Richter in Uniform

Seit 180 Jahren leistet sich die Schweiz eine Militärjustiz: in Kriegs- wie in Friedenszeiten und manchmal sogar auf Zivilisten ausgeweitet. Oft schon wurde ihre Abschaffung gefordert – doch heute steht die Militärjustiz punkto Rechts­staatlichkeit verblüffend gut da.

Von Brigitte Hürlimann, 09.04.2019

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Der Gerichtsschreiber verliest die Anklageschrift: Divisionsgericht der Schweizer Armee am 11. Mai im Kriegsjahr 1944 in Bern. Walter Studer/Photopress-Archiv/Keystone

Fünf Uniformierte sitzen vorn auf dem Richter­podest, dekoriert mit den Insignien unserer Armee. Sie haben den altehrwürdigen Saal des Appellations­gerichts in Beschlag genommen, zusammen mit ihrer Entourage, alle im Militär­gewand, doch sie sind nur Gäste hier, Fremdlinge, Eingemietete – ihr Aufmarsch wird mit verwunderten, auch irritierten Blicken zur Kenntnis genommen. So viele Uniformen an einem zivilen Gericht? Ist etwas passiert?

Es ist kein Krieg ausgebrochen. Es gibt keine Staatskrise. Auf den Strassen herrscht Ruhe und Ordnung. Weder haben hiesige Offiziere die Regierung gestürzt und die Macht an sich gerissen, noch wurde die Schweiz vom ausländischen Feind okkupiert. Nein, die Präsenz des Militärs auf der Richter­bank markiert einen guteidgenössischen Brauch, eine Institution, die schon so manchen Angriff abgewehrt hat, von Freund und Feind. Die sich seit 180 Jahren hartnäckig hält, der anhaltenden Kritik zum Trotz. Am Appellations­gericht des Kantons Basel-Stadt tagt grad die schweizerische Militärjustiz.

Aber was ist das, eine Militärjustiz?

Feigheit vor dem Feind

Der Begriff ist unglücklich gewählt, irreführend gar, riecht er doch verdächtig nach Sonder­justiz oder eben: nach Militär­diktatur, Ausnahme­zustand, nach Anti­demokratie. Auf jeden Fall vereint er zwei Dinge, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben sollten, könnte man meinen. Nicht in einem langjährig erprobten, rechtsstaatlich vorbildlichen Staats­gebilde wie der Schweiz. Und doch leistet sich just unser Land eine Parallel­justiz in der Strafrechts­sphäre. Will heissen: Wer als Zivilist mordet, stiehlt, vergewaltigt, betrügt oder zu schnell Auto fährt, der landet vor einem zivilen Strafgericht, wird nach den Regeln der zivilen Strafprozess­ordnung und des Strafgesetz­buches abgeurteilt – oder freigesprochen.

Wer hingegen im Militärdienst mordet, stiehlt, vergewaltigt, betrügt, seine Dienst­pflichten missachtet, ohne Bewilligung fremde Söldner­dienste leistet, Material verschleudert, sich gegenüber dem Feind feige benimmt oder zu schnell Auto fährt, der landet vor dem Militär­gericht. Hier gelten die Regeln der Militär­strafprozess­ordnung und des Militär­strafgesetzes; Letzteres zeichnet sich dadurch aus, dass es auch militärspezifische Delikte enthält, die den zivilen Rechts­unterworfenen erspart bleiben, zum Glück! Für Feigheit vor dem Feind droht als Höchst­strafe eine lebenslängliche Freiheits­strafe. Zu den – höchst umstrittenen – Spezialitäten der hiesigen Militär­justiz gehört auch deren punktuelle Ausweitung auf Zivil­personen, doch dazu später mehr.

Es droht eine unbedingte Freiheitsstrafe

Kehren wir vorerst zurück nach Basel, ans Appellations­gericht, wo vor geschlossener Saaltür ein nervöser Angeklagter auf und ab tigert. Er ist 36 Jahre alt, ein ehemaliger Soldat, der inzwischen altershalber aus der Armee ausgeschlossen wurde, was ihm nicht allzu viel Kummer bereiten dürfte. Thema des Prozesses ist mehrfache Dienst­verweigerung. Es geht um viel, droht dem Ex-Soldaten doch eine unbedingte Freiheits­strafe. Diese müsste er übrigens in einem ganz normalen Gefängnis absitzen, denn das Schweizer Militär verfügt weder über eigene Gerichts­säle noch über eigene Knäste. Und auch die Richterinnen, die Richter, die Auditoren (also die Ankläger), die Untersuchungs­richter, die Weibel oder die Gerichts­schreiberinnen sind «nur» im Miliz­system tätig, haben im zivilen Leben meist ganz andere Berufe. Als Mitglied der Militär­justiz schlüpfen sie in die Uniform mit einem Justitia-Abzeichen am Ärmel und damit in eine neue Rolle; eine überaus delikate, anspruchsvolle, mit folgenreichen Entscheidungskompetenzen.

