Am Gericht

Marschieren bis zum Zusammen­bruch

Er war ein hoch motivierter, sportlicher Rekrut einer Elite­einheit. Doch beim ersten Marsch kollabierte der 19-Jährige – und überlebte nur mit viel Glück. Sechs Jahre später müssen sich drei Vorgesetzte vor dem Militär­gericht verantworten.

Von Brigitte Hürlimann, 06.12.2023

Vorgelesen von Jonas Gygax
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«Die Schweiz hat eine Armee. Diese ist grundsätzlich nach dem Miliz­prinzip organisiert», heisst es in der Bundes­verfassung. Und weiter: «Jeder Schweizer ist verpflichtet, Militär­dienst zu leisten. Das Gesetz sieht einen zivilen Ersatz­dienst vor. Für Schweizerinnen ist der Militär­dienst freiwillig.»

Mit anderen Worten: Wer als junger Mann in die Rekruten­schule einrückt, erfüllt eine vom Staat auferlegte Pflicht. Umso mehr muss sich dieser Staat darum bemühen, dass die Militär­angehörigen keinen Schaden erleiden – schliesslich geht es um eine Ausbildung und um Übungen in Friedens­zeiten. Falls es zu Schädigungen kommt, haben Betroffene oder Angehörige Anspruch auf eine «angemessene Unter­stützung des Bundes»; auch das ist in der Verfassung geregelt.

Schwere Zwischen­fälle in den Rekruten­schulen führen stets zu Betroffenheit und Anteil­nahme in der Bevölkerung. Im September dieses Jahres starb ein junger Mann im Kanton St. Gallen bei einem «sportlichen Patrouillen­marsch», 2020 ein Rekrut in der Grenadier­schule von Isone. Weitere Todesfälle ereigneten sich 2012 im Kanton Waadt, 2009 im Tessin oder 2003 im zürcherischen Birmensdorf, wo ein junger Mann bei einem 12-Minuten-Lauf zusammen­brach. Bei den meisten dieser Vorfälle geht die Militär­justiz von vorbestehenden gesund­heitlichen Problemen aus.

Am 3. August 2017 absolvierte Yiannis Bänziger im Kanton Aargau seinen ersten Marsch in der Militärpolizei­grenadier-Schule – und kollabierte. Dass er überlebte, war reines Glück. Mehr als sechs Jahre nach dem Vorfall trifft er in Aarau vor dem Militär­gericht auf drei Vorgesetzte, die ihm damals nicht erlaubt haben, den Marsch abzubrechen.

Ort: Militärgericht 2 (zu Gast am Obergericht des Kantons Aargau), Aarau
Zeit: 3. November 2023, 8 Uhr
Fall-Nr.: MJ 17.001652
Thema: fahrlässige Körperverletzung

Vier Männer in Uniform warten im Foyer auf den Beginn der Verhandlung, flankiert von ihren Anwälten – den einzigen Prozess­teilnehmern in Zivil. Drei der Uniformierten sind als Angeklagte aufgeboten worden, der vierte wird als Privat­kläger und Geschädigter Rede und Antwort stehen müssen.

Der Privatkläger und die Angeklagten gehen sich tunlichst aus dem Weg.

Allen ist die Anspannung anzusehen.

Es geht um viel. Für alle.

Soldat Yiannis Bänziger, heute 26 Jahre alt, Architektur­student aus Chur und seit jeher leidenschaftlicher Sportler, wird vor dem fünfköpfigen Gerichts­gremium einmal mehr ausführlich schildern müssen, was damals, am 3. August 2017, im aargauischen Erlinsbach geschah. Es war ein hochsommerlicher Hitzetag, den die Rekruten der Militärpolizei­grenadiere auf dem Schiessplatz verbrachten, um dann in den frühen Abend­stunden auf einen 15-Kilometer-Marsch aufzubrechen: bei immer noch über 30 Grad Celsius am Schatten, im kompletten Tarnanzug, mit Schirm­mütze und Kampf­rucksack.

«Vor dem Marsch wurden keine Tenü­erleichterungen befohlen oder erlaubt», heisst es in den Anklage­schriften.

Die Rekruten marschierten los, und weil der stellvertretende Kommandant einen «Navigations­fehler» machte, ging es an praller Sonne rasch steil bergauf. Dem damals 19-jährigen Bänziger wurde es schwindlig. Nach etwa zwanzig Minuten begann er zu torkeln und konnte kaum mehr gehen. Knapp schaffte er es noch zum ersten Zwischen­verpflegungs­halt, und auch das nur, weil er sich am Rucksack des vor ihm gehenden Kameraden festhalten konnte.

In der Straf­untersuchung werden Rekruten später aussagen, Bänziger habe wie ein Zombie ausgesehen; bleich, mit erweiterten Pupillen. Oder wie ein Boxer, kurz vor dem K. o.

Am Pausenplatz angekommen, legte sich der 19-Jährige völlig entkräftet auf den Boden und sagte, es gehe jetzt wirklich nicht mehr.

