Yael Inokai: Die Autorin belässt in ihrem feinmechanisch gebauten Roman «Ein simpler Eingriff» manches im Unklaren.

Die beredte Kunst der Andeutung

Die gebürtige Baslerin Yael Inokai erzählt in ihrem neuen Roman von einer lesbischen Liebe und von den Abgründen der Medizin­geschichte. Leise, formbewusst und grandios.

Von Daniel Graf (Text) und Stephanie Pfaender (Bilder), 15.02.2022

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Wenn man als Kritiker alles genau anders­herum machen wollte als die Autorin, um die es hier geht, müsste man mit der Tür ins Haus fallen und direkt hinschreiben, dass dies ein besonderes Buch ist. «Ein simpler Eingriff», der dritte Roman von Yael Inokai, gewinnt seine Kraft aus dem Unausgesprochenen, dem Indirekten. Andeutung, die so beredt ist, dass das Wort Andeutung gleich schon wieder nicht recht passt.

Dabei würde manch ein Autor denselben Stoff grell und effekt­hascherisch erzählen, womöglich sogar ins Voyeuristische treiben.

Es geht um ein abgründiges Kapitel der Medizin­geschichte, genauer gesagt der Psycho­chirurgie. Ein gezielter Eingriff ins Gehirn, so lautete einst das Versprechen der Lobotomie, könne die Menschen von Depression, Angst oder Aggression heilen.

Inokai nähert sich dem Thema nicht über die Arzt- oder Patienten­perspektive, sondern aus der Warte der jungen Kranken­schwester Meret (die heute Pflege­fachfrau hiesse). Nach und nach verknüpft sich dieser Erzähl­strang mit der Geschichte einer lesbischen Liebe.

Aber damit ist die Sprech­situation noch nicht präzise benannt. Denn die Erzähl­stimme gehört nicht der jungen Meret, sondern der reiferen Frau und einstigen Kranken­schwester, die sich «wieder als junge Frau im Spiegel» sieht. Und ihre Erzählung ist auch ein Schuld­bekenntnis.

Es war ein simpler Eingriff. Die Nachwirkungen konnten schmerzhaft sein, aber das ging vorüber. Dann fing etwas Neues an. So wurde es mir beigebracht. Daran hielt ich fest.

Aus: «Ein simpler Eingriff» von Yael Inokai.

Meret also als Frau «Mitte zwanzig», pflicht­bewusst, zuverlässig, «ungetrübt von Zweifeln». Seit acht Jahren arbeitet sie in der Klinik, lebt in einem Schwestern­wohnheim am Stadt­rand, doch wie unbehaust sie tatsächlich ist, das weiss der Text genauer als sie selbst. Und verrät es in Natur­bildern, die einen Seelen­zustand spiegeln:

Die Schuhe standen [nach dem Aufstehen] nie da, wo ich sie vermutete, ich trat jedes Mal auf den kalten Boden. Der Schreck schlug in meine Sohlen ein wie ein Blitz. (…)

Ich wusch mir die Hände und klatschte kaltes Wasser auf die Wangen, die Stirn, den Mund, trank, spuckte die Nacht aus, die mir immer pelzig auf der Zunge lag.

Nur die Uniform gibt ihr Sicherheit, Halt, eine Identität. Mit dem Anlegen der weissen Kleidung, dem «Aufsetzen meiner Haube» kommt das Einverständnis mit der «Person, die ich dann wurde».

Anderthalb Jahre zuvor hat der führende Chirurg der Klinik Meret zum ersten Mal «auf ein Wort» in sein Büro gebeten. Sie sei gründlich, liebe die Medizin und glaube an Fortschritt – warum sie nicht dort arbeite, wo der Fortschritt geschehe?

Von den anderen Schwestern hatte sie schon gehört, dass «der Doktor» einen neuartigen, radikalen Behandlungs­ansatz verfolge, «um Menschen von seelischen Störungen zu heilen». Was ihm dafür fehlte, war offenbar nur noch eine empathische Begleiterin für die Patientinnen, die ihnen die Angst nimmt. Und das Vertrauen gibt, dass nach den Eingriffen für sie ein neues, besseres Leben begänne.