Major Kenad Melunovic, Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht in Aarau und Zürich, Auditor: «Die Militärjustiz ist eine sinnvolle und wichtige schweizerische Fachjustiz. Im zivilen Berufsleben verteidige ich Beschuldigte, im Militärdienst vertrete ich die Anklage. Das ist kein Spagat, das sind die zwei Seiten der gleichen Medaille. Im Zentrum stehen das Funktionieren des Rechtsstaats und die Fairness des Strafverfahrens. Ich diene dem Rechtsstaat, und zwar in beiden Rollen. Es geht um die Wahrheitssuche, die materielle und die prozessuale, vor allem aber geht es um ‹checks and balances›. Dies ist die Kernaufgabe einer wirkungsvollen Verteidigung, das sehe ich auch als Auditor so.»

Mutterseelenallein am kleinen Tisch

Der Gerichtsweibel öffnet die Tür. Der Prozess beginnt. Die Besetzung ist rein männlich; nichts Ungewöhnliches, was militärische Angelegenheiten betrifft. Auf den hinteren Bänken nehmen zwei (zivile) Zuschauer Platz, der (zivile) Verteidiger und der Auditor breiten ihre Unterlagen auf gleicher Höhe, jedoch mit gebührendem Abstand aus. Zwischen ihnen und dem Richter­podest muss sich der Angeklagte an ein kleines, frei stehendes Tischchen setzen, mutterseelenallein, in der Mitte des Raums. Blickt er hoch, sieht er in fünf Gesichter, die ihn aufmerksam mustern, jedes nervöse Blinzeln registrieren. Gerichts­präsident Oberst Lienhard Meyer macht ihn auf sein Aussage­verweigerungs­recht aufmerksam – und erwähnt dann rasch die drei einschlägigen Vorstrafen.

Dreimal schon, konstatiert der Gerichts­präsident stirnrunzelnd, habe sich der Mann vor dem Militär­gericht verantworten müssen, dreimal sei er wegen Dienst­versäumnissen bestraft worden, und jedes Mal sei es darum gegangen, dass er aus beruflichen oder finanziellen Gründen den Militär­dienst nicht angetreten habe. All die bisherigen Verfahren hätten ihn offensichtlich nicht beeindruckt. Und heute verlangt Auditor Fachoffizier Florian Weishaupt eine Bestrafung wegen Dienst­verweigerung – nicht bloss wegen Versäumnissen.

Kein Militärgegner, nur anderweitig beschäftigt

Tatsächlich geht es bei den jüngsten Vorwürfen erneut um das Gleiche. Der Versicherungs­berater rückte zweimal trotz Marsch­befehlen nicht in den Wiederholungs­kurs ein und foutierte sich zweimal um die Nachschiess­pflicht; und dies, obwohl er sich noch in der Probezeit der jüngsten, bedingt ausgesprochenen Strafe befand. Der Mann bestreitet dies alles nicht, beschreibt aber vor den Richtern wortreich sein damaliges Malaise. Er hatte eine Zeit lang eine eigene Firma, die nicht rentierte, er war überfordert, schon bald überschuldet und öffnete irgendwann die Briefe nicht mehr: «Ich habe nur noch an meinen Beruf und an meine Firma gedacht, das Militär ging an mir vorbei, ich war psychisch völlig absorbiert.»

Der Grossrichter verliest das Urteil ... Walter Studer/Photopress-Archiv/Keystone
... der Angeklagte hört zu, sein Gesicht ist unkenntlich gemacht (beide Aufnahmen vom 11. Mai 1944 in Bern). Walter Studer/Photopress-Archiv/Keystone

Der 36-Jährige beteuert, alles andere als ein Militär­gegner zu sein. Er ist Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, und er legt Wert auf dieses Engagement, will er doch zeigen, wie sehr er sich um das Wohl der Gemeinschaft bemüht und keinen Aufwand scheut, wenn es um die Feuerwehr geht. Mit seinen Ausführungen bewirkt er allerdings das Gegenteil, auch vor dem Appellations­gericht. Kopfschütteln auf dem Richter­podest. Wie nur ist es möglich, fragen ihn die Richter, dass der Einsatz für die Feuer­wehr auch in den grössten beruflichen und finanziellen Turbulenzen geleistet wurde, bloss der Militär­dienst nicht?