Doch die Vorgesetzten nahmen weder sein Flehen noch seinen Zustand ernst. Rekrut Bänziger wurde zuvorderst an die Marsch­kolonne geführt, mit dem Befehl, weiterzulaufen. Zwei Kameraden stützten den Schwankenden, der nicht mehr in der Lage war, allein zu gehen. Wenige Minuten später kollabierte der topsportliche, durchtrainierte junge Mann. Und wachte vier Tage später in der Intensiv­station des Kantons­spitals Aarau wieder auf. Mit unzähligen Schläuchen im Körper.

Die Ärzte diagnostizierten einen anstrengungs­bedingten Hitzschlag, der zu einem Multi­organ­versagen geführt hatte. Der Rekrut schwebte in Lebens­gefahr.

In der Kaserne wäre er gestorben

Dass er noch rechtzeitig ins Spital eingeliefert wurde, an jenem August­tag 2017, war reiner Zufall. Die Vorgesetzten wollten ihn eigentlich zurück in die Kaserne transportieren lassen; nach telefonischer Absprache mit der zuständigen Militär­ärztin. Wie sie den Bewusst­losen auf einer Bahre durch den Wald trugen, begegnete ihnen ein spazierendes Paar; «Zivilisten», wie man sie am Strafprozess nennen wird. Die Frau war medizinisch geschult und erfasste den Ernst der Lage sofort.

Sie drängte die Soldaten dazu, eine Ambulanz zu rufen und den Kameraden ohne weitere Verzögerung ins Spital einliefern zu lassen.

Wäre Yiannis Bänziger wie vorgesehen in die Kaserne gebracht worden, er wäre heute mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben.

Durch seinen Anwalt, Alexander Kernen, lässt der Soldat am Militärgericht 2 in Aarau die Bestrafung der drei Vorgesetzten wegen fahrlässiger Körper­verletzung verlangen – so, wie es auch Auditor Matthias Hugelshofer in seiner Anklage­schrift fordert. Hugelshofer beantragt bedingte Geldstrafen für die Kader­angehörigen. Alle hätten Sorgfalts­pflichten verletzt, «eine spezifische und unnötige Gefahr geschaffen, die sich verwirklicht hat». Die Offiziere und Unter­offiziere, so der Auditor, hätten den schlechten Zustand des Rekruten erkennen und rechtzeitig handeln müssen.

Stehen die Falschen vor Gericht?

Das sehen die drei Angeklagten anders. Sie kämpfen um einen Freispruch und beteuern, als medizinische Laien hätten sie nicht mit einem derart schlimmen Verlauf gerechnet. Die Vorgesetzten gingen von einer mentalen Schwäche des Rekruten aus, die mit Motivation und gutem Zureden überwunden werden könne. Ausserdem habe es sich um eine Elite-Rekruten­schule gehandelt, um künftige Militärpolizei­grenadiere, von denen sportliche Höchst­leistungen verlangt werden könnten.

Es sei nicht ungewöhnlich, dass man die jungen Männer an die Leistungs­grenze bringe oder dazu, den «inneren Schweinehund» zu überwinden.

Alle drei sagen vor Gericht aus, sie hätten damals nicht die Kompetenz gehabt, Rekrut Bänziger zu erlauben, den Marsch abzubrechen. Diese Verantwortung sei bei anderen gelegen – bei Offizieren, die nie in die Straf­untersuchung miteinbezogen wurden. Es seien die Falschen, die sich vor Gericht verantworten müssten, so der Tenor.

Einer der Verteidiger, Christoph Zimmerli, spricht von einer «missglückten Übung»; einem Marsch, der in dieser Art und Weise «nie hätte stattfinden dürfen». Die Verantwortlichkeiten und die Führungs­struktur seien unklar gewesen, der Übungs­befehl «komplett unbrauchbar». Zimmerli betont: «Bei dieser Hitze marschiert man nicht, schon gar nicht in diesem Tenü. Es war der erste Marsch für die Rekruten, und es war nicht einmal sicher­gestellt, dass alle genügend Wasser bei sich haben.»

Drei einstimmige Entscheide – und Tadel

Am Strafprozess – auch in der Militärjustiz – gebührt den Angeklagten das letzte Wort, bevor sich das Gericht zur geheimen Urteils­beratung zurückzieht. Die drei Uniformierten auf der Anklagebank haben nicht mehr viel anzufügen. Es sei bedauerlich und tragisch, was geschehen sei, es tue ihnen leid, sie hätten nie gedacht, dass so etwas passieren könne, es handle sich um eine unglückliche Verknüpfung von Ereignissen.

Verantwortung übernehmen will keiner der drei Kaderleute. Auch beim Schlusswort nicht.

Das Militärgericht 2 braucht nicht lange für seine Beratung und eröffnet in den frühen Abendstunden sein Urteil. Der Entscheid sei einstimmig gefallen, erwähnt Gerichts­präsident Kenad Melunovic gleich zu Beginn.

Alle Angeklagten werden freigesprochen.

Keiner der dreien, so Melunovic, habe die Kompetenz gehabt, Rekrut Bänziger den Abbruch des Marsches zu erlauben. Diese Verantwortung sei bei anderen gelegen, die nicht vor Gericht stünden. Alle Angeklagten hätten ausserdem nicht erkennen können oder müssen, wie schlecht es um den Rekruten stehe.

