Eine Lichtung für alle
In Deutschland und weltweit ergeht sich die Neue Rechte wieder in Reinheitsfantasien. Das ist menschenverachtend und ahistorisch. Ein Gemälde Giorgiones aus der Renaissance zeigt dagegen das Nebeneinander der Religionen.
Von Kia Vahland, 23.01.2024
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Als Zehnjähriger musste Umberto Eco, 1932 im Piemont geboren, in einem Schulaufsatz die Frage beantworten, ob es sich lohne, für Benito Mussolinis Ruhm zu sterben. Er bejahte. Und hatte so den Todeskult des Faschismus kennengelernt, der ihn noch als Erwachsenen erschrecken sollte.
Der Schriftsteller wusste, wovon er sprach, als er rund ein halbes Jahrhundert später in einem Vortrag in New York versuchte, den, wie er es nannte, Ur-Fascismo zu fassen zu bekommen: Merkmale, die auf alle faschistischen Strömungen zutreffen, unbenommen ihrer jeweiligen historischen und regionalen Besonderheiten. Dazu gehörten für Eco der Kampf gegen die Errungenschaften der Aufklärung, der Hass auf die Kultur, auf Differenzen und produktiven Dissens. Und der Appell an den Nationalismus: Der Ur-Faschismus, so Eco, sage den Leuten, «dass ihr einziges Privileg das allgemeinste von allen ist, nämlich im selben Land geboren zu sein». In faschistischer Ideologie seien «die Einzigen, die der Nation eine Identität geben können, ihre Feinde. (…) Die Anhänger müssen sich belagert fühlen.» Dem diene der «Appell an die Fremdenfeindlichkeit».
Umberto Eco ist vor knapp acht Jahren gestorben. Inzwischen appelliert die extreme Rechte nicht mehr nur an Fremdenfeindlichkeit. Sie setzt sie voraus. Und malt sich aus, Personen, die nicht in das eigene völkische Konzept passen, willkürlich die Staatsbürgerschaft wieder zu entziehen. Ausser Asylsuchenden und Geduldeten sollten auch Menschen aus Deutschland abgeschoben werden, die vor Jahren eingebürgert wurden, und auch ihre Kinder, Kindeskinder, Freunde und Sympathisantinnen: So imaginierten es laut einer Reportage des Rechercheverbundes «Correctiv» Rechtsextremisten der Identitären Bewegung, AfD-Funktionäre und einige Rechtskonservative im November 2023 bei einem Treffen in einem Potsdamer Hotel.
Reinheitsfantasien wie diese greifen antidemokratische Ideen des Juristen Carl Schmitt auf, der einst auf brutale Homogenisierung der Bevölkerung drängte und so den Nationalsozialismus befeuerte. Auch erinnern die Potsdamer Pläne an das Vorhaben der Nazis, alle jüdischen Personen nach Madagaskar zu deportieren – was nicht geschah, stattdessen kam dann im nächsten Schritt der Holocaust.
Dass faschistisches Gedankengut in der AfD und anderen rechtspopulistischen Parteien Europas weitverbreitet ist, war auch vor der Enthüllung von «Correctiv» bekannt. Der Bericht aber führte einer grossen Öffentlichkeit noch einmal vor Augen, was gerade auf dem Spiel steht: alles. Der Humanismus und der Gleichheitsgrundsatz, die Verfassung und das Selbstbestimmungsrecht, der Schutz von Minderheiten, die Religions- und Meinungsfreiheit, das gesamte demokratische Selbstverständnis. Zudem, nicht derart fundamental, aber immer noch wesentlich: der Wohlstand, eine funktionierende Infrastruktur, das internationale Ansehen. Schliesslich fehlen in Deutschland schon jetzt Arbeitskräfte, und Xenophobie und Rassismus stehen einer Exportwirtschaft schlecht zu Gesicht.
