Die unsichtbare Milliarden­verteilung

In der Schweiz wird mehr Geld über den Besitz des Bodens umverteilt als durch Steuern und Sozial­abgaben. Nur wird das nirgendwo ausgewiesen. Die Republik hat nachgerechnet: Die Summe ist gigantisch.

Von Priscilla Imboden, Werner Vontobel (Text) und David Leutert (Illustration), 01.09.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Wir wissen sehr präzis, wie viel wir Schweizer jährlich dem Steuer­vogt abliefern müssen. Dazu gibt es offizielle Statistiken. Es sind rund 70 Milliarden Franken für den Bund, weitere knapp 80 Milliarden für die kantonalen und kommunalen Einkommens­steuern. Wir wissen auch, was uns der Staat für dieses Geld bietet: Bildung und Erziehung, Strassen und Infra­struktur, Spitäler und Sozialwerke.

Es gibt aber noch andere Vögte, denen wir laufend unseren Obolus abliefern müssen: die Land­vögte. Wie viel Geld haben wir ihnen zu entrichten ausschliesslich dafür, dass wir auf Boden, der ihnen gehört, wohnen, arbeiten, Sport treiben oder einkaufen dürfen? Dazu gibt es keine offiziellen Zahlen. Deshalb hat die Republik versucht, diese Zahlen zu schätzen. Darauf, wie wir dabei vorgegangen sind, werden wir in der Folge im Detail eingehen. Das Resultat vorab: Wir kommen auf knapp 90 Milliarden Franken jährlich. Das ist die sogenannte Boden­rente, ein Einkommen, das den Besitzerinnen des Bodens zufliesst, ohne dass sie dafür eine Leistung erbringen müssen.

90 Milliarden Franken sind ein enormer Betrag. Er ist gut dreimal so hoch wie die direkte Bundes­steuer, weit mehr als die Gesamt­summe der Einkommens­steuern. Mit Steuer­geldern werden staatliche Dienst­leistungen finanziert. Bei der Boden­rente ist das jedoch anders: Die rund 90 Milliarden fliessen überwiegend von unten nach oben – von der Mehrheit der Bevölkerung, die keinen Boden besitzt, zu den relativ wenigen Grund­besitzern.

Diese gewaltige Umverteilung von unten nach oben ist mit grosser Wahrscheinlichkeit umfang­reicher als die staatliche Umverteilung von oben nach unten via AHV, Ergänzungs­leistungen, Verbilligung der Krankenkassen­prämien und Sozialhilfe­ausgaben. Zwar gibt es auch zum Gesamt­umverteilungs­effekt des Schweizer Renten­systems und der Sozial­werke keine Statistik, doch ein Blick auf die AHV, unser sozialstes Sozial­werk, zeigt, dass es rund 22 Milliarden Franken jährlich von oben nach unten transferiert – was nur etwa einem Viertel der Boden­rente entspricht.

Damit zahlen wir unseren Land- oder Standort­vögten viel höhere Abgaben als dem Steuer­vogt. Doch während dem Steuer­vogt oft Ärger entgegen­schlägt, wird der Landvogt einfach hingenommen.

Worum es geht

Vorab eine Begriffs­klärung: Was ist die Boden­rente überhaupt?

Wer etwas herstellen will, braucht zwei Produktions­faktoren: Arbeit und Kapital. Das Einkommen aus Arbeit und Kapital (minus die Abschreibungen) ist unsere Wirtschafts­leistung und trägt zum nationalen Wohlstand bei, dem Brutto­inlandprodukt. Aber wer etwas herstellen oder sich Wohnraum sichern will, braucht dazu auch einen Standort. Er braucht bebaute oder bebaubare Land­fläche. Der Land­besitzer beteiligt sich nicht an der Herstellung des Wohl­standes. Doch er erhebt Anspruch auf eine Bodenrente.

Allerdings kommt der Standort selten allein. Er ist fast immer mit Kapital­einsatz – mit Baukosten, dem Kauf von Immobilien oder mit Miet­kosten – verbunden. Die Standort­kosten werden zu diesen Kapital­kosten gezählt. All diese Kosten werden in die Preise einkalkuliert und auf die Konsumentinnen überwälzt.