Trotz der Freisprüche spart Kenad Melunovic nicht mit Tadel an die Kader­leute. Der eine habe sich als «Lokal­matador» aufgeführt und «faktisch Verantwortung» übernommen, obwohl das nicht seine Rolle gewesen sei. Der andere wiederum sei als Berufs­militär am Marsch mit dabei gewesen und hätte seine Überwachungs­funktion besser ausüben müssen. Der Dritte im Bunde, der damalige Zugführer, sei jung und unerfahren gewesen und habe einfach die Befehle der Höher­rangigen ausgeführt.

Doch all diese Kritik, so der Gerichts­präsident, führe nicht zu einem strafrechtlich relevanten Vorwurf.

Draussen ist es dunkel geworden. Drei erleichterte Uniformierte verlassen mit ihren Verteidigern das Gericht. Yiannis Bänziger fährt zurück nach Chur.

«Niemand ist schuld. Das finde ich schwierig»

Er sei nach diesem langen Prozesstag noch in die Sporthalle gegangen, an die Kletterwand, wird er drei Wochen später im Gespräch mit der Republik erzählen. Und: Nein, er sei nicht glücklich gewesen, nach der Urteils­verkündung. «Ich habe nur knapp überlebt, nicht zuletzt dank der zufälligen Begegnung mit einer medizinisch geschulten Spazier­gängerin. Das wird einfach so hingenommen. Niemand ist schuld daran, was mit mir passiert ist.»

Bänziger hat nach dem Kollaps und nach seiner Genesung die Rekruten­schule bei den Militärpolizei­grenadieren beendet. Gut drei Wochen später stand er wieder bei den Kameraden – die überglücklich gewesen seien, dass er noch lebe.

«Die ersten paar Wochen zurück in der RS ging es mir ziemlich schlecht, der Kreislauf machte noch nicht richtig mit, ich musste mich schonen.» Später habe er wieder alles mitgemacht, das sei ihm wichtig gewesen. Bänziger absolvierte zwei weitere Märsche, 25 und 50 Kilometer lang: «Das war eine Challenge. Aber ich habe es geschafft. Andere mussten abbrechen. Ich wollte mir beweisen, dass es beim ersten Marsch wirklich nicht an der Kondition lag, nicht am fehlenden Willen und nicht an der Motivation, wie es die Vorgesetzten vermutet hatten.»

Persönlich habe er nichts gegen die drei Kaderleute, die in Aarau freigesprochen wurden. Auch wenn er diesen Ausgang des Verfahrens schwierig finde.

Yiannis Bänziger hat die Armee darum ersucht, ihm die Krankheits­tage an den Militär­dienst anzurechnen – es geht um drei Wochen, also um einen Wieder­holungs­kurs mehr oder weniger. Am ersten Dezember trifft die Antwort von Brigadier Markus Rihs ein. Er müsse leider mitteilen, dass dem Antrag auf Diensttage­korrektur nicht entsprochen werden könne. Der Rekrut sei damals ärztlich aus dem Militär­dienst entlassen worden, habe vom 4. August 2017 bis und mit 29. August 2017 keinen militärischen Ausbildungs­dienst mehr geleistet.

«Die Nicht­anrechenbarkeit der nicht geleisteten Diensttage ist keineswegs zu Unrecht erfolgt, sondern logische Konsequenz», heisst es im Schreiben des Brigadiers. Für eine Diensttage­gutschrift im Umfang eines Wieder­holungs­kurses bestehe keine Rechts­grundlage.

Bleibt die Frage, wie viel Entschädigung und Genugtuung Bänziger für den «Schaden» zugesprochen wird, den er im Militär­dienst erlitten hat – gemäss Bundes­verfassung steht ihm ja eine «angemessene Unterstützung» zu. Diese Abklärungen seien noch bei der Militär­versicherung hängig, teilt sein Anwalt mit.

Und vom Ober­auditorat trifft die Nachricht ein, Auditor Hugelshofer habe gegen die Aarauer Freisprüche «vollumfänglich Appellation erklärt».

Gut möglich also, dass in Sachen Rekrut Bänziger das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

«Ich habe überlebt, ohne bleibende Schäden», sagt der Architektur­student bei einem Kaffee in der Churer Altstadt. «Doch am exakt gleichen Tag, am 3. August 2017, ist in Österreich ein gleichaltriger Rekrut bei einem Hitzemarsch zusammen­gebrochen. Er hat nicht überlebt, weil ihn die Vorgesetzten zum Weiter­gehen zwangen. Solche Vorkommnisse darf es einfach nicht geben.»

Der Fall des verstorbenen 19-jährigen Rekruten aus Österreich ist inzwischen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte in Strassburg hängig. Die verantwortlichen Offiziere waren weder strafrechtlich noch innerhalb des Militärs disziplinar­rechtlich belangt worden. Das akzeptieren die Angehörigen des Verstorbenen nicht.

Illustration: Till Lauer

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