Derartiger Irrationalismus ist ein weiteres Merkmal, das Eco am, wie er sagt, «ewigen Faschismus» erkennt. Dieser mag sich technisch modern geben, verweigert sich dem Autor zufolge aber in seiner Rückwärtsgewandtheit und Zerstörungslust der Gegenwart und erst recht der Zukunft. Personen, die ein Gemeinwesen tragen, im Wortsinn ausgrenzen zu wollen, ist unmoralisch und menschenverachtend. Es ist zudem fanatisch und dumm.
Das wussten schon die Handelsgesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.
Die Republik Venedig war im Seehandel gross geworden. Man pflegte hier Distanz zu den Doktrinen, die aus Rom kamen. Die Serenissima hielt sich selbst für von Maria auserwählt und mochte nie aus vollem Herzen die Führungsrolle des Vatikans akzeptieren.
Vor allem aber verfolgten die Kaufleute andere Interessen als der fundamentalistische Flügel des Klerus. Buchdruck und Buchhandel florierten in der Stadt gerade mit ausländischen und während der Gegenreformation auch verbotenen Schriften. Nicht einmal die osmanische Eroberung Konstantinopels, des heutigen Istanbuls, im Jahr 1453 hatte die Geschäfte mit dem Osten zum Erliegen gebracht. Männer mit Turban flanierten weiter über den Markusplatz, Venezianer legten rot gemusterte türkische Teppiche in ihre Gondeln, Diplomaten reisten an den Bosporus.
Auch Juden lebten in Venedig; sie mussten ab 1516 im Ghetto wohnen, dem ersten Europas – was mit massiven Restriktionen verbunden war, aber im Vergleich zu der Verfolgung anderswo zumindest einen vagen Rechtsrahmen bot. In der Reformationszeit wurden auch protestantisch Gläubige in der Stadt toleriert, allerdings ebenfalls unter Ausgangsbeschränkungen und anderen Kontrollen.
Bei allem Dünkel, den venezianische Adelige ausstrahlen konnten: Menschen anderer Herkünfte und Religionen zu vertreiben, war ganz offensichtlich nicht ihr Ziel – was weniger mit ihrem Gerechtigkeitssinn als mit ihrem Geschäftssinn zu tun hatte.
Vom Nebeneinander der Religionen handelt ein rätselhaftes Gemälde, das der 1510 früh verstorbene Giorgione in Venedig malte, noch bevor die Konfessionskämpfe den Kontinent erschütterten.
Das Bild, das heute im Kunsthistorischen Museum Wien hängt, zeigt drei Männer unterschiedlichen Alters in einer baumbestandenen Landschaft mit einem Dorf im Hintergrund. Der jüngste, ein Lockenkopf mit Zirkel und Winkelmass in der Hand, sitzt auf einer erhöhten steinernen Stufe und schaut konzentriert in eine beleuchtete Höhle. Er wendet seinen Begleitern den Rücken zu. Der eine ist ein farbenfroh und kostbar gekleideter, nachdenklicher Osmane mittleren Alters mit Turban. Wie er seinen Daumen lässig in den Gürtel hängt, hat sich Giorgione bei einem Kollegen abgeschaut: Gentile Bellini war um 1480 nach Konstantinopel gereist, hatte den Sultan und andere Osmanen porträtiert, darunter auch solch einen selbstbewussten Kordelträger. Die dritte Figur auf Giorgiones Gemälde ist ein bärtiger Alter im gelben Gewand. Dieses weist ihn wohl als Juden aus, da diese gezwungen waren, ein gelbes Zeichen auf ihrer Kleidung oder einen gelben Hut zu tragen (Giorgione verzichtet auf diese ausdrückliche Stigmatisierung und übernimmt nur die Farbe Gelb). Der Mann hält den Betrachterinnen eine Sternenkarte entgegen.
Ein früher, für seine Aufmerksamkeit bekannter Augenzeuge schrieb, es seien drei Philosophen dargestellt. Das schliesst nicht aus, dass die Figuren vage an die drei Weisen erinnern, die den Stern Bethlehems suchen – und die heute als die drei heiligen Könige verehrt werden. Es schliesst aber auch nicht aus, dass die Männer zudem für Christentum, Islam und Judentum stehen. Nur der junge, wissenschaftlich interessierte mutmassliche Christ konzentriert sich auf dem Gemälde auf das Licht Gottes in der Höhle. Doch auch der Muslim und der Jude treten als ehrwürdige Denker auf. Die drei halten sich am selben Ort auf. Ohne die Sternenkarte des Alten wären sie womöglich gar nicht bis in diese an das Veneto erinnernde Landschaft gekommen.
