In der Heimat und doch weit entfernt von daheim: Palästinensische Familien müssen Zuflucht suchen in der Region al-Mawasi. Loay Ayyoub for «The Washington Post»/Getty Images

Die «humanitäre Zone» in Gaza wird zum Albtraum

Israel hat Hundert­tausende von Menschen in das Gebiet von al-Mawasi evakuiert, wo sie inmitten des Krieges und der Winterkälte verzweifelt Nahrung, Wasser und Schutz suchen. Eine Reportage aus einer Region des Leidens.

Von Ruwaida Kamal Amer (Text) und Bettina Hamilton-Irvine (Übersetzung), 19.01.2024

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Al-Mawasi ist ein schmaler Küsten­streifen im Süden von Gaza, einen Kilometer breit und vierzehn Kilometer lang. Er befindet sich in der Nähe der Stadt Khan Younis und der südlichsten Stadt Rafah an der Grenze zu Ägypten. Vor dem Krieg waren in diesem Gebiet etwas mehr als 6000 Menschen zu Hause, zumeist palästinensische Beduinen­familien, die vor allem von der Land­wirtschaft und der Fischerei am Meer lebten. Ansonsten war die Region weitgehend leer und ungenutzt.

Inzwischen jedoch hat sich al-Mawasi in ein dicht besiedeltes Gebiet verwandelt, in dem sich Hundert­tausende von Palästinenserinnen aufhalten. Sie sind vor den israelischen Angriffen geflohen und hier in der Winter­kälte gestrandet. Ihnen fehlt es an den grund­legendsten Dingen des Lebens.

Mittlerweile hält sich der grösste Teil der Bevölkerung Gazas im südlichen und zentralen Teil des Gaza­streifens auf: rund 2 Millionen Menschen auf 230 Quadrat­kilometern. Fast 85 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens – etwa 1,9 Millionen Menschen – sind seit dem Beginn des Krieges aus ihren Wohnungen vertrieben worden. Und während Israel seine Offensive ausweitet und neue Evakuierungen anordnet, bleiben für die Bevölkerung Gazas immer weniger Rückzugs­optionen übrig.

So hat Israel die Palästinenser im Dezember aufgefordert, rund 20 Prozent der Fläche von Khan Younis zu evakuieren – eine Stadt, in der vor dem Krieg nach Angaben des Palestinian Central Bureau of Statistics rund 240’000 Menschen lebten. Dazu waren viele gekommen, die seit Mitte Oktober aus dem Norden geflüchtet waren. Mehr als eine Million Menschen waren den israelischen Anordnungen gefolgt, ihre Wohnungen im Norden zu verlassen und sich in den Süden zu verschieben, was zu Massen­vertreibungen aus Orten wie Gaza-Stadt und dem Flüchtlings­lager Jabaliya führte.

Al-Mawasi wurde von Israel als humanitäre Zone ausgewiesen. Doch die Menschen, die nun dorthin vertrieben wurden, fanden weder Unterkünfte noch Infra­struktur vor. Stattdessen mussten sie in einem unbewohnten Gebiet Zelte aufschlagen und dem zunehmend kalten Wetter trotzen, während sie darauf warten, dass die Angriffe auf die Orte, die sie verlassen haben, aufhören. Während­dessen wächst die Zahl der Menschen weiter an, die in diesem kleinen Gebiet Schutz suchen.

Es ist nicht möglich, genau zu sagen, wie viele Menschen in den letzten Wochen tatsächlich nach al-Mawasi gezogen sind, aber die Zahl wird auf etwa 300’000 geschätzt.

Kein Haus, kein Wasser, keine Toilette

Einer von ihnen ist der 36-jährige Muhammad Sadiq, der vor dem Krieg im Stadt­zentrum von Khan Younis lebte und kürzlich nach al-Mawasi floh. «Wir dachten, dass unsere Gegend sicher sei», sagt er. «Während der vergangenen Kriege haben wir unser Haus nie verlassen. Entsprechend schockiert waren wir, als der Befehl der israelischen Armee kam, das Haus zu räumen.» Er hätte erwartet, dass die Evakuierung nur die östlichen Teile der Stadt betreffen würde, wie das von der israelischen Armee angekündigt worden war. Aber auch die Bewohner im Zentrum seien aufgefordert worden, ihre Häuser zu verlassen.

«Wir wussten nicht, wohin wir gehen sollten», erzählt Sadiq. «Alle unsere Verwandten und Freunde leben in der gleichen Gegend, und die einzige Möglichkeit war, nach al-Mawasi zu gehen. Es ist eine unfruchtbare Region, in der es nichts als Sand gibt.»

Die Lebens­bedingungen in al-Mawasi seien für Familien ungeeignet, umso mehr, als nun plötzlich Tausende von Menschen in dieses Gebiet strömten. «Wir verliessen unser Haus und weinten um die Sicherheit und Wärme, die wir zurück­gelassen hatten, und gingen in ein leeres Stück Land am Meer», sagt er. «Wir nahmen das Bettzeug mit, das wir brauchten, aber als wir ankamen, war es, als wären wir in einer Wüste gelandet – ohne Wasser, ohne Toilette, ohne alles.» Sadiq und seine Familie bauten zwei Zelte auf, eines aus Nylon und eines aus Stoff, und richteten in einem der Zelte eine einfache Toilette ein.

«Ich kann nicht glauben, dass wir unsere Häuser verlassen haben, um hier im Freien und in der extremen Kälte zu schlafen», sagt er. «Wir sind alle krank geworden und können nicht behandelt werden, weil wir nirgends hingehen können. Die israelische Armee wirft auch hier Bomben ab. Es gibt keinen sicheren Ort mehr in Gaza. Wenn wir rausgehen, dann nur, um zu versuchen, mit Nahrung und Wasser unsere Kinder zu retten, nicht uns selbst.»

