Lore Berger in einer Porträtserie von 1942. Charles Linsmayer

Lest den Roman, nicht die Legenden

Das Werk der Schweizer Schrift­stellerin Lore Berger war bereits von Mythen umstellt, bevor ihr erstes und einziges Buch überhaupt erschien. Warum man sie achtzig Jahre nach ihrem frühen Tod wieder­lesen sollte.

Von Yael Inokai, 12.08.2023

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Vorgelesen von Danny Exnar
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Eine Warnung: Dieser Beitrag behandelt das Thema Suizidalität. Anlauf­stellen finden Sie am Schluss des Beitrags.

Lore Berger wurde 1921 in Basel geboren und starb dort am 14. August 1943. Sie hinterliess ihren Roman «Der barmherzige Hügel». Er erzählt die Geschichte einer jungen, bürgerlichen Frau, die sich unglücklich verliebt und an diesem Kummer schliesslich zerbricht. Es ist Lore Bergers eigene Geschichte. Im Roman stirbt die Protagonistin Esther an einer missglückten Blut­transfusion, geschwächt von der Trauer um eine unerfüllte Liebe. Im echten Leben wählte Lore Berger den Suizid, sprang vom Basler Wasserturm, wie es schon eine Nebenfigur im Roman getan hatte. Die schmale Biografie auf Wikipedia verrät: «Es ist zu vermuten, dass der Roman nur wegen Bergers Suizid und den Parallelen im Roman 1944 veröffentlicht wurde.»

Das sind die kurzen Rezeptions­wege, die zum barmherzigen Hügel führen. Über Jahre war das auch mein Wissensstand.

Ich lieh den Roman einmal aus, gelesen habe ich ihn damals nicht. Sein Mythos löste Wider­willen in mir aus. Nicht wenige Schrift­stellerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts hatten sich das Leben genommen; ich fand es zunehmend schwierig, damit umzugehen. Die Idee, dass sich hinter dem Mythos ein literarischer Klassiker verbergen könnte, war mir nicht unter­gekommen. In Bergers Roman starb eine junge Frau an ihrem Liebes­kummer; darin sah ich nichts Dringliches, nichts Poetisches.

Zur Autorin

Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, lebt in Berlin. Ihr zweiter Roman «Mahlstrom» wurde mit dem Schweizer Literatur­preis ausgezeichnet. Sie ist Redaktions­mitglied der Zeitschrift «PS: Politisch Schreiben». Für ihren Roman «Ein simpler Eingriff» (2022) – eine Besprechung lesen Sie hier – erhielt sie den Anna-Seghers-Preis und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2022. Sie arbeitet als freie Autorin und gibt Schreibkurse für Studierende.

Als ich den Roman später zufällig in einem Antiquariat in Basel fand, kaufte ich ihn trotzdem. Las ihn irgendwann, aus keinem besonderen Anlass. Seither begleitet er mich. Befreundete Autorinnen meiner Generation reichen ihn schon länger von Hand zu Hand, lesen ihn als Zeugnis einer Zeit, aber auch mit Blick auf seine Gegenwärtigkeit.

«Der barmherzige Hügel» beginnt mit dem Tod seiner Hauptfigur. Esthers Bruder Edgar ist die erste Stimme des Romans und klärt über die Geschehnisse rund um die fatale Blut­transfusion auf:

(...) kurz, es trat ein Schock ein, das Herz versagte, und meine Schwester wurde an einem Apriltage auf dem sonnigen und gut angelegten Friedhof unserer Stadt kremiert und ihre Asche beigesetzt.

Beim Aufräumen ihres Zimmers stösst Edgar auf Esthers Aufzeichnungen, auf ihre «Geschichte gegen Thomas», wie der Roman im Untertitel heisst. Damit setzt Esthers Stimme ein.

Jener Thomas spielt, obwohl er zentral ist im Mythos um Lore Berger und sein Name sogar im Titel vorkommt, im Buch eine erstaunlich geringe Rolle. Esther hatte sich in ihn verliebt, zwei Sommer­monate lang waren sie gemeinsam unterwegs, ehe er sich anderen Frauen zuwandte. Doch es sind Esthers rauschhafte Gefühle, die in den Fokus des Erzählens rücken, sie lassen Thomas als Figur verblassen. Am Glück hängt Esther ebenso wie an der darauf­folgenden Trauer. Sie lässt Erinnerungen wach werden an einen gemeinsamen Spaziergang, wo beide sich eine gewichtige Existenz herbei­fabulieren; und an einen Kuss im Wasserturm:

Ich habe das Gefühl, losgelöst und zum Fall bereit hoch über dem kalten Fussboden zu hängen. Deine Hand einzig ist mein Halt. (…) Als ob ich das nötig hätte, denke ich. Ich bin sehr glücklich.