Wir hingegen fragen uns: Warum nur findet dieser zweitinstanzliche Prozess in Basel statt? Der Mann lebt im Kanton Zürich, der erstinstanzliche Prozess wurde im Januar 2018 im schwyzerischen Lachen durchgeführt – wozu diese Tour de Suisse?

Aufgeteilt nach Sprachregionen

Die Antwort heisst, militärisch knapp: neue Organisations­struktur. Unser reumütiger Versicherungs­berater und dienstunwilliger Soldat gehört zu den ersten Angeklagten, die nach den Regeln einer komplett neuen Organisation beurteilt wurden. Seit dem 1. Januar 2018 ist die hiesige Militärjustiz in drei Kreise eingeteilt, und zwar entlang der Sprach­regionen: deutsch, französisch, italienisch. Die Militär­gerichte 1, 2 und 3 entscheiden als erste Instanz, die Appellations­gerichte 1, 2 und 3 als zweite, und an dritter und letzter Stelle kommt das Militär­kassations­gericht; eine Art Bundes­gericht in militärischen Angelegenheiten. Auch die Untersuchungs­richter und die Auditorinnen werden auf die drei Kreise beziehungsweise auf die Sprach­regionen aufgeteilt.

So musste sich Ende Februar beispielsweise jener Tessiner Wacht­meister, der in Syrien für eine christliche Miliz gegen die Terror­organisation IS gekämpft hatte, erstinstanzlich in Bellinzona vor dem Tribunale militare 3 verantworten – das sich für diesen Prozess in die Räumlichkeiten des Bundes­strafgerichts eingemietet hatte. Es sprach den Mann wegen des Dienstes in einer fremden Armee schuldig und verhängte eine bedingte Geldstrafe.

Die drei Gerichtskreise werden von drei geschäftsleitenden Präsidenten geführt, welche die anstehenden Fälle den ihnen unterstellten Gerichts­präsidenten zuteilen. Diese wiederum kümmern sich um die Räumlichkeiten, mieten also Gerichts­säle für die provisorisch festgelegten Prozess­termine. Die Idee ist es, im ganzen Land Militär­prozesse abzuhalten. Und wenn irgendwie möglich den Angeklagten allzu lange Anfahrts­wege zu ersparen.

Oberst Gian Moeri, Rechtsanwalt in Zürich, geschäftsleitender Präsident des Militärgerichts 2: «Im zivilen Beruf bin ich vor allem in den Bereichen Strafrecht und Arbeitsrecht tätig, als Rechtsanwalt und Verteidiger. In der Militärjustiz habe ich sämtliche Stationen durchlaufen: vom Gerichtsschreiber zum Untersuchungsrichter, vom Auditor zum Richter und Gerichtspräsidenten, meiner heutigen Funktion. Untersuchungsrichter zu sein, war am spannendsten, Auditor am kniffligsten – und Richter zu sein ist die verantwortungsvollste Aufgabe. Wer sich vor der Militärjustiz verantworten muss, hat den Vorteil, dass ihm immer ein unentgeltlicher Anwalt zur Seite gestellt wird; anders als in der zivilen Strafjustiz.»

Einer schmeisst den Laden

Über der ganzen Organisation wacht das Ober­auditorat mit Sitz in Bern. Der Oberauditor ist der höchste Chef der Militär­justiz und schmeisst sozusagen den Laden, eine vergleichbare Funktion gibt es in der zivilen Strafjustiz nicht. Der Oberauditor darf den Straf­verfolgern und Richterinnen allerdings nicht reinreden, er hat nur wenige prozessuale Rechte, vor allem administrative Aufgaben – und er kümmert sich um die Ausbildung «seiner» Leute. Wer in die Militär­justiz eingeteilt werden will, stellt sein Gesuch ans Ober­auditorat und wird von dort wieder aus dem Dienst entlassen. Der Oberauditor «überwacht die ordnungsgemässe Abwicklung der Militär­strafverfahren in organisatorischer Hinsicht und kann darüber Anordnungen treffen», so die einschlägige Regel in der Verordnung über die Militärjustiz.

