Tel Aviv füllten, als Premier­minister Benjamin Netanyahu versuchte, das israelische Gerichts­system umzugestalten.

Und was mag darauf folgen? Im Jahr 2020 spielten Trumps Berater mit der Idee, die Armee einzusetzen, um Proteste nieder­zuschlagen gegen Trumps Pläne, die Wahl zu kippen. Jetzt denken die Leute in Trumps Umfeld offenbar noch weiter voraus. Berichten zufolge wollen sie sich darauf vorbereiten, den «Insurrection Act» zu nutzen, um das Militär für Trumps autoritäres Projekt einsetzen zu können. Das ist ein unglaublicher Gedanke. Aber Trump denkt darüber nach, also müssen alle anderen auch darüber nachdenken – einschliesslich der obersten Führung des US-Militärs.

Das Ende der Freiheit droht

Wenn ein Präsident Ermittlungen gegen seine Gegnerinnen anordnen oder das Militär einsetzen kann, um Proteste nieder­zuschlagen, dann wäre unsere Gesellschaft plötzlich nicht mehr frei. Es gäbe kein Recht mehr, sondern nur noch die legalisierte Verfolgung politischer Gegner. Es war schon immer Trumps grösster politischer Wunsch, sowohl das Gesetz als auch institutionelle Gewalt zum Zweck seiner persönlichen Macht einzusetzen – ein Wunsch, den viele in seiner Partei nun offenbar entschlossen umsetzen wollen.

Dieses düstere Szenario steht im Zentrum der Wahl im Jahr 2024. Wenn Trump besiegt wird, können die Vereinigten Staaten auf ihre gewohnt unvollkommene Art die vielen grossen Probleme unserer Zeit angehen: die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine, den Klimawandel, Bildungs­standards und Chancen­gleichheit, Wirtschafts­wachstum und individueller Lebens­standard und so weiter. Trump zu stoppen, würde noch nicht bedeuten, dass man bei irgendeinem dieser Punkte weiterkommt. Aber es würde die Möglichkeit des Fortschritts bewahren, indem die konstitutionell-demokratische Struktur der Vereinigten Staaten am Leben erhalten wird.

Eine zweite Präsidentschaft Trumps hingegen wäre ein Schock, der alle anderen Themen in den Schatten stellen würde. Sie würde die Abzweigung auf einen dunklen Pfad markieren, einen dieser Risse zwischen «vorher» und «nachher», die eine Gesellschaft nie wieder rückgängig machen kann.

Selbst wenn der Schaden eingedämmt würde, könnte er nie ungeschehen gemacht werden, so wie der Schaden des 6. Januar 2021 nie ungeschehen gemacht werden kann. Die lange Tradition friedlicher Macht­wechsel wurde an diesem Tag gebrochen. Und wenn der Versuch, den Wechsel durch Gewalt zu verhindern, auch gescheitert ist, wurde die Gewalt selbst nicht ausgelöscht. Sogar wenn die Pläne und Komplotte einer zweiten Amtszeit Trumps ebenfalls vereitelt würden, wäre für jeden künftigen Möchtegern-Diktator klar: Ein Präsident kann einen Putsch­versuch unternehmen und, wenn er gestoppt wird, trotzdem ins Amt zurück­kehren und es erneut versuchen.

Wie wir jetzt aus Memoiren und offiziellen Äusserungen wissen, waren viele von Trumps eigenen Kabinetts­mitgliedern und leitenden Mitarbeiterinnen entsetzt über den Präsidenten, dem sie dienten. Die Vorsitzenden seiner eigenen Partei im Kongress fürchteten und hassten ihn. Die zahlungs­kräftigsten Spender der Grand Old Party haben drei Jahre lang darauf hingearbeitet, dass jemand anderes nominiert wird, irgendwer, egal wer. Und dennoch drängen Trumps Partei­freunde erneut in seine Nähe. Sie versuchen sich selbst zu überzeugen, dass es irgendeinen Grund gibt, Trumps ersten Umsturz­versuch zu verzeihen und einen zweiten zuzulassen: Steuern, Grenz­kontrollen, dumme Kommentare von «woken» College-Studentinnen.

Damit die Demokratie fortbestehen kann, muss jedoch das demokratische System selbst die oberste Verpflichtung aller zentralen Teilnehmer sein. Die Regeln müssen wichtiger sein als die Ergebnisse. Wenn das nicht der Fall ist, steuert das System auf einen Zusammenbruch zu – so, wie es jetzt der Fall ist.

Als Benjamin Franklin, einer der Gründungs­väter, über die damals neue US-Verfassung sagte: «Eine Republik, wenn man sie halten kann», wollte er damit nicht andeuten, dass die Republik unbedacht verlegt werden könnte. Er sah voraus, dass ehrgeizige, rücksichtslose Personen auftauchen werden, die versuchen würden, die Republik zu brechen, und dass schwache, käufliche Personen sie dabei unterstützen werden.

Die Amerikanerinnen stehen seit 2016 vor Franklins Heraus­forderung, in einer Geschichte, die bisher einige Schurken und viele Heldinnen hatte – und gerade genug Glück, um das Gleich­gewicht zu halten. Es wäre gefährlich, sich weiterhin auf das Glück zu verlassen.

Zum Autor und zu diesem Text

David Frum ist Redaktor beim Magazin «Atlantic», hier erschien dieser Text unter dem Titel «The Danger Ahead» erstmals am 4. Dezember 2023.

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