Die Bodenrente und die übrigen Kapital­kosten sind deshalb oft schwer auseinander­zuhalten. Um diese Unter­scheidung machen zu können, müssen wir von dem, was die Konsumenten und insbesondere die Mieterinnen sowie die Käufer von Immobilien de facto bezahlen, die effektiven volks­wirtschaftlichen Kosten abziehen, also den Wert der Bauten auf dem Boden plus die Kosten, um sie instand zu halten, zu finanzieren und zu verwalten oder die Kosten des Baus neuer Immobilien.

Die Differenz ist die Bodenrente. Sie fällt nicht nur beim Wohnen an, sondern auch bei der Arbeit, im Restaurant, im Fitness­zentrum.

Die volkswirtschaftliche Besonderheit dieser «Standort­abgabe» an den Landvogt liegt darin, dass ihr keine eigentliche Gegen­leistung gegenüber­steht. Sie ist reine Umverteilung von den Bürgerinnen ohne Boden­besitz an die Bürger mit Bodenbesitz.

Die Berechnung

Die betriebswirtschaftliche Recht­fertigung für die Boden­rente liegt darin, dass der Standort­boden einen Marktwert hat (und oft für viel Geld gekauft wird), der marktgerecht verzinst werden muss. Der Marktwert aller kommerziell genutzten Wohn­gebäude und Geschäfts­immobilien in der Schweiz beläuft sich laut «Immo-Monitoring» von Wüest Partner auf rund 4500 Milliarden Franken. Um den Wert des Bodens zu eruieren, müssen wir den Wert der Bauten abziehen, die auf dem Boden stehen. Der Substanz­wert aller Hoch­bauten in der Schweiz wird von der offiziellen Statistik für das Jahr 2021 auf gut 1000 Milliarden Franken veranschlagt. Ziehen wir diese Summe ab, ergibt sich ein Standort­kapital (das heisst, ein Marktwert des Bodens) von 3500 Milliarden Franken.

Was uns nun interessiert, ist die jährlich anfallende Boden- oder Standort­rente: wie viel Geld also effektiv von den Nutzern zu den Besitzerinnen fliesst. Nur das ist die volks­wirtschaftlich relevante Boden­rente. Die Landvögte haben zwei Möglichkeiten, ihren Grund­besitz zu versilbern. Erstens: die monatliche Miete – gewissermassen der Zehnte, wie ihn die Bauern im Mittelalter an ihre geistlichen oder adligen Boden­besitzer ablieferten. Zweitens: der Verkauf – gewissermassen das Löse- oder Eintritts­geld, mit dem die Käuferin die Rente zukünftig einsparen (wenn sie in der Immobilie wohnt) oder sichern kann (wenn sie sie vermietet oder später verkauft).

Wenn von einer Miete von 2000 Franken deren 1000 auf die Verzinsung des Boden­anteils entfallen, sind diese 1000 Franken mein Zehnter. Wer ein für 1 Million gekauftes Grundstück für 2 Millionen Franken weiter­verkauft, kassiert die Differenz von 1 Million als Lösegeld.

Zunächst zum Zehnten: Würde der vorher errechnete gesamte Marktwert des bebauten Bodens von 3500 Milliarden Franken zu den markt­üblichen 3 Prozent verzinst, ergäbe das einen gesamt­wirtschaftlichen Zehnten von mehr als 100 Milliarden Franken jährlich. Doch bisher ist nur ein kleiner Teil der Wohn­bevölkerung dem Markt vollständig ausgesetzt. Viele wohnen in Altwohnungen, deren Mieten (noch) aufgrund der historischen Boden­preise kalkuliert werden. Rund 3 Prozent sind Genossenschafter und 36 Prozent sind Eigenheim­besitzer. Sie sind sozusagen ihre eigenen Landvögte. Sie oder ihre Vorfahren haben rechtzeitig Lösegeld bezahlt.