Seit gut drei Jahren heisst der Oberauditor Stefan Flachsmann. Der 54-jährige promovierte Jurist aus Zürich bekleidet den Rang eines Brigadiers, war zuvor Rechtsanwalt und Verteidiger und lehrt seit 1999 Militär­strafrecht und -prozessrecht an der Uni Zürich; er ist sozusagen auch die Nummer eins in der hiesigen Militär­strafrechts­lehre. Für Gespräche mit Medien­vertretern steht der Oberauditor partout nicht zur Verfügung – kein Wunder, kennt man ihn ausserhalb militärischer Kreise kaum. Fragen dürfen nur der Kommunikations­abteilung zugestellt werden, Antworten treffen schriftlich ein.

Herr Oberauditor Brigadier Stefan Flachsmann, wie steht es mit den Frauen in der Militärjustiz?
Heute sind 18 Frauen in der Militär­justiz eingeteilt. Bei einem Stand von 400 eingeteilten Militärjustiz­angehörigen ergibt dies einen Frauen­anteil von 4,5 Prozent. Zum Vergleich: In der Armee beträgt der Frauen­anteil etwas weniger als 1 Prozent (Stand 2017). Der Frauen­anteil in der Militär­justiz hat während der letzten zehn Jahre in allen Funktionen und auf allen Stufen deutlich zugenommen.

Und was kostet die Militärjustiz?
Die Kosten für die von der Militärjustiz geführten Verfahren betrugen 2018 rund 1,4 Millionen Franken. Das sind die Prozess­kosten inklusive Anwaltskosten, Sold, Verpflegung, Unterkunft, Ausbildungs- und Beförderungs­kursen etc. Die Staats­rechnung wies für das Ober­auditorat Kosten von rund 3 Millionen Franken für 2017 aus.

Welche Gründe sprechen Ihrer Meinung nach für die Beibehaltung der Militärjustiz?
Die Angehörigen der Militärjustiz verfügen über ein spezifisches Fachwissen; die Ausgangs­lage ist vergleichbar mit den zivilen Fach­gerichten. Die Militär­justiz bietet zudem einige verfahrensmässige Vorteile, welche die zivile Strafjustiz aufgrund der von ihr geforderten Massendelikts­tauglichkeit nicht hat. Diese prozessualen Vorteile zugunsten der Angeklagten werden auch als «Kompensation für die Zwangs­situation der Angehörigen der Armee» interpretiert. Sie begeben sich im Militär­dienst in Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht oft unfreiwillig in Situationen, in denen ein erhöhtes Risiko besteht, in Konflikt mit dem Gesetz zu geraten. Zum Beispiel im Umgang mit Waffen und Munition. Die Militär­justiz ist auch eine effiziente und vergleichsweise günstige Justiz.

Was aber hat die Militärjustiz mit den zivilen Fach­gerichten zu tun?

Von Kumpel zu Kumpel

Stefan Flachsmann vergleicht die Militärjustiz mit den Handels­gerichten oder den Arbeits- und Mietgerichten. All diese Instanzen haben gemeinsam, dass sie mit Fachrichtern arbeiten, die ihrer Fachkenntnisse wegen auf dem Richter­podest sitzen und nicht unbedingt Juristen sein müssen. Die Militärgerichte funktionieren nach dem gleichen Prinzip. Deren Fachrichterinnen und -richter sollen dank der militärischen Erfahrung die Vorfälle mitbeurteilen können. Die Gerichts­präsidenten und die Gerichts­schreiber sind immer Juristen. Bei den zivilen Fach­gerichten ist der Spruchkörper paritätisch zusammengesetzt, er besteht beispielsweise aus Arbeit­nehmerinnen und Arbeit­gebern, aus Vermieterinnen und Mietern. Beim Militär­strafprozess wiederum wird darauf geachtet, dass sowohl Offiziere als auch Nicht­offiziere auf der Richter­bank Platz nehmen, Juristinnen und Nichtjuristen.

Ein Präsident (Mitte) und vier Richter entscheiden über die angeklagten Militärangehörigen (3. Februar 2017 in Yverdon-les-Bains). Jean-Christophe Bott/Keystone

Hinter vorgehaltener Hand wird übrigens erzählt, dass die Nichtoffiziere öfter strenger über die Untaten ihrer Kameraden entscheiden als die Offiziere.

