Strassberg

Konservativ-revolutionär

Die radikale Rechte ist im Aufwind. Weil sie alle Wünsche zu erfüllen verspricht. Und gleich auch noch ihr Gegenteil.

Von Daniel Strassberg, 19.12.2023

Vorgelesen von Dominique Barth
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Der Siegeszug hält an. In Argentinien und in den Nieder­landen haben rechte Parteien die Wahlen gewonnen, und es könnte nicht mehr lange dauern, bis die Schweiz von solchen Regierungen umzingelt ist: im Osten von Herbert Kickls FPÖ, im Westen vom Front National – beziehungsweise neuerdings Rassemblement National – von Marine Le Pen und im Norden von der AfD um Björn Höcke. Im Süden zerstört Giorgia Meloni gerade die Hoffnung, die Rechte werde gezähmt, wenn sie erst an der Macht sei. Und die FDP macht in der Schweiz vor, wie leicht die sogenannte Brand­mauer fällt, die andere Parteien davon abhalten soll, mit der populistischen bis radikalen Rechten zu koalieren.

Das Vorgehen dieser Rechten lässt sich an den Ländern ablesen, die bereits erobert sind: Zuerst zerstören sie die Justiz und andere staatliche Institutionen, dann kapern sie das Erziehungs­wesen und die Presse und zuletzt verbannen sie das Parlament in die Bedeutungs­losigkeit. Dann ist der Weg frei für eine giftige Schlamm­lawine aus Fremden­feindlichkeit, Rassismus, Autoritarismus, Demokratie­feindlichkeit und Wirtschafts­liberalismus.

Nicht nur in Europa: Die Liste der Staaten, die bereits geflutet sind oder es in absehbarer Zeit noch werden, ist unüberschaubar, die Gegen­beispiele bleiben rar. Der Sieg von Joe Biden und das Ende der absoluten Herrschaft der PIS in Polen sind wohl nur kurze Unter­brechungen eines Trends und keine Trend­umkehr.

Wer darin Schwarz­malerei sieht, möge sich die Reden anhören, die Donald Trump gerade überall in den USA hält. Niemand wird behaupten können, man habe nicht gewusst, dass er eine Diktatur plant. Und dennoch sind seine Chancen, wieder­gewählt zu werden, intakt.

So erschreckend das Phänomen, so hilflos sind die Erklärungen. Die meisten kranken daran, dass sie sich die Sicht der Neorechten schon zu eigen machen. Das klingt dann etwa so: Die durch die Globalisierung sozial und wirtschaftlich abgehängten Teile der Bevölkerung reagieren mit verständlichem Ressentiment auf die aktuellen Entwicklungen. Die durch Migration entstandene Konkurrenz auf dem Wohnungs-, Arbeits- und Bildungs­markt treibt die Bürgerinnen notgedrungen in die Fremden­feindlichkeit, denn durch die grosse Zahl der Einwanderer fühlen sie sich fremd im eigenen Land.

Kein Wort darüber, dass Xenophobie dort blüht, wo keine Fremde leben, dass die Überlastung der Kommunen und Länder in Deutschland nicht Folge der Immigration, sondern des Kaputt­sparens des Staates unter Merkel und Schäuble ist, und dass das Gefühl der Entfremdung und der Heimat­losigkeit mit der neoliberalen Ideologie zu tun hat, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sein muss oder eine lästige Verliererin ist.

Besonders kranken die Deutungs­versuche daran, dass sie die entscheidende Frage offen­lassen: Weshalb profitiert nur die Rechte und nicht die Linke von dieser gesellschaftlichen Ausgangslage?

Um diese Frage zu beantworten, reicht es nicht, unhinterfragt das rechte Framing von der angeblichen Heimat­losigkeit der Globalisierungs­verlierer zu übernehmen. Man muss zuerst die historischen Wurzeln rechter Ideologie freilegen.