Thomas war es, dem Esther ihren Hunger auf das Leben gestand. Für kurze Zeit konnte er diesen Hunger stillen. Diese Erschütterung lässt sie nicht los.

Esthers junges Erwachsenen­leben ist geprägt von den Privilegien und Fallstricken der Bürgerlichkeit, weit weg vom Grauen des Zweiten Weltkriegs. Sie arbeitet unterfordert bei einer Zeitschrift, verkehrt in der studentischen Poetenrunde «Das Eidechs von Flandern», fährt zum Skifahren, erlebt die Jahreszeiten auf dem barmherzigen Hügel. Der Hunger ist ihr Verhängnis. Sie leidet an wieder­kehrender Magersucht, wiegt teilweise kaum mehr als vierzig Kilogramm. Blut­transfusionen sollen sie heilen, anfangs spricht sie auf die Therapie gut an. Ihr Tod ist dann ein plötzlicher.

Diesem Tod entgegen­geschrieben, entsteht das Bild eines Frauen­lebens im Basel der 1930er- und 1940er-Jahre. Lore Bergers Roman erzählt von einem Verlieben, das Funken schlägt in die zornige Verzweiflung, welche die Erzählerin ihrem Leben gegenüber empfindet. Sie erwartet nichts von ihrer Zukunft und wünscht sich doch alles. Mit Unbehagen betrachtet sie die Frauen in ihrer Umgebung, die ihr um Jahre und Jahrzehnte voraus sind, erblickt ihr eigenes bevor­stehendes Leben und spürt die Grenzen, die ihr gesetzt sind. Sarkasmus und Herab­würdigung sind ihre Werkzeuge in einer Umgebung, die ihr kaum Handlungs­spielraum lässt:

Warum müssen Redaktorinnen immer wie abgekämpfte Schlacht­rosse auf dem Gebiet des Allgemein-Menschlichen herum­stapfen: Ohne Zuversicht im Frühjahr die Anemonen preisen, im Sommer gönnerisch von «Badefreuden» schreiben, im Herbst die Frucht und im Winter still sentimental das Weihnachts­lichtlein besingen?

Nicht zuletzt erzählt der Roman auch von einer anderen, komplizierten Liebe, jener von Esthers Vater zu seiner Tochter. Der Vater glaubt früh zu sehen, welchen Zweck ihr Hungern verfolgt, denn er erkennt sich selbst in ihr:

«Du gleichst mir – du willst gar nicht leben.»

Lore Berger teilte sich mit ihrer Roman­figur Esther die Wohn­adresse auf dem Bruderholz. Bergers vier Jahre jüngerer Bruder Louis, heute 97 Jahre alt, wohnt noch immer in dem Haus, in dem die Geschwister einst aufgewachsen sind. Während der Arbeit an diesem Text kontaktiere ich ihn. Er würde mich empfangen, sagt er am Telefon, die Adresse sei mir ja bekannt. So nehme ich den Zug nach Basel.

Schon vor der Fahrt tummeln sich in meinem Kopf die Bilder. Sie speisen sich aus dem Roman, aber auch aus meinen eigenen Erinnerungen. Ich bin in Basel aufgewachsen, nahe der französischen Grenze, weit weg vom barmherzigen Hügel. Es war ein anderes Basel als das von Lore Berger, zu einer anderen Zeit – trotzdem ist mir vieles, was sie in ihrem Buch über die Stadt und ihre Menschen geschrieben hat, vertraut.

Im Roman zieht Esther als Mädchen mit ihrer Familie aufs Bruderholz. Sie verlassen «ein dunkles, kühles, abweisend-vornehmes Haus» im Gellert-Quartier. Basel ist eine kleine Stadt, Licht und Schatten sind ungleich verteilt. Zum Bruderholz geht es vom Bahnhof SBB aus übers Gundeli, ein flaches, schachbrett­artig angelegtes Quartier, an dessen Grenze die verschlungenen Wege und Treppen zum barmherzigen Hügel führen. Ich kenne diesen Ort aus meiner Kindheit, von Ausflügen. Ich habe mir das Leben dort immer schön vorgestellt.