Sowohl in der zivilen als auch in der militärischen Sphäre bleibt die Fach­gerichtsbarkeit umstritten – im zivilen Bereich betrifft dies vor allem die Handels­gerichte, die es nur in ein paar Kantonen gibt: in Zürich, Bern, St. Gallen und Aargau. Am Handelsgericht urteilen Vertreter aus der Versicherungs­branche als Fachrichter über Streitereien in der Versicherungs­branche, Bank­angestellte über Streit in der Bankenwelt, Detail­händler über Detail­händler und so weiter. Und beim Militär­gericht entscheiden eben Militär­angehörige über ihre Kameraden. «Bei dieser Nähe besteht die Gefahr einer Kameraderie», sagt Jo Lang, der Historiker, Autor und ehemalige Nationalrat der Grünen, einer der bekanntesten Armee­gegner der Schweiz. «Ich bin nicht gegen die Militär­justiz, weil ich eine Kuschel­justiz befürworte, im Gegenteil. Ich verlange eine gerechte Justiz und befürchte, dass diese nicht stattfindet; weil die Militär­richter zu viel Verständnis für die Situation ihrer Kameraden haben und weil die Gefahr besteht, dass unrechtmässige Handlungen als Kavaliers­delikt eingestuft werden.»

Befindet sich die Militärjustiz unter Dauerbeschuss?

Zehn Angriffe

Die Fundamentalkritik an der Militärjustiz reisst nicht ab. Bereits 1916 verlangte die Sozial­demokratische Partei der Schweiz deren Abschaffung. Der Souverän lehnte das Begehren am 30. Januar 1921 mit 393’151 zu 198’696 (männlichen) Stimmen ab – trotz des Militär­einsatzes gegen das eigene Volk im November 1918. Der damalige landesweite General­streik, in dem unter anderem das Frauen­stimmrecht, eine Alters­vorsorge, eine Armee­reform und die 48-Stunden-Woche gefordert wurden, endete mit einem toten Soldaten (in Zürich) und drei toten Uhren­arbeitern (in Grenchen). Die Militärjustiz leitete danach über 3500 Verfahren ein und sprach knapp 150 Verurteilungen aus. Besonders hart – mit Gefängnisstrafen – wurden die Streikführer angepackt.

Seither wurde immer wieder die totale Abschaffung der Militär­justiz oder zumindest eine Einschränkung ihrer Befugnisse gefordert. Der Zürcher SP-Ständerat, Strafrechts­professor, Oberst­leutnant und Stabs­mitarbeiter im Oberauditorat Daniel Jositsch zählt neun Abschaffungs­versuche innert zwanzig Jahren. Und, was bemerkenswert ist: Es handelt sich teilweise um friendly fire. Wir sind bei unserer Recherche auf zehn Angriffe gestossen:

  • November 1989: SP-Nationalrat Jean Spielmann verlangt die Aufhebung der Militär­justiz in Friedenszeiten.

  • November 1990: Die Arbeitsgruppe Armeereform unter der Leitung von Ständerat Otto Schoch empfiehlt, die Militär­gerichte seien durch zivile kantonale Gerichte zu ersetzen.

  • März 1995: FDP-Ständerat Otto Schoch verlangt die Aufhebung des Militärstrafgesetzes.

  • Dezember 1995: SP-Nationalrätin Francine Jeanprêtre verlangt die Abschaffung der Militärjustiz.

  • Oktober 2004: Jo Lang, Nationalrat der Grünen Fraktion, verlangt die Abschaffung der Militärjustiz.

  • Mai 2005: Parlamentarische Initiative von Jo Lang zur Abschaffung der Militärjustiz.

  • Mai 2006: Rudolf Häni verlangt mittels Petition die Abschaffung der Militär­justiz und des scharfen Arrests als Disziplinarstrafe.

  • März 2007: Jo Lang, Nationalrat der Grünen Fraktion, verlangt, dass die Militär­justiz nicht mehr für Zivil­personen zuständig ist.

  • Mai 2008: Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats verlangt vom Bundesrat, es sei zu prüfen, ob sämtliche oder einzelne Aufgaben der Militär­justiz an die zivilen Justiz­behörden übertragen werden könnten.

  • Dezember 2009: SP-Nationalrat Hans Widmer verlangt die Abschaffung der Militärjustiz.

Caroline Engel, Fachanwältin SAV Strafrecht in Bülach: «Ich bin seit vier Jahren auch als Verteidigerin in der Militärjustiz tätig und schätze hier das Unmittelbarkeitsprinzip an den Gerichten: wenn vor Schranken sämtliche Beweise von allen Parteien erhoben werden müssen. Der Militärstrafprozess ist für die Angeklagten vorteilhafter ausgestaltet als der zivile Strafprozess. Und die Unabhängigkeit der Militärjustiz würde ich nie infrage stellen. Sonst könnte man bei den zivilen Prozessen auch jedes Mal den Parteienproporz thematisieren.»