Die erste heisst Konservativismus und geht auf die Französische Revolution zurück. Bekanntlich mündete diese in ein Blutbad der Jakobiner, in die sogenannte terreur. Der Wohlfahrts­ausschuss – so hiess er tatsächlich – liess in den Jahren 1792 bis 1794 zwischen 25’000 und 40’000 Menschen guillotinieren. Geistliche, Adelige, wohlhabende Bürgerinnen, politische Gegner und überhaupt alle «Volksfeinde» wurden unterschiedslos und ohne ordentliches Verfahren hingerichtet. Am 5. Februar 1794 erklärte Robespierre vor dem National­konvent dazu, in einem «Tugendstaat» sei «das Volk durch Vernunft zu leiten und die Feinde des Volkes durch terreur zu beherrschen». «Der Terror», so Robespierre weiter, «ist nichts anderes als unmittelbare, strenge, unbeugsame Gerechtigkeit.»

Dass das grausame Morden im Namen der Tugend, der Vernunft und der Gerechtigkeit stattfand, nahmen einige europäische Denker zum Anlass, die Aufklärung grundsätzlich infrage zu stellen. In Frankreich waren Joseph de Maistre, in England Edmund Burke die prominentesten Vertreter der konservativen Philosophie. Schon 1790 schreibt Burke in seinen «Reflections on the Revolution in France»:

Es kommt mir vor, als befände man sich in einer grossen Krise, nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa, vielleicht in mehr als Europa. Alle Umstände zusammen­genommen, ist die Französische Revolution das Erstaunlichste, was sich bisher in der Welt ereignet hat. Die wunderbarsten Dinge werden herbei­geführt, (doch) in vielen Fällen durch die absurdesten und lächerlichsten Mittel, auf die lächerlichsten Arten und scheinbar mit den verächtlichsten Mitteln. Alles scheint von der Natur entfernt in diesem seltsamen Chaos aus Leicht­fertigkeit und Wildheit, alle möglichen Verbrechen mischen sich mit allerlei Torheiten. Beim Betrachten dieser monströsen tragikomischen Szene folgen die gegen­sätzlichsten Leidenschaften zwangsläufig aufeinander und vermischen sich manchmal im Geist: abwechselnd Verachtung und Empörung, abwechselnd Lachen und Weinen, abwechselnd Hohn und Entsetzen.

Zu Gewalt­exzessen müsse es notgedrungen kommen, wenn traditionelle Strukturen zerstört und natürliche Autoritäten hinter­fragt werden, meinte auch de Maistre. Nur die Wieder­einsetzung des Königs, des Adels und der Religion vermöge dem verbrecherischen Treiben Einhalt zu gebieten. Hierarchien gehörten zur menschlichen Natur, und wer sie abschaffe oder auf den Kopf stelle, müsse damit rechnen, dass die orientierungs­losen Massen nicht mehr zu zügeln seien.

Autoritarismus, antiegalitäres Denken, Traditionalismus, Nationalismus und Legalismus sind jene Elemente rechten Denkens, die als Reaktion auf die exzessive Gewalt der Französischen Revolution verstanden werden können.

Die zweite Wurzel rechten Denkens ist etwa hundert Jahre nach der ersten entstanden, und in ihr dreht sich alles um den Begriff des Lebens. Mit Leben wurde am Ende des 19. Jahrhunderts, allen voran von Friedrich Nietzsche und Henri Bergson, eine nicht begriffliche Urkraft bezeichnet, die nicht nur den Menschen, sondern die Natur, ja den ganzen Kosmos durch­strömt. Um nicht zu einem amorphen Chaos zu führen, muss das Leben zwar durch die Sprache, die Vernunft und die Kultur in Schach gehalten werden. Doch obwohl das Korsett, das dem Leben aufgezwungen wird, bis zu einem gewissen Grad notwendig ist, streben die Menschen danach, es abzuwerfen, um das «wirkliche Leben» zu spüren, es zu er-leben. Gewalt und Exzesse aller Art sind Möglichkeiten, zum Ursprung, zum Leben selbst zurück­zukehren, zu einem ursprünglichen Leben, das nicht in den Käfig der Moral und der Vernunft eingesperrt ist.

Nach Nietzsche drückt sich das wahre Leben im Willen zur Macht aus, im Willen, zu überwältigen, zu beherrschen und zu unterwerfen. Die Vernunft stellt sich diesem Willen zur Macht entgegen, sie verneint das Leben, sie legt ihm ein Korsett an und bändigt alles Wilde, Fröhliche, Lebendige, Mächtige, kurz alles, was das Leben lebenswert macht. Die Priester und Philosophen, selbst vom Willen zur Macht getrieben, reden den Menschen ein schlechtes Gewissen ein und bürden ihnen asketische, lebens­feindliche Ideale auf.