Das Gemälde ist – wie die meisten Werke Giorgiones – von späteren Generationen nicht komplett entschlüsselt worden. Deutlich aber wird bei allen Differenzen und aller Konkurrenz der drei Philosophen und ihrer Religionen ihre prinzipielle Ebenbürtigkeit. Keiner schickt sich an, die anderen von der Lichtung zu vertreiben. Ihr Wissen ergänzt sich.
Nun hegten auch Gebildete in der Renaissance antimuslimische und antisemitische Ressentiments. Sie mochten nicht verwinden, wie viel sie zum Beispiel der arabischen Kultur verdankten.
Ein Physiker aus Kairo, Ibn al-Haitham, im Westen Alhacen genannt, zeigte schon im 11. Jahrhundert, dass alle Dinge Strahlen aussenden, die sich im Auge bündeln. Die Welt existiert auch dann, wenn wir wegschauen. Im 13. Jahrhundert wurden seine Schriften in Italien gelesen und inspirierten über den Umweg der Gelehrtendebatte auch den Maler Giotto.
Und im späten Mittelalter wurden die Schriften des Aristoteles vor allem anhand der Kommentare eines spanischen Muslims rezipiert, der 1198 in Marrakesch gestorben war: Ibn Ruschd, latinisiert Averroës, synchronisierte die Ideen des Griechen mit den Anforderungen monotheistischer Religionen. Das machte ihn bei christlichen Denkern beliebt. Besonders in Venedig und der Universitätsstadt Padua standen die Aristoteles-Kommentare des Averroës hoch im Kurs. Was im 14. Jahrhundert Francesco Petrarca ärgerte. Gegen die Anhänger des muslimischen Denkers polemisierte der Dichter: «Sie suchen die Wahrheit, indem sie die Wahrheit missachten.» Weiter: «Und sie suchen das Licht, indem sie ihren Rücken der Sonne zuwenden.»
Genau dies tut auch der Muslim auf Giorgiones Gemälde: Er kehrt seinen Rücken der aufgehenden Sonne am Horizont zu und schaut als Einziger der drei auch nicht in Richtung des göttlichen Lichts aus der Höhle. Dem Mann mit Turban gibt auch Giorgione nicht recht. Doch er räumt ihm selbstverständlich einen zentralen Platz ein, im Bild wie in der europäischen Kulturgeschichte. In den innovativen Städten der Vormoderne wussten die Menschen: Es gibt kein christliches Abendland in Reinform. Alles, was an Europa je erfindungs- und erfolgreich war, ist das Ergebnis kulturellen Austausches und Streits.
Dies versteht sich eigentlich von selbst. Heute aber müssen Selbstverständlichkeiten wieder verteidigt werden gegen die zerstörerischen Kräfte eines aufkommenden neuen Faschismus, der auf die Gleichgültigkeit der Bürgerinnen in Demokratien hofft.
In den vergangenen Tagen demonstrierten viele hunderttausend Menschen in deutschen Städten gegen die rechtsextremen Deportationsfantasien und gegen die AfD; in Hamburg und München mussten die Kundgebungen wegen Überfüllung abgebrochen werden. Der Gleichmut hat ein Ende.
Illustration: Alex Solman
Stefano Carboni (Hg.): «Venice and the Islamic World 828–1797», Ausstellungskatalog. Yale University Press 2007. Dieser Katalog ist antiquarisch noch erhältlich.
Umberto Eco: «Der ewige Faschismus». München, Hanser 2020. 80 Seiten, ca. 16 Franken.
Sylvia Ferino-Pagden (Hg.): «Giorgione: Mythos und Enigma». Ausstellungskatalog, Mailand/Wien 2004. Dieser Katalog ist antiquarisch noch erhältlich.