Louis Berger hat in dem Haus, in dem er aufgewachsen ist, mit seiner Frau zwei Söhne grossgezogen. Schlichte, elegante Reihen­häuser aus den 1930er-Jahren säumen die Strasse, welche in Richtung Wasserturm hochführt. Die Umgebung lässt an Lore Bergers Natur­beschreibungen denken, die stilprägend für den Roman sind:

Wir waren geblendet von der Lichtfülle, die der Hügel über uns goss, geblendet von seinen Blumen, vernarrt in jeden blühenden Strauch, in jeden Maikäfer, in jede Wolke (...)

Louis Berger sagt mir, ich sei nicht die Erste, die ihn wegen seiner Schwester besuche. Wir sitzen am Esstisch, hinter uns geht der Blick in den verwunschenen Garten. Als Lore Berger hier lebte, kamen dahinter keine anderen Häuser, nur Felder. Ein Bild von ihr hängt an der Wand und schaut beim Gespräch zu.

Über die Jahrzehnte gab es immer wieder Frauen, die auf Lore Bergers Werk gestossen sind und Louis Berger kontaktiert haben. «Nur Frauen», betont er. «Es ist ja auch ein feministisches Werk.» Ich gebe ihm recht, aber bin zwiegespalten. Dass keine männlichen Leser gekommen sind, erzählt viel von der verbreiteten Auffassung über Literatur von Frauen: Der Blick einer Autorin sei ein besonderer, partikularer, der ganz bei seiner spezifischen weiblichen Perspektive bleibe – und somit auch ausschliesslich für Leserinnen von Interesse. Zugleich ist es faszinierend, welche Wege so ein besonderer Roman nehmen kann. Aus der Versenkung heraus hat sich Lore Bergers Buch über Jahrzehnte hinweg immer wieder von Neuem die Gegenwart erobert.

Auf dem Tisch vor Louis Berger liegt eine Ankündigung für den 13. August. An diesem Tag lesen zwanzig Autorinnen auf dem Wasserturm den kompletten «Barmherzigen Hügel». Mariann Bühler, Leonora Schulthess und Tabea Steiner haben die Marathonlesung initiiert und führen damit die Reihe der «Alten Meisterinnen» fort, in der auch schon Erika Burkart beschworen wurde. Louis Berger ist begeistert von der kommenden Veranstaltung. Überrascht davon, dass das Buch wieder eine solche Öffentlichkeit findet, ist er allerdings nicht.

Dass wir das Werk heute noch lesen, ist zu einem grossen Teil Charles Linsmayer zu verdanken, der sich seit langem für das Heben und Bewahren hiesiger Literatur­schätze einsetzt. 1979, als Lore Bergers Roman schon Jahrzehnte vergriffen war, ist er in der Zürcher Zentral­bibliothek zufällig auf ihr Werk gestossen. Er hat das Buch 1981 neu heraus­gebracht; in den Jahren 1999 und 2018 kam es noch einmal zu einer Neuausgabe. Jeweils sind den Ausgaben akribisch recherchierte Nachworte angefügt.

Erstmalig erschienen ist der Roman 1944, im Jahr nach Lore Bergers Tod. Die Autorin hatte ihn bei einem Wettbewerb der Bücher­gilde Gutenberg eingereicht. Dem damals von den Juroren Gesuchten stand er fast diametral gegenüber.

Während des Zweiten Weltkrieges war die Schweiz ein abgeriegeltes Land. Die Büchergilde war auf Werke aus, die positiv und aufbauend waren, nicht «hoffnungslos» und «fraulich» wie jenes von Lore Berger – Jury­mitglied Kurt Guggenheim gab das später in einem Gespräch mit Linsmayer zu. Zu den Gewinnern wurden damals gekürt: Jenö Marton, Alfred Fankhauser, Rudolf Jakob Humm und Hermann Schneider. Noch während des Auswahl­prozesses verstarb Lore Berger. Die Anonymisierung ihres eingereichten Werkes wurde aufgehoben und das Buch zur Herausgabe empfohlen. Hermann Hesse erwähnte es lobend in der «Weltwoche». Trotzdem verschwand es, weitgehend unbeachtet, bald nach seinem Erscheinen wieder. Bis 1981.

Der Nachlass von Lore Berger liegt bis heute bei ihrem Bruder. Ob der nicht ins Schweizer Literatur­archiv sollte, frage ich. Louis Berger nickt energisch: «Charles Linsmayer und ich sind dran.» Unter den Dokumenten ist neben Fotografien und Entwürfen zum «Barmherzigen Hügel» auch Lore Bergers Tagebuch zu finden. Längere Auszüge aus dem «Journal intime» sind in der Neuauflage des Romans von 2018 erschienen, in denen Linsmayer ausführlich die Bezüge zwischen Fakt und Fiktion ausweist.