So lernte sie eines Tages auch Marianne kennen, «eine Ellerbach», und das hiess: Geld, Stolz und eine «gewisse Anerkennung in der Welt» qua Geburt. Marianne hatte allerdings auch diese Wut in sich, die «grösser war als sie», eine Wut, die Meret nun «zum Schlafen bringen» will, «für immer». Bald zeigt sich: Das sind die schön­färberischen Worte einer Selbst­überschätzung aus Naivität und Idealismus, die der Hybris des Arztes nach­gesprochen sind.

Schon im medizin­historischen Strang ihres Romans erzählt Inokai mit grosser psychologischer Klugheit und in poetisch verdichteten Bildern von den tiefen Ambivalenzen der Empathie, von der Überwindung sozialer Herkunfts­grenzen, von einem patriarchalen System und Gewalt, verkörpert durch Ärzte- und Väter­figuren. Zugleich ist «Ein simpler Eingriff» ein Text, der die Belastungen und Härten der Care-Arbeit ebenso in sprechende Szenen fasst wie die Frage, was es heissen kann, Patientin zu sein:

Wenn die Aussichten schlimm genug waren, versuchten die Leute alles. Sie warfen ihre Vernunft und ihren Verstand über Bord. Sie glaubten Scharlatanen, richteten sich nach den Sternen, begannen zu beten und wechselten den Gott rasch wieder aus, wenn er ihnen nicht zu Hilfe kam.

Dennoch liegt der Kern des Romans ganz woanders: in der Liebesgeschichte.

Es passt bestens zu diesem feinmechanisch gebauten Text, wie Sarah in die Geschichte tritt. Ihr Name ist, nach rund zehn Seiten, der erste überhaupt, der erzählerisch eingeführt wird, noch bevor wir wissen, wie die Haupt­figur heisst, und noch ehe Marianne auftritt, die dem Kapitel den Namen gibt. Doch Sarah, Merets neue Zimmer­genossin im Wohnheim, verschwindet fürs Erste wieder so beiläufig aus der Erzählung, wie sie eingetreten ist. Weil sie nachts und Meret tagsüber arbeitet, bleibt die neue Mitbewohnerin ein Phantom, die grosse Abwesende: «Sie war die Falten in ihrem schluderig gemachten Bett», die «krausen, schwarzen Haare, die auf dem Kopf­kissen und in ihrer Bürste zurück­blieben».

Dann, nach mehreren Wochen, kommt es wieder zu einer Begegnung, als Sarah völlig erschöpft vom Dienst zurück­kehrt. «Endlich sehen wir uns», sagt sie noch, wirft den Mantel ab – und legt sich samt Klamotten ins Bett.

«Schnell schlief sie ein, ihr Atem ging wie eine kleine Dampflok.» Und die Zeilen, die dann folgen, führen vielleicht am eindrücklichsten vor Augen, wie Inokais Kunst des Finger­zeigs funktioniert, worin die hochpräzise Indirektheit ihrer Sprache besteht:

Sie drehte sich ein paarmal hin und her, und dabei rutschte ihr die Decke von den Schultern. Die schwarzen Haare lösten sich nach und nach aus dem losen Knoten, mit dem sie sich schlafen gelegt hatte. Ich wäre nie so ins Bett gegangen. In meinen Strassen­kleidern, mit dem Schmutz des Tages überall an mir dran. Ich hätte sie schütteln wollen, aber ich sah sie nur an.

Als ich irgendwann aufstand, ging ich zu ihrem Bett und zog die Decke über ihre Schulter. Ich legte meine Hand dort ab, nur für einen Augenblick. Da bedeutete es mir nichts. Aber der Augen­blick blieb mir.

«Da bedeutete es mir nichts»: Mit diesem einen Satz, ja eigentlich mit dem Wörtchen «da» ist alles gesagt. Es gibt, dem Wort «Augen­blick» zum Trotz, in diesem Moment keinen Blick­kontakt, keinen Dialog, noch so gut wie keine gemeinsame Geschichte der beiden Frauen. Aber in diesem «da» ist schon die ganze Intensität eines gerade erst aufkeimenden Begehrens enthalten. Die Szene, die im Rückblick erzählt wird, aber dramaturgisch eine Vorweg­nahme bedeutet, holt die Liebe, die erst noch kommt, schon in die Gegenwart. Die erotische Anziehung hat, sprachlich evoziert, bereits Präsenz – sie ist «da».

Und so lässt Inokai dieses Miniwort dann auch von der zeitlichen Bedeutung, diesem verkürzten «damals», wieder zurück­gleiten in ein Wort, das Anwesenheit verbürgt:

… Aber der Augenblick blieb mir. Er ist immer noch da. Ich sitze auf einer Bank, und er ist da. Ich koche einen Kaffee, und er ist da. Ich sehe auf ein Fenster, das im Oktober beschlägt. Und er ist da.