Zeiten der Aufruhr

Unser Verurteilter kann zufrieden sein mit der Militärjustiz. Er wird zwar auch von der zweiten Instanz wegen mehrfacher Militärdienst­verweigerung schuldig gesprochen und nicht, wie erhofft, bloss wegen Dienst­versäumnissen. Das fünfköpfige Richter­gremium sieht jedoch von einer unbedingten Freiheits­strafe ab und spricht stattdessen eine unbedingte Geldstrafe aus: 60 Tage à 80 Franken; ungefähr so, wie es Verteidiger Markus Steiner mit Verve gefordert hatte.

Die Polizei hilft: Am Bellevue in Zürich wird ein Militärdienstverweigerer verhaftet (3. August 1964). Hans Krebs/Photopress-Archiv/Keystone

Gerichtspräsident Oberst Meyer erklärt dem Angeklagten, es liege bei ihm eine Verweigerungs­absicht vor, denn er habe die Erfüllung der Dienstpflicht von seiner beruflichen Situation abhängig gemacht. Das gehe nicht. Immerhin verzichtet der Richter darauf, das Verhalten des Angeklagten als «hochegoistisch» abzukanzeln, wie es Auditor Fachoffizier Florian Weishaupt in seinem Plädoyer noch tat – der vor dem Appellations­gericht auf einer unbedingten Freiheits­strafe bestanden hatte und damit nicht durchdrang.

Mit zufriedenem Gesicht verlässt der Verurteilte den Saal und das Gebäude, verschwindet im Gewimmel der Basler Altstadt. Kaum jemand hat von seinem Prozess Kenntnis genommen – keine Solidaritäts­kundgebungen auf der Strasse, keine Transparente, Demonstrationen, Flugblätter oder Buhrufe im Gerichts­gebäude. Wie haben sich die Zeiten geändert.

Bis 1996 genossen Militärstraf­prozesse gegen Dienst­verweigerer, Dienst­versäumer oder andere aufmüpfige Armee­angehörige grösste Aufmerksamkeit. Denn erst ab 1996 gab es hierzulande für jene Dienstpflichtigen, die aus Gewissens­gründen nicht ins Militär eintreten oder frühzeitig austreten wollten, einen Zivildienst als Ersatz für die Militärpflicht. Tausende von jungen Männern wanderten hinter Gitter, weil sie zu unbedingten Freiheits­strafen verurteilt wurden. Und dies, obwohl bereits 1967 ein Postulat überwiesen wurde, das die Einführung eines Zivil­dienstes verlangte. Und obwohl die Schweiz wegen der Verurteilungen mehrfach vom Europarat und von Amnesty International gerügt worden war.

Es geht um ein Menschenrecht

Die Genfer Nationalrätin Lisa Mazzone (Grüne) hat das Thema wieder aufs politische Tablett gehoben. Im Herbst letzten Jahres reichte sie eine parlamentarische Initiative ein, sie verlangt darin die Rehabilitierung jener Dienst­verweigerer, die zwischen 1968 (hängiges Postulat) und 1996 (Einführung des Zivildienstes) verurteilt wurden. Mazzone geht von über 12’000 jungen Männern aus, allein in diesem Zeitraum. Viele von ihnen seien diskriminiert worden, sagt die Parlamentarierin, hätten Berufs­verbote bekommen oder ihre Stellen verloren. «Es geht mir nicht darum, Geld für die damals Verurteilten zu fordern, sondern eine Anerkennung», sagt die Genfer Nationalrätin. «Doch weil derzeit wieder über einen verschärften Zugang zum Zivildienst diskutiert wird, muss an die Vergangenheit erinnert werden – und daran, dass es um ein Menschen­recht geht. Spätestens ab 1967 war dies den Schweizer Behörden klar, dennoch wurden die Verurteilungen fortgesetzt.»

Mazzones Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Ende Februar hat der Bundesrat seine Vorschläge zur Revision des Zivildienst­gesetzes vorgestellt. Er konstatiert «Handlungsbedarf», weil sich seiner Meinung nach zu viele für den Zivildienst und gegen die Armee entscheiden. Die Zahl der Zivildienstler nimmt kontinuierlich zu und ist nach Ansicht des Bundesrats «zu hoch». Ein Dorn im Auge sind der Landes­regierung vor allem jene Anwärter, die eine Rekruten­schule oder sogar eine Offiziers­ausbildung abgeschlossen haben und sich im Laufe der Zeit für den Zivildienst entscheiden: Es bestehe keine freie Wahl zwischen Militär- und Zivildienst, betont der Bundesrat. Der Zivildienst sei für Leute mit Gewissens­konflikten gedacht.