Lore Berger mit ihrem Hund Jazz um 1940. Charles Linsmayer

Erst 1938 hatte Berger mit dem Tagebuch­schreiben angefangen, und es gibt Einträge, die sich weniger als Bericht lesen als vielmehr wie Entwürfe für die spätere Fassung des Romans. Der naheliegende Schluss aus all dem ist gerade nicht, dass Lore Berger und ihre Protagonistin Esther identisch seien. Berger wusste schlichtweg, wie aus dem eigenen Leben literarisches Material zu gewinnen ist, das sich zu einem Roman weiter­spinnen lässt. Die junge Frau, die sich aus Liebes­kummer das Leben genommen und dies in ihrem eigenen Werk angekündigt haben soll – sie war zum Zeitpunkt der Fertig­stellung längst mit einem anderen Mann liiert, der Kummer über den Verlorenen nur noch ein schmerz­hafter Gedanke.

«Wir haben sie gehört», sagt Louis Berger und zeigt hoch in den ersten Stock des Hauses. «Da hatte sie ihr Schlaf- und Arbeits­zimmer. Ich sass hier unten mit den Eltern und sie schrieb an ihrer Remington, schrieb und schrieb.»

Berger war als Kolumnistin für die «Schweizer Hausfrau» tätig, als «Tante Lore» betreute sie die Kinderseite mit basel­deutschen Kinder­versen und Märchen. Sie wollte Journalistin werden und suchte neben dem Studium, das sie nach kurzer Zeit wieder abbrach, ihren Weg zu diesem Beruf und zu finanzieller Unabhängigkeit. Ihre Versuche, in der Zeitschrift auch anspruchs­vollere Texte zu veröffentlichen, wurden abgeblockt. Das mag Inspiration für die Figur der Redaktorin Dr. Alma Windstoss gegeben haben, die Esther im Roman ein eingereichtes Manuskript aus «Platzmangel» zurückgibt:

«Ich fand die Schubladen vollgepfropft mit unerledigten Zuschriften und alten Manuskripten», sagte sie leichthin. Luder, dachte ich.

Louis Berger zeigt mir Fotos seiner Schwester. Ich erzähle ihm, dass ich, siebzig Jahre später, die gleiche Schule besucht habe wie sie. «Affekaschte», Affenkasten also, wurde das damalige Mädchen­gymnasium zu Bergers Zeit im Volksmund genannt. Als ich dort zur Schule ging, erzählte man sich das lachend. Heute finde ich es nicht mehr lustig.

Lore Berger hat Spuren hinterlassen, bei Leserinnen, aber auch bei Schreibenden, die nach ihr kamen. In Friederike Kretzens Werk «Ich bin ein Hügel» von 1998 leuchtet nicht nur die Präsenz von Lore Berger durch – sondern auch die ihrer Natur­beschreibungen. Kretzen, ebenfalls eine Basler Autorin, wandelt Landschafts­bilder in die Vorgänge einer Jugend um, in das Unbehagen und die Lust an der Landschaft, die der eigene Körper ist:

Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, ein Hügel zu werden, und eben das wollte ich lernen. So kam ich eines Tages von den Bergen, und im Kopf sass ein Hügel, den ich mir da hineingesetzt hatte. Und ich sagte: Das wird schon noch, Freundchen. Zuerst wollte ich lernen, wie ein Hügel zu essen und wie ein Hügel zu schlafen. Zu atmen wie ein Hügel wollte ich auch lernen.

Ein paar Jahre zuvor, 1992, streift der Erzähler von Urs Widmers «Der blaue Siphon» nach einem Kinobesuch durch das Basel seiner Kindheit. Die unverhoffte Zeitreise führt ihn zurück zum Bruderholz, wo er aufgewachsen ist. Auf dem Wasserturm begegnet er einer jungen Frau.

Sie ging an mir vorbei, ohne mich zu sehen oder anzusehen, obwohl wir uns, unfreiwillig, fast geküsst hätten, und stellte sich an die Terrassen­brüstung. Hängte sich über sie, als sei sie ein zum Trocknen ausgelegtes Kleidungsstück.

Wenig später wird von einem Todesfall berichtet.

Es genügte mir. Ich verstand sofort. Ich hatte von der Tragödie auch als Kind gewusst. Niemand hatte die Frau, eine Unglückliche, retten können, weder mit guten Worten noch mit Gewalt.