Der für Wohn­bauten effektiv kassierte Zehnte (Bodenrente aus laufender Nutzung) liegt deshalb viel tiefer, nach unseren Schätzungen bei rund 35 Milliarden Franken jährlich. (Herleitung: siehe Kasten «Ich will es genauer wissen») Dazu kommen, wie wir noch sehen werden, weitere 8 Milliarden Franken für die Geschäfts­flächen. Ausserdem steuern Mieterinnen durch die Überwälzung der Hypozins­kosten einen Beitrag von 10 Milliarden Franken zum Schulden­abbau der Immobilien­besitzer bei.

Zum Zehnten kommt das Lösegeld hinzu, das zugleich auch das Eintrittsgeld in den Club der Landvögte ist. Es wird immer dann fällig, wenn Land verkauft wird. Sei es beim Bau neuer Wohnungen oder wenn bestehende Immobilien zu höheren Preisen weiter­verkauft werden. Unsere Schätzung, die wir noch erklären werden, kommt für das Lösegeld auf jährlich gut 36 Milliarden Franken allein für die Wohn­immobilien.

Insgesamt gegen 90 Milliarden Franken (43 Milliarden Zehnte plus 10 Milliarden Schulden­abbau und 36 Milliarden Lösegeld) pro Jahr?! Das klingt unglaublich. Doch schauen wir einfach einmal an ein paar konkreten Beispielen, wie sich diese Summe zusammen­läppert.

Die Beispiele

Beginnen wir im Zürcher Rand­quartier Leimbach. 2021 wurde dort ein Areal von über 5000 Quadrat­metern Grösse versteigert und vom Zuger Immobilien­fonds Real Fund gekauft. Laut dem Quartals­bericht des Fonds sollen 54 Eigentums­wohnungen gebaut und für 84 Millionen Franken verkauft werden, wobei, so die Kalkulation, für die Fonds­inhaberinnen eine Rendite nach Steuern von jährlich 5,1 Prozent anfallen wird. Gemäss den Zürcher Wohnbau­genossenschaften, die 30 Millionen geboten hatten, soll das Grundstück für über 42 Millionen ersteigert worden sein. Real Fund gibt über den Kaufpreis keine Auskunft. Pro Wohnung sind das rund 780’000 Franken – allein für das Grundstück. Das ist die Hälfte des geplanten Verkaufs­preises pro Wohnung. Die Real Fund geht offenbar davon aus, dass solche Preise bezahlt werden, auch an einem schattigen Hang.

Wie sehr der Landvogt seine «Untertanen» zur Kasse bitten kann, illustriert auch dieser Bericht des «Blicks» zum «Sion-Masterplan». Der Plan lautet: Der Kanton stellt gratis Baugrund zur Verfügung. Der Bauunternehmer und FC-Sion-Boss Christian Constantin finanziert ein Immobilien­grossprojekt inklusive Stadionbau. Der Verkauf von 166 neuen Wohnungen soll dabei die 120 Millionen für den Bau eines neuen Stadions einspielen. Das macht rund 720’000 Franken pro Wohnung als Bodenrente. Weitere 420 Wohnungen sollen vermietet werden und für den FC Sion pro Jahr netto 9 Millionen abwerfen. Macht pro Mieter eine Bodenrente von monatlich gut 1800 Franken. Noch ist nichts gebaut, aber das ist offenbar die Grundlage, auf der solche Projekte kalkuliert werden.

Drittes Beispiel: Der Bäcker in Adliswil hat keine Nachfolgerin gefunden. Wer steht schon gern für einen mittel­mässigen Lohn jeden Morgen lange vor der Dämmerung auf? Jetzt sollen auf dem Areal der Bäckerei 6 Eigentums­wohnungen entstehen. Die 3½ -Zimmer-Wohnungen von 93 Quadrat­metern sind für je 1,555 Millionen ausgeschrieben worden. Gemäss dem «Immo-Monitoring 2023/1» kostet ein Quadratmeter Wohnfläche des gehobenen Standards 4500 Franken. Damit dürften sich die Kosten des Baus einer Wohnung auf maximal 450’000 Franken belaufen. Das heisst: Keine 30 Prozent des Preises gehen an die Produktions­faktoren (Kapital und Arbeit). Mehr als 70 Prozent werden vom Standort beansprucht.