Mit einem verwunderten «Du bist da» von Sarah hatte die Szene übrigens begonnen. Und am Ende des Romans erfährt das Umspielen einer kurzen Silbe noch eine weitere, womöglich etwas zu pathetische Variation.

Wie subtil der Roman jedenfalls in den Details gearbeitet und wie spezifisch diese hochgradig sprach­zentrierte Art des Erzählens ist, tritt umso deutlicher im Vergleich mit anderen Erzähl­weisen zutage.

In der ARD-Mediathek ist seit Ende des vergangenen Jahres die sechsteilige Serie «Eldorado KaDeWe» zu sehen, die sich um das berühmte Kaufhaus des Westens und das Berlin der Zwanziger- und Dreissiger­jahre dreht. Das durch Julia von Heinz inszenierte Epos (das trotz grosser Nähe zu «Babylon Berlin» und eines verkitschten Schlusses wohl zum Bemerkens­wertesten der aktuellen deutschen Serien­produktion gehört) bindet ebenfalls einen fiktionalisierten historischen Stoff mit einer fiktiven Liebes­geschichte zwischen zwei Frauen zusammen. Passend zur Opulenz des Kostüm­films, zum hoch­frequenten Wechsel unterschiedlichster Settings und dem hohen Erzähl­tempo der Serie entsprechend ist auch das Begehren zwischen Hedi und Fritzi in eine Ästhetik der Über­wältigung eingebettet. Ihre Liebe kann nicht lange dramaturgisch vorbereitet werden, sie bricht eruptiv hervor.

Während «Eldorado KaDeWe» in vergleichs­weise kurzer Erzählzeit auf das breite historische Panorama zielt, ist «Ein simpler Eingriff» hoch­konzentriertes Kammer­spiel. Die Ästhetik von Yael Inokai – die selbst in Berlin Drehbuch studiert hat – ist viel eher mit der Film­sprache von Regisseurinnen wie Angela Schanelec, Céline Sciamma oder Christian Petzold verwandt, auch wenn ihr Schreiben wesentlich aus dem Spiel mit dem Wort­material selbst gewonnen ist. (Um nur ein weiteres Beispiel zu nennen: Das Spiel mit dem Wortfeld «Schwester» – von der Kranken­schwester über die Geschwister bis zur feministischen sister – durchzieht das ganze Buch.)

In ihrem hoch­konzentrierten Kammer­spiel lotet die Autorin immer wieder Wortfelder aus.

Trotzdem ist der Blick auf «Eldorado KaDeWe» noch in anderer Hinsicht erhellend. Denn auch die Serie erzählt von einem finsteren Kapitel der Medizin­geschichte.

Fritzi, die fiktive Tochter, die Julia von Heinz der historischen Berliner Unternehmer­familie Jandorf hinzu­erfunden hat, wird in einer Klinik schweren Miss­handlungen durch Elektro­schocks unterzogen: Die Ärztinnen wollen sie von ihrer Homo­sexualität «heilen».

Im Roman von Yael Inokai hingegen gelten die medizinischen «Eingriffe» explizit (angeblichen) Charakter­eigenschaften wie Aggression und Wut. Dennoch stellen sich fast zwangs­läufig auch Assoziationen an pervertierte Behandlungs­methoden ein, die der Verfolgung schwuler und lesbischer Liebe galten.

Im Gespräch mit der Republik verweist Yael Inokai dann auch auf «Le jardin d’acclimatation». Mit diesem Roman hat Yves Navarre das Thema literarisch verarbeitet und damit 1980 den Prix Goncourt gewonnen, die wichtigste Auszeichnung der französisch­sprachigen Literatur. Heute ist das Buch weitgehend vergessen. Hierzulande hatte es ohnehin nie den Erfolg wie in Frankreich. Der deutsche Titel: «Vorbeugender Eingriff».

Um noch einmal einen Bogen zur TV-Serie zu schlagen: Während «Eldorado KaDeWe» historisch konkret verortet ist, gehört es zu den faszinierenden Aspekten von Inokais Roman, dass gar nicht klar ist, wann genau diese Geschichte eigentlich spielt. In der Nachkriegs­zeit, heisst es in Werbe­materialien des Verlags. Das ist nicht unplausibel, will aber vielleicht schon mehr Festlegung als die Autorin selbst.