Urs Widmer selbst stand als Fünf­jähriger in der Menschen­traube, die sich am Wasserturm versammelt hatte. Am 14. August 1943 lag dort eine Frau im Gras. Es war Lore Berger, die sich mit dem Sprung vom Wasserturm das Leben genommen hatte. Ein Skandal, über den nicht geredet werden durfte. Und über den doch alle hinter vorgehaltener Hand sprachen.

So ist «Der barmherzige Hügel» Lore Bergers einziges Buch geblieben. Die Lektüre weckt Neugier auf all die Bücher, die nicht mehr geschrieben werden konnten. Eine spätere Lore Berger wäre durchaus als Kriminal­autorin denkbar. In ihrem Roman finden sich zahlreiche Elemente eines Noirs, wie auch Linsmayer in seinem Nachwort 2018 anmerkt. Schon der Startpunkt der Erzählung von Esther und die darauf­folgenden Berichte der Verstorbenen erzählen unweigerlich auf ihren Tod zu. Die personellen Verwicklungen jener Blut­transfusion, welche Esther letztendlich das Leben kostet, sind derart geschickt konstruiert, dass man auf keinen Fall zu viel verraten möchte. Schwarz­humorige Gesellschafts­kritik gibt dem Ganzen den letzten Schliff.

Losgelöst von den Elementen des Kriminal­romans gehören die Natur­beschreibungen und Bergers Fähigkeit, den Rausch der Verliebtheit einzufangen, zu den grossen Stärken der Autorin. Sie rufen Erinnerungen an ihre Zeitgenossin Annemarie Schwarzen­bach wach. Auch von Schwarzen­bach sind sehr frühe Werke erhalten, die «Lyrische Novelle» – oder noch früher, ihr postum veröffentlichtes Fragment «Eine Frau zu sehen». Die Sehnsucht nach einem anderen Menschen wird darin zum Einzigen, was Lebendigkeit auszulösen vermag.

Doch bei allem Glück, Frühwerke lesen zu können, in denen so viel steckt und zugleich noch alle literarischen Wege offenstehen: Die Abwesenheit späterer Werke wiegt schwer. Schwarzen­bach darf man als Leserin zumindest noch ein paar Werke länger begleiten, ihren jungen, schwärmerischen und zugleich abgeklärten Ton dabei verfolgen, wie er sich zu verändern beginnt.

Während die Gewinner des Büchergilde-Wettbewerbs von 1943 lange schon vergessen sind, findet «Der barmherzige Hügel» bis heute seine Leserinnen und Leser. Hartnäckig hält sich dabei die Auffassung, dass allein die Verschränkung von Fakt und Fiktion, die angeblichen Parallelen zwischen Roman­handlung und dem Leben der Autorin, diese stetig wieder­kehrende Begeisterung begründet. So steht auch der abwertende Satz im Eintrag bei Wikipedia bis heute diskussionslos dort.

Ich verlasse Louis Berger, schliesse diese Tür in die Vergangenheit, die sich mir kurz geöffnet hat. Draussen ist das irrste Juli­licht. Ich werfe einen Blick hoch in Richtung Wasserturm, wo die Marathon­lesung stattfinden wird. Kaum etwas anderes als der Text selbst wird je besser belegen können, welcher Dimensionen Lore Bergers Schreiben beraubt wird, indem sie und ihr Werk auf ihren Freitod reduziert werden.

Ich sage:

Man kann ein Buch aus verschiedenen Gründen schreiben, aus Eitelkeit, Armut oder innerer Berufung. Ich selbst verweise für meine Person auf den Sinn eines Satzes, den ich irgendwo aufgeschnappt, wahrscheinlich nur halb verdaut und folgender­massen verstanden habe: Eine Tänzerin tanzt, der Künstler schafft und formt, der Musiker spielt oder setzt Noten: Und dies hat seinen Grund darin, dass sie alle eine Spannung in sich tragen, von der sie befreit sein möchten.

Sagen, Tanzen, Schaffen ist eine Erlösung. Indes dein Lied zum andern geht und er darum weiss, wird etwas in dir frei.

Aus Lore Bergers Vorrede zu ihrem Roman «Der barmherzige Hügel».

Zum Weiterlesen

Lore Berger: «Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas». Reprint. Mit Auszügen aus dem Tagebuch. Heraus­gegeben von Charles Linsmayer. Th. Gut Verlag, 2018. 320 Seiten, ca. 30 Franken.

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