Wie kommt das? Gemäss der markt­wirtschaftlichen Lehre richtet sich der Preis nach den Herstellungs­kosten. Der günstigste Produzent gewinnt. Bei den Immobilien gelten jedoch andere Gesetze. Zwar verkaufen auch Immobilien­händlerinnen Backsteine, Mörtel und Arbeit, aber vor allem versilbern sie den Standort. Fragt man Immobilien­spezialisten, was den Wert einer Liegenschaft ausmacht, erhält man immer dieselbe Antwort: «Erstens die Lage, zweitens die Lage, drittens die Lage.» Es sind also nicht die Herstellungs­kosten, die den Preis fürs Wohnen bestimmen. Viel wichtiger ist die Kaufkraft der potenziellen Mieterinnen. Schliesslich ist Wohnen ein essenzielles Gut: Niemand kann darauf verzichten.

Die Kaufkraft ist hoch, vor allem beim reicheren Teil der Bevölkerung. Ein weiterer preis­treibender Faktor ist die hohe Einwanderung in die Schweiz. Darunter sind auch viele wohlhabende Steuer­flüchtlinge (aktuell: Milliardäre aus Norwegen) und gut bezahlte Spezialistinnen. Sie bezahlen auch mal 5000 Franken Miete für eine 4-Zimmer-Wohnung.

Gemäss einer neuen Studie von Wüest Partner erhöht jedes Prozent Bevölkerungs­wachstum die Mieten um mehr als 4 Prozent. Die Einwanderung von kaufkräftigen Wohnungs­nachfragern ist nicht zuletzt die Folge der Schweizer Standort­politik, die mit tiefen Steuer­sätzen reiche Steuer­zahlerinnen anlockt. Wer Steuern spart, gibt dem Landvogt, der ihm im Steuer­paradies einen Platz verschafft, gerne einen Teil seiner Ersparnisse ab – und treibt damit die Mieten hoch.

Dazu kommt die Erpressbarkeit der Mieterinnen: Niemand verlässt seine angestammte Nachbarschaft gerne. Ein Umzug ist nicht billig und in der Regel mit einem längeren und teureren Arbeitsweg verbunden. Dann zahlt man doch lieber mehr Miete. Diese Erpressbarkeit wird durch das Mietrecht noch gestützt. Wenn der Investor in Leimbach 42 Millionen für das Bauland bezahlt, dann ist das die Kosten­grundlage, auf der die miet­rechtlich erlaubte «Kostenmiete» beruht. Der Investor darf den Hypothekar­zins plus eine Eigenkapital­rendite von aktuell maximal 3,5 Prozent auf die Mieten überwälzen. Plus alle Verwaltungs- und Unterhalts­kosten.

Dass die Verkäuferin des Grundstücks zuvor einen Riesen­gewinn gemacht hat, ist für das Mietrecht unerheblich.

Im Gegensatz zur gesetzlichen, auf den überrissenen Boden­preisen beruhenden «Kostenmiete» wäre die auf den effektiven volks­wirtschaftlichen Kosten beruhende eigentliche Kosten­miete erstaunlich gering. Unsere Berechnungen ergeben eine Boden­rente (allein fürs Wohnen) von rund 35 Milliarden.

Ich will es genauer wissen: So haben wir die Bodenrente fürs Wohnen berechnet

Wie viel würde das Wohnen pro Jahr kosten, wenn der Boden gratis wäre? Volkswirtschaftlich gesehen ist Wohnen billig. Gemäss Matthias Engel, Medien­sprecher und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Schweizerischen Baumeister­verbands, wurden in der Schweiz 2021 für den Wohnungsbau, also für Architekten, Planer, Ingenieure, Baumeisterinnen, Maler, Gipserinnen, Zimmerleute und weitere Ausbau­berufe mehr als 30 Milliarden Franken ausgegeben. Davon entfallen gut 22 Milliarden auf den Ersatz- und Neubau von rund 50’000 Wohneinheiten.

Eine neu gebaute Wohneinheit kostet somit rund 450’000 Franken.

Der Unterhalt der bestehenden 4,7 Millionen Wohnungen kostet rund 8 Milliarden Franken, was jährlich 1700 Franken pro Wohnung ausmacht.

