«SP, Mitte und FDP sollten sich fragen, ob eine Koalition mit der SVP angebracht ist»

Der Wahlsieg der SVP sei nicht entscheidend, sagt Damir Skenderovic, Geschichts­professor und Rechts­populismus-Experte. Entscheidend sei, dass viele den Wahlsieg als «Rückkehr zur Normalität» sähen.

Ein Interview von Lukas Häuptli (Text) und Joan Minder (Bild), 25.10.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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«Die SVP ist mit ihrer Strategie auf eine Destabilisierung des Systems aus», sagt Damir Skenderovic.

Update: Falsche Zahlen zur Parteienstärke

Der Bund hat am Sonntag falsche Angaben zur Parteienstärke bei den Nationalrats­wahlen publiziert. Dies hat das Bundesamt für Statistik am 25. Oktober bekannt gegeben. Die Zahlen in diesem Beitrag beruhen auf diesen fehlerhaften Angaben.

Die korrigierten Zahlen weisen tiefere Werte für SVP, FDP und Mitte aus. Demnach liegt der Wähler­anteil der Mitte doch hinter demjenigen der FDP. Andere Parteien, darunter SP, Grüne und GLP, haben hingegen besser abgeschnitten als ursprünglich vermeldet.

Für die Sitzverteilung im Nationalrat hat die Zählpanne keine Auswirkungen.

Die SVP gewinnt die Wahlen 2023. Sie erreicht eines ihrer besten Resultate und bestätigt eine Entwicklung, die bereits vor 30 Jahren eingesetzt hat: Die Schweiz rückt nach rechts. Doch der «Tages-Anzeiger» schreibt zum Wahl­resultat: «Die Schweiz wählt Stabilität.» Und der «Blick»: «Jetzt ist die Schweiz wieder normal

Damir Skenderovic, nach dem Wahl­sieg der SVP schreiben die grössten Schweizer Medien von Stabilität und Normalität. Wie kommt das?
Lassen Sie mich zunächst das sagen: Ich erachte es als nicht entscheidend, dass die SVP ihren Wähler­anteil auf 28,6 Prozent erhöht hat. Entscheidend ist, dass viele dieses Resultat als Normalität oder als Rückkehr zur Normalität anschauen. Die SVP, die fast ein Drittel der Wählenden an sich bindet, ist im Verlauf der letzten 30 Jahre zur einfluss­reichsten Partei im politischen System der Schweiz geworden. Dass jetzt nicht nur wichtige Medien, sondern auch Polit­beobachterinnen und Politologen von Normalität und Stabilität sprechen, finde ich bemerkenswert. Sie blenden andere Fragen aus.

Welche?
Eine erste Frage: Wie kam es dazu, dass die SVP ihren Wähler­anteil in den letzten 30 Jahren von knapp 12 auf fast 30 Prozent ausbaute? Und eine zweite: Warum stören sich viele in der Schweiz kaum daran, dass eine rechts­populistische Partei eine so grosse Deutungs­macht hat?

Zur Person

Damir Skenderovic, 58, ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Zu seinen Schwer­punkten gehören die Geschichte der radikalen Rechten, die historische Migrations­forschung sowie Gegen­kulturen. Skenderovic gilt als führender Experte für Rechts­populismus und Rechts­radikalismus in der Schweiz und hat das Standard­werk «The Radical Right in Switzerland. Continuity & Change, 1945–2000» verfasst.

Bleiben wir bei der ersten Frage: Wie kam es so weit?
Die heutige SVP hat ihre Ursprünge in den 1990er-Jahren. Damals begannen Christoph Blocher und andere hohe Partei­mitglieder, die SVP in diejenige Partei umzubauen, die sie jetzt ist. In jener Zeit nach 1989, die zunehmend von Entwicklungen wie internationaler Integration und Globalisierung geprägt war, wurden Kern und Profil der Partei festgelegt. Und diese haben sich bis heute nicht wesentlich verändert.