Ist die Handlung in der Serie zu einem beträchtlichen Teil immer auch historisches Zeitkolorit, verzichtet Inokai nahezu vollständig auf Requisiten, die zugleich Zeitmarker sind. Im Schwestern­wohnheim dient als einzige Verbindung nach aussen ein Flur­telefon; es scheint also gegenüber unserer heutigen Alltags­realität etliche Jahrzehnte in die Vergangenheit zu gehen. Sehr viel mehr Indikatoren wird man allerdings nicht finden – was dem Roman eine gewisse überzeitliche Dimension verleiht.

Klar ist nur: Auch die Liebe zwischen Sarah und Meret steht zumindest anfangs unter dem Gebot der Heimlichkeit. Das Leiden unter einer restriktiven Sexual­moral, das Sich-schuldig-Fühlen der Protagonistin, ihr Gefühl, diese Liebe sogar vor sich selbst rechtfertigen zu müssen, das alles kommt auch bei Inokai zum Ausdruck. Bis die Erzählerin auf halber Roman­strecke – und noch ehe das Klinik­geschehen in die Liebes­geschichte einbricht – eine demonstrative Blick­änderung vollzieht.

Das war die Geschichte der Scham.

Es gab auch eine ohne.

«Ein simpler Eingriff» ist Inokais dritter Roman und trotzdem noch einmal ein Neustart. Mit 23 hat die gebürtige Baslerin, die seit vielen Jahren in Berlin lebt, ihren ersten Roman, «Storchen­biss», im Zürcher Rotpunkt­verlag veröffentlicht. Dort erschien 2017 auch der zweite, «Mahlstrom», ein Text, der von der Kritik hochgelobt und vom SRF als Hörspiel adaptiert wurde und für den sie einen der Schweizer Literatur­preise erhielt.

Mit dem neuen Roman, der diese Woche erscheint, ist Inokai nun auch verlegerisch nach Berlin übergesiedelt, zur dortigen Filiale des Hanser-Verlags, einem der klangvollsten Namen im deutsch­sprachigen Literatur­betrieb.

Schon seit Jahren, so erzählt Inokai im Gespräch, habe sie davon geträumt, Autorin in diesem Haus zu sein, deswegen sei «das alles gerade etwas surreal». Vom Rotpunkt­verlag wegzugehen, wo sie entdeckt wurde und sich einen Namen gemacht hat, das sei trotzdem «eine super­schwierige Entscheidung» gewesen. Nachdem sie gefällt war, musste Inokai ihrer lang­jährigen Lektorin Daniela Koch beichten, dass Hanser Berlin um sie geworben hatte – und dass sie den Verlag wechsle. Mittlerweile ist Koch selbst nicht mehr bei Rotpunkt, sondern baut bei Daniel Kampa das literarische Programm des Atlantis-Verlags auf. Wie es eben so geht im Literatur­betrieb. (Und überall sonst.)

Es lohnt jedenfalls mit Blick auf das neue Buch, noch einmal den Roman «Mahlstrom» daneben­zuhalten. Auch dort waren die einzelnen Kapitel mit Namen überschrieben: So wurde die Geschichte um einen Suizid und ein lange zurück­liegendes Trauma abwechselnd von den verschiedenen Beteiligten erzählt – eine multi­perspektivische Technik, die in der Erzähl­literatur der Gegenwart sehr häufig zur Anwendung kommt.

«Ein simpler Eingriff» ist nur dem äusseren Anschein nach in dieser Form erzählt. Tatsächlich bleibt die Erzählerin immer dieselbe. Die Personen, deren Namen den Kapiteln voranstehen, sind hier nicht die Schauenden, sondern die Angeschauten: Marianne, Sarah – und schliesslich Meret, die jüngere Version ihrer selbst.

Lässt sich so mit einer Stimme erzählen und doch aus verschiedenen Warten auf die Geschichte blicken? Weil der eigene Blick sich jeweils an einer anderen Spiegel­figur bricht? Das ist vielleicht eine etwas zu forcierte Konstruktions­idee, um vollständig aufzugehen. Der Eindringlichkeit dieser Prosa tut dies allerdings keinerlei Abbruch.

Zum Buch

Yael Inokai: «Ein simpler Eingriff». Hanser Berlin 2022. 192 Seiten, ca. 32 Franken.

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