Nun beanspruchen Einwanderinnen in die Schweiz mindestens die Hälfte der neu gebauten Wohn­einheiten. Diese ziehen wir ab, weil das einmalige Ausgaben sind, die die laufenden jährlichen Wohn­kosten nicht erhöhen. Deshalb nehmen wir die effektiven Kosten für die 25’000 neuen (Ersatz-)Wohnungen für die bestehende Bevölkerung. Wir zählen den baulichen Unterhalt dazu und kommen somit auf 19 Milliarden Franken.

Doch Wohnungen müssen nicht nur gebaut und unterhalten, sondern auch verwaltet werden. Für die Schätzung dieser Kosten stützen wir uns auf die «Branchen­statistik der Zürcher Wohnbau­genossenschaften 2018». Danach belaufen sich die nicht baubedingten Kosten inklusive Abschreibung auf 5815 Franken pro Wohnung. Da Genossenschaften billiger arbeiten, runden wir diesen Betrag um 20 Prozent auf 6978 Franken auf. Multipliziert mit den schweizweit 4,7 Millionen Wohnungen kommen wir auf ein Total von gut 30 Milliarden.

Dazu kommen nun noch die – volkswirtschaftlichen – Kosten der Finanzierung. Selbst wenn der Boden nichts kosten würde, kann man den Bau einer Wohnung nicht aus der Portokasse finanzieren. Es braucht die Vermittlungs­leistung der Banken. Sie müssen die Kredit­gesuche überprüfen, die Kredite überwachen und sie haben ein Verlust­risiko. Banken arbeiten nicht gratis. Ihre Wert­abschöpfung pro Vollzeit­stelle ist rund doppelt so hoch wie die der Baubranche. Gemäss dem Vermögens­zentrum beläuft sich die Zinsmarge auf rund 1 Prozent. Im Schnitt sind die Schweizer Immobilien zu 25 Prozent mit Hypotheken belehnt. Auf dem Substanz­wert von 1000 Milliarden lasten somit 250 Milliarden Hypotheken. Ein Prozent davon ergibt eine Belastung von 2,5 Milliarden, die wir zu den rein volkswirtschaftlichen Kosten addieren müssen.

Rechnen wir zusammen: 19 Milliarden bauliche Kosten plus 30 Milliarden Verwaltung etc. plus 2,5 Milliarden Finanz­kosten. Total: 51,5 Milliarden oder rund 920 Franken volkswirtschaftliche Kosten pro Wohnung und Monat. Dem stehen die rund 86 Milliarden Franken gegenüber, welche die Schweizer Haushalte 2020 für das Wohnen (ohne Energiekosten) ausgegeben haben.

Die Differenz entspricht einer Bodenrente von gut 35 Milliarden Franken jährlich, allein für das Wohnen.

Die 35 Milliarden Franken Boden­rente für die laufende Nutzung der Wohn­immobilien sind aber nur ein Teil dessen, was die Boden­besitzer kassieren. Die Boden­rente fällt auch an, wenn wir einkaufen, ins Café oder ins Fitness­center gehen. Im Schnitt geben die Schweizer Haushalte für diese Budget­posten etwa 40’000 Franken im Jahr aus. In diesen Ausgaben ist auch die Miete einkalkuliert, die in den meisten Geschäfts­bereichen 3 bis 9 Prozent ausmacht, in manchen auch mehr. Wenn die Hälfte davon auf die Bodenrente entfällt, macht sie durchschnittlich 3 Prozent des Umsatzes aus. Das sind jährlich rund 1200 Franken pro Haushalt und insgesamt 5 Milliarden Franken.

Und auch unser Arbeits­platz befindet sich in einer Immobilie, die gemietet werden muss, und generiert damit Bodenrente. Laut Wüest Partner gibt es 40 Millionen Quadratmeter Bürofläche, die im Schnitt zu 230 Franken vermietet werden. Wenn, konservativ geschätzt, nur ein Drittel dieser Kosten auf den Boden entfällt, kommen weitere 3 Milliarden Bodenrente dazu. Zusammen mit den 5 Milliarden Franken für Dienstleistungs­flächen resultieren so die eingangs erwähnten 8 Milliarden Franken für Geschäfts­flächen.