Was gehört dazu?
Zum einen machte die Zürcher Führungs­riege um Blocher aus der SVP eine nationale Partei. 1991 hatte die Partei erst in 11 Kantonen eine eigene Sektion, zehn Jahre später in 26. Zum anderen straffte sie die Partei­strukturen und führte ein professionelles Polit­marketing ein. So investierte die SVP sehr früh in einen eigenen Internet­auftritt, Christoph Blocher hatte 1996 als einer der Ersten eine eigene Website, die sehr professionell gemacht war. Vor allem begann die Partei, auf permanent campaigning zu setzen. Seither sieht sie sich immer im Wahlkampf.

Gab es schon damals Kern­themen der SVP?
Ja. Die Partei bewirtschaftete von den 1990er-Jahren an konsequent Themen, wie sie für rechts­populistische Parteien typisch sind. Das erste Thema war der Kampf gegen die Integration der Schweiz in den Europäischen Wirtschafts­raum und in die Europäische Union, das zweite der Kampf gegen die angeblich überbordende Zuwanderung. Die SVP setzte damals auch eine Arbeits­gruppe Migration ein, die aus Experten aus Politik, Verwaltung, Recht und Wissenschaft bestand. Es war ihr klar, dass es Fachwissen braucht, um bei einem politischen Thema Meinungs­führerin zu werden und die Deutungs­hoheit zu übernehmen. Es ist im Übrigen kein Zufall, dass die SVP 1992 ihre erste Volks­initiative überhaupt lancierte, diejenige «gegen die illegale Einwanderung». Seither sind Initiativen fester Bestandteil ihrer Kampagnen.

Die Partei hatte Erfolg.
Ja, sie hatte für schweizerische Verhältnisse unglaublichen Erfolg. Bereits 2003 erreichte sie einen Wähler­anteil von 26,7 Prozent. Was in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aber fast entscheidender war als der reelle Wähler­anteil: Die SVP schaffte es, den anderen Parteien und den Medien ihre eigene Themen­agenda aufzuerlegen. Auch sorgte sie dafür, dass der Bereich des Sag- und Zeigbaren immer weiter nach rechts rückte. Und dafür, dass Parteien wie die FDP und Die Mitte in der Migrations- oder Europa­politik immer wieder ähnliche Positionen wie die SVP vertreten.

Die SVP weitet das politisch Machbare noch immer nach rechts aus.
Womöglich sprechen Sie mit dem Machbaren auch die Kontakte von SVP-Mitgliedern zu Rechts­extremen an, die in den Wochen vor den Wahlen publik geworden sind. Dazu muss man sagen, dass es diese auch in der Vergangenheit gab. Aber natürlich haben Sie recht: Die Ausweitung des politisch Machbaren hat immer wieder neue Kreise und Themen eingeschlossen. Mal weitet es sich in Richtung islamophobe Kreise aus, mal in Richtung Corona-Skeptikerinnen und Corona-Leugner, mal in Richtung Rechtsextreme.

Zu dieser Ausweitung gehören auch die offenen Sympathien von SVP-Exponenten für Wladimir Putin. Warum schreckt das nicht mehr Wählende ab?
Da kommen wir zur zweiten der eingangs gestellten Fragen: Warum gilt die starke Macht­position der SVP in der Schweiz als normal? Warum ist ein Wähler­anteil von fast 30 Prozent für eine rechts­populistische Partei Zeichen von politischer Stabilität?

Sagen Sie es.
Seit den 1990er-Jahren waren die anderen Parteien immer darum bemüht, die SVP trotz ihres rechts­populistischen Profils ins politische System zu integrieren. Das hatte verschiedene Gründe. Zum einen galt die SVP schon damals als zwar kleine, aber seit langem etablierte Partei; schliesslich war sie seit 1929 im Bundesrat vertreten. Zum anderen hatte die Schweiz bereits zu jener Zeit eine Tradition mit kleineren rechts­populistischen Parteien. Schon 1971 hatten die Republikaner um James Schwarzenbach und die Nationale Aktion um Valentin Oehen zusammen 11 Sitze im Nationalrat geholt. Ein weiterer Grund für die Integration der SVP war der Mythos des Schweizer Konkordanz­systems, der Idee, dass immer alle wichtigen Parteien an der politischen Macht teilhaben müssen.