Das Leben und der Wille zur Macht sind für Nietzsche natur­gemäss gewalt­tätig. Wer Gewalt systematisch unterdrückt, ist deshalb selbst gewalt­tätig, weil er das Leben selbst unterdrückt. Nietzsche ist, wie man unschwer erkennen kann, von dem damals populären Sozial­darwinismus stark beeinflusst: Der Kampf der Starken gegen die Schwachen ist die Essenz des Lebens.

Natürlich gibt es auch linke Nietzsche-Anhänger wie zum Beispiel Michel Foucault, doch Monstrositäten wie diese können auch sie sich nicht schöntrinken:

In aller Strenge geantwortet: eben der «Gute» der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Giftauge des Ressentiment. (…) Sie sind nach Aussen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassne Raub­thiere. Sie geniessen da die Freiheit von allem socialen Zwang, sie halten sich in der Wildniss schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschliessung und Einfriedigung in den Frieden der Gemeinschaft giebt, sie treten in die Unschuld des Raubthier-Gewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheusslichen Abfolge von Mord, Nieder­brennung, Schändung, Folterung mit einem Übermuthe und seelischen Gleich­gewichte davon­gehen, wie als ob nur ein Studenten­streich vollbracht sei, überzeugt davon, dass die Dichter für lange nun wieder Etwas zu singen und zu rühmen haben. Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raub­thier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Thier muss wieder heraus, muss wieder in die Wildniss zurück. (… Dass der Vornehme) ein gewisses Recht darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich im Abstande von der Überfülle des Missrathenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach dem heute Europa zu stinken beginnt, somit als etwas wenigstens relativ Gerathenes, wenigstens noch Lebens­fähiges, wenigstens zum Leben Ja-sagendes …

Friedrich Nietzsche: «Zur Genealogoie der Moral» I. 11.

Ein Text von grauen­erregender Aktualität! Unschwer erkennt man darin gewisse zentrale Elemente rechter Ideologie wieder: Gewalt­verherrlichung, hierarchisches Denken, Gesetz­losigkeit. Doch von einem traditionalis­tischen Konservativismus ist dies meilenweit entfernt.

Unversöhnlich stehen sich die beiden Lager der Traditionalistinnen und der Fundamentalisten gegenüber, Lager, die es übrigens nicht nur in der Politik, sondern auch in der Religion gibt. Nichts verbindet sie, ausser ihr Hass auf die Vernunft und auf die Aufklärung und ihre Liebe zu Hierarchien. Sonst widersprechen sie sich in beinahe allen Belangen: Bleiben die Ersten konservativ-traditionalistisch, sind die Zweiten fundamentalistisch-revolutionär; sind die einen der Ordnung und den Regeln verpflichtet, wollen die anderen jede feste Ordnung zerstören. Sind die einen bestrebt, Gewalt einzudämmen, verherrlichen die anderen Gewalt als Ausdruck des wahren Lebens. Verteidigen die einen die althergebrachten Institutionen Familie, Kirche und Staat, bekämpfen sie die anderen mit aller Macht. Die einen verehren die alten Autoritäten, die anderen wollen sie mit dem Hammer zertrümmern.

Auch in ihrem Verhältnis zur Geschichte unterscheiden sie sich: Die einen stehen für Kontinuität, die anderen treten für den Umsturz ein. Der wohl tiefgreifendste Unterschied ist das Verhältnis zur Tradition. Während die Konservativen in einem festen Traditions­zusammenhang verankert sind, wollen die Fundamentalisten gerade diesen zerstören, um zu einem fantasierten Ursprung zurück­zukehren. Make America great again ist ein Wahlspruch von Fundamenta­listinnen, nicht von Traditionalisten.

Die Kluft zwischen den beiden rechten Lagern lässt sich kaum überwinden, dachte man, zu tief sind die Gräben zwischen ihnen. Nietzsche hasste den bürgerlichen Konservatismus bis aufs Blut, während die bürgerlich-konservative Elite für den rechten Plebs nur Verachtung übrig hatte. Nicht zufällig erwuchs der wirksamste Widerstand gegen das Hitler­regime aus den Reihen des konservativen Adels und der Kirche.