«Meine Kinder gehen hungrig schlafen»

Unter den neuen Bewohnerinnen des Gebiets sind viele Palästinenser, die aus dem Norden des Gaza­streifens geflohen sind. Zum Beispiel Reem al-Atrash, eine 40-jährige Mutter aus Beit Hanoun, ein paar Kilometer östlich von Gaza-Stadt. Ihre Geschichte klingt ähnlich wie diejenige von Sadiq. Kurz nach Ausbruch des Krieges floh sie mit ihrer sechs­köpfigen Familie in den Süden und fand in Khan Younis in einer Schule Unterschlupf, die vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) betrieben wird. Doch kurz darauf forderte die israelische Armee die Menschen auf, auch dieses Gebiet zu evakuieren, sodass Atrash und ihre Familie gezwungen waren, erneut zu fliehen – diesmal nach al-Mawasi.

In al-Mawasi ist es gerade für Familien schwierig, nur schon die Dinge zu finden, die sie für das tägliche Leben brauchen. Ahmad Hasaballah/Getty Images

«Ich weiss nicht, was mit meinem Haus passiert ist», sagt sie. «Aber in dieser Wüste kann ich nicht leben.» Es gebe weder Wasser noch Essen. «Meine Kinder gehen hungrig schlafen, und ich weiss nicht, wie ich ihnen helfen kann. Sie wachen nachts vor lauter Schmerzen auf, weil sie so frieren. Ich sage ihnen, dass wir bald nach Hause zurück­kehren werden, dass sie Geduld haben müssen. Ich weiss nicht, ob ich ehrlich bin. Aber ich hoffe wirklich, dass wir nach Hause zurück­können. Niemand fühlt sich hier wohl.»

Weil al-Mawasi relativ abgelegen ist, ist es für die Menschen, die nun dort leben, schwierig, nur schon ihre grund­legende Versorgung sicher­zustellen. Das Problem wird noch verschärft durch Israels totale Blockade des Gazastreifens – nach wie vor kommen nur ganz wenige humanitäre Hilfs­güter zu den Bewohnerinnen.

«Mit den anderen Frauen zusammen backe ich Brot, aber da es hier nicht viel Holz gibt, arbeiten die Männer zusammen, um zu sammeln, was sie können», sagt Atrash. «Manchmal habe ich nicht genug Brot für meine Kinder und sie müssen hungrig schlafen gehen, aber ich kann nichts für sie tun. Die Stadt ist weit weg, und ich brauche Wasser zum Waschen und Trinken. Wir versuchen, hier irgendwo Wasser zu finden, und manchmal finden wir auch welches, aber es ist sehr schwierig.»

«Wir hoffen, dass der Krieg bald aufhört», sagt sie. «Wir haben genug vom Leid und von der Ungerechtigkeit.»

Ziel: Überleben

Wie Atrash wurde auch Aya Awad in den letzten drei Monaten zweimal vertrieben. «Beim zweiten Mal habe ich nicht einmal mehr geweint», sagt die 27-jährige Mutter von zwei Kindern aus Khan Younis. «Stattdessen war ich sprachlos in Anbetracht des Grauens dieses Krieges, seines Wahnsinns, seiner Unter­drückung und der erschreckenden Szenen der Vertreibung.»

Awad beschreibt ebenfalls, wie sie dauernd auf der Suche ist nach dem Nötigsten. «Alle stehen in Schlangen mit gelben Kanistern für Wasser. Sie suchen Brennholz, finden aber keins. Sie sind gezwungen, alte Bäume, Palm­büschel und Licht­masten aus dem Boden zu reissen, die wegen des Strom­ausfalls nicht mehr gebraucht werden. Sie sammeln sogar verstreute Papiere und Nylon­säcke ein. Die Frauen tragen Gebets­kleidung und kochen; die Männer entfachen das Feuer und die Jungen schüren es, damit die Flammen nicht ausgehen. Alle Familien­mitglieder haben eine Aufgabe, um zu überleben.»

Das Leid belastet die Familien emotional sehr stark. «Die Menschen laufen orientierungs­los umher», sagt sie. «Keiner kennt seinen Weg. Diese Strassen sind uns fremd – leere Strassen ohne Gebäude.» In der Region habe es viele ehemalige Siedlungen. Hier befand sich einst der israelische Siedlungs­block Gush Katif, der 2005 aufgelöst wurde, als Israel sich aus dem Gazastreifen zurückzog.

«Die Vertriebenen tragen ihre Zelte, ihr Bettzeug, ihre Kleidung und ihre Sorgen und bewegen sich auf das Unbekannte zu, bedrückt von all den Ängsten in ihrem Kopf, dem Gefühl der Unsicherheit und dem Wunsch, von diesem Ort verschwinden zu können», sagt Atrash. «Wie sind wir hier gelandet? Wir sind hier nur Durch­reisende, die ihre Albträume ausleben, bevor sie sie überhaupt träumen.»

Zur Autorin und zu diesem Text

Ruwaida Kamal Amer ist eine freischaffende Journalistin aus Khan Younis. Dieser Text wurde am 4. Januar im «+972 Magazine» veröffentlicht unter dem Titel «In Gaza ‹Safe Zone›, Palestinians Are Living Out Their Nightmares». Das «+972 Magazine» ist ein unabhängiges Online­magazin, das von einer Gruppe palästinensischer und israelischer Journalistinnen betrieben wird.

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