Das brauchen wir nicht mehr: Nach dem Nein des Bundesrates zur Einführung eines Zivildienstes deponieren Dienstverweigerer ihre Ausrüstung vor dem Zeughaus in Bern (19. März 1967). Joe Widmer/Photopress-Archiv/Keystone

Um den Zivildienst unattraktiver zu gestalten, schlägt er acht Massnahmen vor. Unter anderem sollen die Ausland­einsätze der «Zivis» künftig gestrichen werden. Die Mindestzahl der zu leistenden Tage im Zivildienst und die Wartefrist zwischen Gesuchs­einreichung und Bewilligung werden erhöht. Der Einsatz muss zudem innerhalb einer engeren Frist stattfinden. Gut möglich, dass auch über diese Vorlage das Stimmvolk entscheiden wird – und gut möglich, dass sich Jo Lang in den Abstimmungs­kampf einmischen wird.

Sein Engagement für die Einführung des Zivil­dienstes hatte ihn ins Gefängnis gebracht.

Ziviler Ungehorsam

Bei seiner ersten militärgerichtlichen Verurteilung 1975 war Jo Lang noch Rekrut. Ihm wurde vorgeworfen, in einer Kasernen­zeitung antimilitärische Inhalte verbreitet beziehungsweise zur Verletzung militärischer Dienst­pflichten aufgerufen zu haben. Vergebens berief sich der Rekrut vor Gericht auf seine Meinungs­äusserungs­freiheit oder darauf, dass auch im Militär­dienst die elementaren demokratischen Rechte gelten wie etwa das Recht, Unterschriften zu sammeln, Veranstaltungen und Diskussionen zu organisieren, Flugblätter oder Zeitungen zu verteilen. Das Militär­gericht liess solcherlei Einwände nicht gelten. Jo Lang wurde zu einer bedingten Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.

Fast zwanzig Jahre später, 1994, stand er erneut vor den Militär­richtern. Dienst­verweigerung lautete dieses Mal die Anklage. «Halt, halt», wirft Lang ein, es sei ein Akt des zivilen Ungehorsams gewesen, er habe den Wiederholungs­kurs einfach so lange verweigern wollen, bis der Zivildienst eingeführt sei: «Wir mussten die Sache beschleunigen und fanden, wir gehen der Legalität einen Schritt voraus. Ich habe dem Kadi geschrieben, dass ich einrücken werde, sobald es einen Zivildienst gibt.» Müssig zu erwähnen, dass die Militär­richter kein Verständnis für die Aktion zeigten. Sie verurteilten Lang zu einer unbedingten Freiheits­strafe von 45 Tagen.

Und wo steht die Militärjustiz heute?

Das Verteidigungsdepartement brütet

Die düsteren Zeiten der massenhaften Dienst­verweigerer­prozesse mit den unbedingten Freiheits­strafen sind vorbei. Geblieben ist der Fokus auf die Zivil­personen, eine komplette Abschaffung der Militär­justiz steht derzeit nicht auf der politischen Agenda.

In Erfüllung des Postulats der Kommission für Rechtsfragen des Ständerats hat der Bundesrat 2011 einen Bericht veröffentlicht, der zur «Übertragung der Aufgaben der Militär­justiz an die zivilen Justiz­behörden» Stellung nimmt. Eine Aufhebung der Militärjustiz beantragt der Bundesrat nicht. Als sachgerechte Lösung erscheint ihm jedoch, einzelne Aufgaben den zivilen Gerichten zu übertragen – und zwar in erster Linie, was die Beurteilung von Zivilisten betrifft.

Herr Oberauditor Brigadier Stefan Flachsmann, was halten Sie von der Idee, dass Zivilisten den zivilen Gerichten zu unterstellen seien?
Zur Diskussion steht derzeit eine Ergänzung von Art. 219 Militärstraf­gesetz mit einem dritten Absatz: «Ist eine Zivilperson einer strafbaren Handlung nach diesem Gesetz beschuldigt, so kann der Bundesrat deren Beurteilung der zivilen Strafgerichts­barkeit übertragen, sofern keine sachlichen Gründe für die Zuständigkeit der militärischen Strafgerichts­barkeit sprechen.» Gegen eine solche Bestimmung sprechen mehrere Gründe. Es besteht die Gefahr, dass politischer oder medialer Druck auf den Bundesrat ausgeübt wird, vor allem bei aufsehen­erregenden Verfahren. Und der Verzicht auf die Übertragung des Falls an die zivile Justiz könnte regelmässig als Versuch gewertet werden, es gäbe etwas zu vertuschen. An einer Zuständigkeits­regelung à la carte gibt es auch verfassungs­rechtliche Zweifel. Stark bezweifelt werden muss die Praktikabilität. Es käme ausserdem zu Rechts­unsicherheit und zu Verzögerungen.