Die Bilanz

Damit sind wir bei unserem ersten Zwischen­ergebnis: Die laufende Nutzung aller Immobilien generiert – vorsichtig gerechnet – eine jährliche Bodenrente von 43 Milliarden Franken. Das ist das, was wir eingangs als «Zehnten» bezeichnet haben – das, was wir den Landvögten jedes Jahr abliefern.

Aber was, wenn man diese Abgabe vermeiden und selbst Landvogt werden will? Dann muss ein «Lösegeld» bezahlt beziehungs­weise Boden gekauft werden. Dieses Lösegeld wird immer dann fällig, wenn Immobilien neu gebaut werden (und Boden beansprucht wird), oder wenn diese die Besitzerin wechseln und der Verkäufer einen Mehrwert kassiert. Jedes Jahr werden in der Schweiz etwa 50’000 neue Wohnungen gebaut. Dabei fallen – wie das Beispiel von Leimbach zeigt – auch bei Miet­wohnungen schon mal 700’000 Franken Boden­rente an. Bei Eigenheimen mit ihrem viel grösseren Boden­verschleiss kann es auch ein Mehrfaches davon sein. Wenn im Schnitt pro neue Wohn­einheit auch nur 400’000 Franken für den Boden bezahlt werden müssen, kassieren die Besitzer mindestens 20 Milliarden Franken Lösegeld.

Zudem wechseln von den gut 2 Millionen Eigentums­wohnungen und Einfamilien­häusern jährlich rund 4 Prozent die Besitzerin. Das lässt sich aus dieser Studie des Statistischen Amts des Kantons Zürich ableiten. Rechnen wir diese Zahl auf die Schweiz hoch, ergibt das gut 80’000 zusätzliche Transaktionen. Die Wert­steigerung dieser Immobilien seit dem Kauf entspricht ziemlich genau der Bodenrente, denn die Immobilien selber sind eher älter geworden und haben an Wert verloren.

Nehmen wir das durchschnittliche Alter der verkauften Immobilien und berücksichtigen wir, wie stark die Immobilien­preise in dieser Zeit angestiegen sind, kommen wir auf eine Boden­rente von mindestens 200’000 Franken pro Wohn­einheit. Macht weitere 16 Milliarden Franken Bodenrente.

Insgesamt ergibt das ein «Lösegeld» von 36 Milliarden.

Und schliesslich gibt es noch einen weiteren, gern übersehenen Umverteilungs­faktor: Wenn die Inflation um 1 Prozent steigt, steigen tendenziell auch die Hypothekar­zinse um 1 Prozent. Aktuell liegt die erwartete Inflations­rate bei etwa 2 Prozent, die Hypo­zinse sind deshalb in relativ kurzer Zeit von 1 auf 2,5 Prozent gestiegen. So werden die Gläubiger dafür entschädigt, dass sich ihr Guthaben real entwertet. Umgekehrt zahlen die Schuldnerinnen zwar mehr Zins, dafür werden ihre Schulden real kleiner.

Nun gehören die Hypozinse aber zu den Kosten, die auf den Mieter überwälzt werden dürfen. Damit werden die Mieter gezwungen, den Vermieterinnen den Abbau ihrer (realen) Schulden zu finanzieren. Das läppert sich: Nimmt man die rund 500 Milliarden der ausstehenden Hypothekar­schulden auf Miet­objekten, die sich – letztlich auf Kosten der Mieter – aktuell um rund 2 Prozent real entwerten, bedeutet das für die Vermieterin einen Zugewinn von 10 Milliarden Franken, den wir zur Boden­rente hinzu­rechnen können.

Zählen wir zusammen: 43 Milliarden für den «Zehnten» plus 36 Milliarden «Lösegeld» und 10 Milliarden Beitrag zum Schulden­abbau der Haus­besitzer. Das bedeutet, dass in der Schweiz aktuell jährlich gegen 90 Milliarden Franken von den Nutzerinnen des Bodens an deren Besitzer transferiert werden. Diese Zahl ist eine Annäherung: Variiert man die getroffenen Annahmen etwas, könnten es auch 10 oder 20 Milliarden mehr oder weniger sein. Richtig ist auch, dass viele dieser Milliarden zwischen Leuten verschoben werden, die eh schon im Geld schwimmen.