Überall lassen sich diese beiden gegen­sätzlichen Strömungen beobachten. Tiefer könnte der ideologische Graben zwischen dem Mob, der das Capitol stürmte, und den traditionellen Republikanern in den USA nicht sein, zwischen der FPÖ und der katholischen Kirche in Österreich, zwischen der chassidischen Orthodoxie und den Siedlern in Israel oder zwischen dem Rassemblement National und der konservativen Elite in Frankreich.

Bis vor einigen Jahren befehdeten sich die beiden Lager unerbittlich. Bis ein gerissener Schweizer Unternehmer aus Herrliberg auf die Idee kam, die Grenzen zwischen beiden Lagern zu verwischen und die Unterschiede aufzulösen. Es könnte wohl sein, dass Christoph Blocher diese Strategie der Vereinigung der Rechten erfunden hat. Zumindest war er einer ihrer Vorreiter. Aber das hervor­stechendste Beispiel ist Donald Trump: Dass ein Mensch, der alle sogenannten amerikanischen Werte permanent und öffentlich mit Füssen tritt, die Republikanische Partei dermassen in Geiselhaft nehmen kann, wäre am Ende des 20. Jahrhunderts noch undenkbar gewesen.

Tatsächlich marschieren die beiden Strömungen heute vereint, mit der Folge allerdings, dass die traditionellen Konservativen allmählich verschwinden, weil sie von den Fundamentalisten kannibalisiert werden. Das Problem ist nicht die Schwäche der Sozial­demokratie, sondern die der konservativen Parteien.

Das Ergebnis der Vermischung der beiden wider­sprüchlichen rechten Ideologien ist ein Selbst­bedienungs­laden, in dem für jede erdenkliche Situation eine Recht­fertigung bereitliegt. Queere Minderheiten ausgrenzen? Im Namen der traditionellen Werte der Familie kein Problem. Gewalt predigen? Im Namen des Sozial­darwinismus ganz einfach. Gewalt (der Ausländer) verurteilen? Im Namen der Tradition ebenso einfach. Gewalt verherrlichen? Ist im Namen von Virilität und Instinkt­bejahung leicht zu bewerkstelligen. Autoritäten stützen und gleichzeitig stürzen? Nichts leichter als das. Im Namen des christlichen Abend­landes Frauen gegen sexuelle Übergriffe von Migranten schützen und gleichzeitig Frauen im Namen natürlicher Hierarchien erniedrigen? Auch das geht. Manchmal gibt man sich «wirtschafts­freundlich», sprich: kapitalistisch, manchmal scharf anti­kapitalistisch, je nach Publikum.

Am deutlichsten treten die Wider­sprüche im Verhältnis zum Gesetz hervor: Die eigenen Gesetzes­übertretungen werden als Akt der Befreiung gefeiert, die flüchtender Menschen als Zeichen gebrandmarkt, dass sie sich unseren Werten nicht anpassen können.

Die rechte Misch­ideologie ist eine Wunsch­erfüllungs­maschine. Alles, was ihre Anhänger wollen, alles, was sie sich wünschen, alles, was sie fantasieren, lässt sich unmittelbar rechtfertigen. Dagegen ist nicht anzukommen, schon gar nicht mit rationalen Argumenten. Rechtes Denken bezieht seine Stärke aus seiner Irrationalität, aus der konsequenten Missachtung des Grund­satzes vom ausgeschlossenen Dritten: Etwas kann so richtig sein wie sein Gegenteil. Man greift sich einfach, was einem gerade in den Kram passt.

Wer schon mit Sucht­kranken therapeutisch oder anderswie zu tun hatte, der kennt das: Gegen die unmittelbare Bedürfnis­befriedigung durch das Sucht­mittel ist kein Kraut gewachsen, schon gar nicht eine lange und mühselige Therapie, die auf die Vernunft setzt. Denn ist der Moment der Befriedigung erst einmal vorüber, wächst nicht die Einsicht in das Illusionäre unmittelbarer Wunsch­erfüllung, sondern nur die Sehn-sucht nach einer noch höheren Dosis.

Jetzt müsste, wie meist am Ende einer Kolumne, irgendein hoffnungs­voller Abschluss­satz folgen. Leider fällt mir gerade keiner ein.

Illustration: Alex Solman

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