Das schon reichlich angejahrte Geschäft ist im Verteidigungs­departement noch immer hängig; oder, wie es Medien­sprecher Lorenz Frischknecht ausdrückt, es ist «wieder aufgenommen» worden. Die neue VBS-Chefin, Viola Amherd, werde dem Bundesrat im Laufe des Jahres einen Vorschlag für das weitere Vorgehen unterbreiten, sagt Frischknecht.

Grund zum Jubeln?

Die Jubiläumsfeier

Wohl kaum, zumindest nicht für die Militärjustiz. Diese hat hingegen letzten September unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit ihren 180. Geburtstag gefeiert: an der Universität Zürich, in der Aula, an einem heissen Spätsommer­tag, mit Kaffee und Gipfeli, einem Stehlunch, einem Apéro am Abend und dazwischen mit vielen, vielen Referaten. Alle sind sie gekommen, um mitzufeiern, fast alle in Uniform, und fast nur Männer. Dekanin Brigitte Tag und Regierungsrat Mario Fehr überbrachten ihre Gruss­botschaften, Oberauditor Stefan Flachsmann moderierte den Anlass und überreichte Zürcher Tirggel – und vor allem der Beitrag von Ausbildungs­offizier Major Stefan Maeder dürfte die Festlaune markant gesteigert haben.

Der Luzerner Assistenz­professor für Strafrecht vergleicht an der Jubiläums­veranstaltung die militärische Prozess­ordnung mit der zivilen Strafprozess­ordnung; sozusagen mit der grossen, jüngeren Schwester, die am 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist und die bisherigen kantonalen Strafprozess­ordnungen abgelöst hat.

Maeders Fazit: Punkto Rechtsstaatlichkeit kommt die militärische Prozess­ordnung deutlich besser weg als die grosse Schwester. Diese pocht in erster Linie auf Effizienz und hat den ordentlichen Strafprozess so ziemlich degradiert. Dafür wurden die Staats­anwaltschaften mit einer Machtfülle ausgestattet, wie sie die militärische Ordnung nicht kennt. Beispiele gefällig?

  • Das abgekürzte Verfahren. Das sind Deals hinter verschlossener Tür, bei denen sich die Staatsanwälte mit den Beschuldigten auf ein Urteil einigen. Das Gericht darf nur noch darüber befinden, ob die Voraussetzungen für den Deal erfüllt sind und der Beschuldigte auch wirklich geständig ist. Solche Prozesse dauern nicht selten ein paar Minuten lang.

  • Weitreichende Kompetenzen im Strafbefehls­verfahren. Über 90 Prozent der Straffälle werden per Strafbefehl erledigt. Das heisst, der Ankläger mutiert auch noch zum Richter, denn ein rechtskräftiger Strafbefehl hat Urteils­charakter. Oft kommt es zu keinen Einvernahmen der Beschuldigten, es wird allein aufgrund der Polizei­akten entschieden. Die Staatsanwälte können bis zu einem halben Jahr Freiheits­strafe verhängen. Das Pendant im Militärstraf­prozess heisst Strafmandat, doch der Angeklagte wird immer einvernommen, und der Auditor darf nur Urteile bis höchstens 30 Tage Freiheits­strafe aussprechen.

  • Kein Vieraugen­prinzip in der Untersuchung. Im zivilen Straf­verfahren ist die Staatsanwältin Untersuchungs­richterin und Anklägerin in Personal­union; und eben, stellt sie einen Strafbefehl aus, der rechtskräftig wird, stülpt sie sich noch den Richterhut über. Im Militärstraf­prozess untersucht der Untersuchungs­richter und überreicht anschliessend das Dossier der Auditorin, die den Fall einstellt oder vor Schranken vertritt oder ein Strafmandat ausstellt.

Übrigens gibt es im Militärstraf­prozess auch keine Einzelrichter­kompetenz. Kommt ein Fall vor Gericht, so wird er stets von fünf Richterinnen und Richtern entschieden.

Stefan Maeder konstatiert: «Das Strafrecht ist das schärfste Schwert des Staates.» Es sollte nicht in erster Linie effizient, sondern mit Vorsicht, Bedarf und Würde eingesetzt werden.

Und: Die Fundamental­kritik an der Militär­justiz könne wohl mit vielem begründet werden. Aber bestimmt nicht mit der Ausgestaltung ihrer Prozessordnung.

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