Die Quintessenz

Das alles ändert aber nichts an der wichtigsten Schluss­folgerung aus unseren Überlegungen: Wir müssen das bisher auf das Stichwort «Wohnungsnot» reduzierte Problem ganz anders und viel breiter angehen. Die hohen Preise fürs Wohnen sind nicht – wie oft behauptet wird – der Tatsache geschuldet, dass es zu wenig Wohnungen gibt, was durch Lockerungen der Bauvorschriften gelöst werden könnte. Das Problem sind auch nicht die hohen Kosten. Aus volks­wirtschaftlicher Sicht sind diese sogar erstaunlich tief. Wohnen ist vor allem ein Verteilungs­problem. Und dieses wird noch verschärft, wenn der Staat Mieten subventioniert – und damit letztlich die Boden­rente zusätzlich erhöht.

Es wäre zwar schon ein Fortschritt, wenn wir das Mietrecht strikter anwenden und damit die Last der Mieterinnen um etwa 10 Milliarden Franken jährlich senken würden. Doch das ist nur ein Bruchteil der aktuell knapp 90 Milliarden Boden­rente, die pro Jahr den Landvögten zufliessen.

Es wäre Aufgabe der Politik, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Ansätze sind erst spärlich da und scheitern an der weitverbreiteten Unkenntnis der Sachlage. SP-Nationalrätin Jacqueline Badran ist eine der wenigen, die seit langem über diese Themen nachdenkt. Sie meint zu der von der Republik ausgerechneten Boden­rente: «Dieser Betrag ist plausibel. Es herrschen neofeudale Verhältnisse.»

Badran schlägt ein Vorkaufs­recht für die öffentliche Hand vor, um mehr Boden der Rendite­logik zu entziehen. Der Grund: «Am Schluss des Tages geht es um die Eigentums­verhältnisse. Der Boden muss stärker vergemeinschaftet werden.» Da gebe es zwei Wege: Selbst bewohntes Eigentum oder – für die weniger Reichen – den gemein­nützigen Wohnungsbau. Badran: «Alles andere ist Flickwerk.»

Sie räumt aber auch ein, dass «eher eine Kuh klettern lernt», als dass ein solcher Vorstoss im Parlament angenommen wird. Weil ein generelles Vorkaufs­recht chancenlos ist, beschränkt sie sich in ihren jüngsten Forderungen auf Immobilien bundes­eigener Betriebe. Ein identischer Vorstoss Badrans scheiterte bereits vor zehn Jahren.

Statt bei den Eigentums­verhältnissen direkt anzusetzen, könnte man einen beträchtlichen Teil der Immobilien­gewinne beziehungsweise der Boden­rente steuerlich abschöpfen und in den verbilligten Wohnungsbau investieren. Das fordert der grüne Nationalrat Michael Töngi in einem neuen Vorstoss. Er schlägt eine nationale Grundstück­gewinnsteuer vor, deren Einnahmen in den preisgünstigen Wohnungsbau investiert werden sollen. Die Grundstück­gewinnsteuer existiert schon heute in den Kantonen als eine Form der Bodenrenten­abschöpfung, fällt allerdings unterschiedlich hoch aus.

Man könnte eine stärkere Abschöpfung als verfassungs­widrigen Eingriff in die Eigentums­freiheit werten. Man kann aber auch argumentieren, dass der Wert beziehungsweise die Wert­steigerung einer Immobilie vor allem von der guten Lage abhängt – und diese wiederum ist weitest­gehend die Folge von staatlichen Ausgaben für Verkehrs­wege, öffentliche Bauten, Schulen, Lehrer, Polizei.

Letztlich wird die Boden­rente vom Staat geschaffen. Warum sollte sie zum grössten Teil den Boden­besitzerinnen zufliessen?

Darüber müssen wir reden.

Zum Autor

Werner Vontobel ist Ökonom und Wirtschafts­journalist sowie Autor zahlreicher Bücher, darunter «Die Wohlstands­maschine. Das Desaster des Neoliberalismus» (1998) und «Arbeitswut. Warum es sich nicht lohnt, sich abzuhetzen und gegenseitig die Jobs abzujagen» (2008, mit Philipp Löpfe).

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