Das Konkordanz­system ist ein Mythos?
Ja. Dieser Mythos ist in der Schweiz stark verankert. Er besagt, dass die heterogene, von verschiedenen Konflikt­linien durch­zogene Schweiz nur in einem Konkordanz­system stabil bleiben und überleben könne. Das hat unter anderem dazu geführt, dass es in den letzten 30 Jahren keine Partei wirklich wagte, die Teilhabe der SVP an der politischen Macht zu diskutieren, geschweige denn infrage zu stellen.

Das erachten Sie als wichtig?
Die Frage erachte ich als zentral. Die SVP hat ihre Doppel­rolle von Regierungs- und Oppositions­partei seit den 1990er-Jahren perfektioniert. Im Grunde aber war und ist sie immer Oppositions­partei, eine rechts­populistische Oppositions­partei, die die politische Elite scharf kritisiert und die sogenannte «Classe politique» in populistischer Manier denunziert. Die SVP ist mit ihrer Strategie nicht auf Stabilität, sondern auf eine Destabilisierung des Systems aus.

Was heisst das konkret?
Nehmen Sie die Menschen­rechte. Die SVP stellt mit ihren hetzerischen Kampagnen gegen Geflüchtete und Asyl­suchende immer wieder grundlegende Menschen­rechte infrage. Das ist angesichts der langen und viel zitierten humanitären Tradition der Schweiz höchst disruptiv. Trotzdem hat kaum eine andere Partei die Regierungs­beteiligung der SVP je infrage gestellt. Das war in anderen Ländern ganz anders.

Wie war es dort?
In Österreich zum Beispiel bildete die konservative ÖVP nach der Wahl von 1999 mit der rechts­populistischen FPÖ eine Regierungs­koalition. Da liefen andere Parteien und breite Teile der Bevölkerung Sturm. Es kam zu wochen­langen Demonstrationen. Die EU verhängte wegen der Koalition sogar Sanktionen gegen Österreich. Aber auch in anderen Ländern gab es immer wieder heftige Debatten darüber, wie die etablierten Parteien mit Rechts­aussen-Parteien umgehen sollen, etwa in Deutschland mit der AfD, in Frankreich mit dem Front National, dem heutigen Rassemblement National, oder in Belgien mit dem Vlaams Blok, dem heutigen Vlaams Belang. Aus Belgien stammt auch der Ausdruck des cordon sanitaire.

Was muss man sich darunter vorstellen?
Cordon sanitaire meint eine Puffer­zone der etablierten Parteien gegen Rechts­populisten. In der Schweiz geschah nie etwas Vergleichbares. Dabei war die SVP für viele rechts­populistische Parteien in Europa das Vorbild.

Für Sie ist klar, dass die SVP eine Partei wie die AfD ist?
Programmatisch wie auch diskursiv ist die SVP eine Partei wie die AfD, wie der Rassemblement National, wie der Vlaams Belang oder wie die FPÖ. Die SVP gehört zum rechts­populistischen Parteien­lager Europas. Dieser Befund ist etabliert in der wissenschaftlichen, vergleichenden Parteien­forschung zum europäischen Rechts­populismus. In der Schweiz scheint dies aber nicht immer klar zu sein. Hier bezeichnen einige Medien­schaffende und zum Teil auch Politologinnen die SVP noch immer als national­konservative oder sogar rechts­bürgerliche Partei. Sie begründen es mit den Besonderheiten des hiesigen politischen Systems. So wird die Schweiz zum Sonderfall und die SVP zu einer Partei, die nicht mit anderen rechts­populistischen Parteien vergleichbar ist.

Was wäre aus Ihrer Sicht der richtige Umgang mit der SVP?
Ich glaube, SP, Mitte und FDP sollten sich fragen, ob eine Koalition mit der SVP angebracht ist – vor allem angesichts von deren ausgrenzenden und fremden­feindlichen Kampagnen und deren Politik. Sie sollten sich auch der Frage stellen, welcher Preis für die Einbindung der SVP in das Koalitions­system der Schweiz bezahlt wird. Immerhin ist die Schweiz ein Land mit einer humanitären Tradition. Und immerhin ist die Schweiz ein Land mit einer international extrem vernetzten Wirtschaft. Deshalb müssten auch die wirtschafts­nahen politischen Kräfte der FDP und der Mitte ein Interesse daran haben, dass die Schweiz von der Welt als offenes, sie willkommen heissendes Land gesehen wird.

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