Serie «Endlich Sommer!» – Folge 1

Unten ist das Spiel, oben geht es um alles: Ein Golfplatz in der spanischen Exklave Melilla an der marokkanischen Mittelmeerküste (aufgenommen im Oktober 2014). Jose Palazon/Reuters

Mein Sommer riecht nach Kokos-Sonnen­milch und erinnert mich an den Tod

Ferien auf der «falschen Seite» des Mittelmeers haben Mohamed Amjahid politisiert. Auftakt zur Serie «Endlich Sommer!».

Von Mohamed Amjahid, 17.07.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
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Im Sommer überkommt mich eine wohlige Ruhe, eine hedonistische Selbst­fürsorge, die nach synthetischer Kokos-Sonnenmilch duftet und sich mit schmerzvollen Erinnerungen und einem schlechten Gewissen vermischt. Das hat mit meiner Biografie zu tun.

Ich hatte schöne Sommer in Marokko, wo ich zum grössten Teil aufwuchs. Zwischen Juni und September lebte ich streckenweise nur von Wasser­melonen, frischen Milk­shakes und Sonne.

Ganz wichtig beim Thema Milk­shake: Da gehören nur direkt an der Pflanze voll gereifte Früchte und kalte, fettarme Milch rein. Sonst nichts. Kein Eis, kein Zucker, keine künstlichen Aromen, keine ausbeuterischen Produkte aus dem Hause Nestlé. Aber das nur am Rande.

Doch während meiner Jugend in Marokko konnte ich aus der Nähe beobachten, dass nicht alle Menschen das Privileg haben, diese schönste Jahreszeit zu geniessen und am Strand ihre Gedanken auf den Wellen schweben zu lassen.

Als Jugendlicher war ich ein wenig verbittert. Denn meine Eltern hatten sich als ehemalige sogenannte Gastarbeiterinnen entschieden, ihre jahrzehnte­lange Gästerolle in Deutschland ernst zu nehmen und Mitte der Neunziger­jahre zu gehen. Die Stimmung, das Essen, das Wetter in Europa waren schlecht. Marokkanische Sommer hingegen boten absolute Sonnen­garantie. An ihrem Ursprungs­ort bauten sie sich eine neue Existenz auf mit Haus, Identität und sozialen Netzwerken in Familie und Nachbarschaft. Mir und meinen beiden Schwestern gefiel diese harte Lebens­entscheidung gar nicht. Ich war im Sommer 1995 sieben Jahre alt, als wir nach Marokko zogen. Ich sprach damals nur Deutsch. Bis zur Einschulung im September 1995 lernte ich fliessend Arabisch.

Serie «Endlich Sommer!»

Die Tage sind lang, die Strassen belebt, die Abende gemütlich – das gute Leben halt. Aber ist es das wirklich? Vier Autorinnen an unterschiedlichen Orten der Welt und mit verschiedenen Perspektiven darauf schreiben darüber, was der Sommer bei ihnen persönlich auslöst. Zur Übersicht.

Sie lesen: Folge 1

Kokos-Son­nen­milch und Tod

Folge 3

Manchmal gehört er mir, mein Körper

Folge 4

Wie ich lernte, die Sonne zu geniessen

Am Anfang war das alles noch irgendwie okay, aber Sommer für Sommer wuchsen meine Zweifel.

Am schmerzvollsten war jeweils die Ankunft der marokkanischen Diaspora im Juli während der grandes vacances, der grossen Ferien. Dann stauten sich neu erstandene Gebraucht­wagen mit deutschen, französischen, spanischen, italienischen und schweizerischen Kenn­zeichen auf den engen Strassen und Parkplätzen marokkanischer Städte und Dörfer. Die Kinder aus der Diaspora waren verzogen, und ihre Eltern boten ihnen alles, was sie wollten und was halt so drin lag – eigentlich so wie unsere Eltern uns auch. Trotzdem gab es die dial kharij, so nannten wir die Kinder aus dem Ausland – und es gab uns. Dabei war ich selbst jemand, der mal im Ausland gelebt hatte. Meine Freundinnen bewunderten mich ein bisschen dafür und verstanden nicht, warum sich meine Eltern für diese Seite des Mittel­meers entschieden hatten – die «falsche Seite».

Was mich am meisten störte, war die Freiheit, die die Kinder aus dem Ausland genossen. Eine Freiheit, die wir in Marokko, in Afrika, in anderen Gegenden dieser Welt nicht hatten: die Reisefreiheit.

Es ergibt im Leben eines 14-Jährigen keinen Sinn, dass die einen theoretisch Urlaub in fast jedem Land dieser Welt machen dürfen und man selbst mit einer schwachen Staats­bürgerschaft die eigene Landes­grenze nicht überwinden kann. Man kann diese Ungerechtigkeit einem 14-Jährigen nicht schlüssig erklären. Weil sie ja tatsächlich sinnlos ist.

Das Satelliten­fernsehen und das frühe Internet öffneten uns Fenster in eine weite Welt, die wir real nie besuchen durften und die ausser Reichweite schien. Mit der falschen Passfarbe durftest du nicht nach Disney­land in Paris, nicht ans Brandenburger Tor in Berlin und nicht in die Schweizer Alpen reisen. Ich durfte bei 39 Grad im elterlichen Wohnzimmer über Satellit im Früh­programm von 3sat schnee­bedeckte Berge bestaunen, der Berg der postkolonialen Ungerechtigkeit allerdings schien unüberwindbar.

Einige in meinem Umfeld wollten das nicht auf sich sitzen lassen.

Je älter ich wurde, desto mehr Mitschüler verschwanden über den Sommer. Sie setzten sich in Boote, vertrauten sich Schleusern an, verkauften sich an den ausbeuterischen Arbeits­markt in Europa oder den Golf­staaten, um sich den Traum vom grenzenlosen Reisen zu erfüllen. Bei jedem Schulstart am Gymnasium fragten wir uns, ob sie es wohl geschafft hatten. Von den meisten hörten wir nie wieder, manche schickten ein Lebens­zeichen aus Madrid, Marseille oder Lausanne. Die Sommer­ferien waren die Zeit, in der junge Menschen für ein wenig Gerechtigkeit ihr Leben riskierten. Diese Sommer­ferien haben mich über die Jahre politisiert.

Ich erinnere mich an unsere Reisen ans Mittelmeer oder an den Atlantik. Uns ging es mit der Rente meines Vaters relativ gut. Ich würde sagen: Wir gehörten der unteren Mittel­schicht an. Mein Vater war stets verschuldet, aber er hatte zumindest das Privileg, Schulden aufnehmen zu können, um einen gewissen Lebens­standard aufrecht­zuerhalten.

Der Sommer­urlaub gehörte dazu, mal als Familie, mal als Vater-Sohn-Ausflug.

Manchmal hielten wir in den tristen, damals schon wegen des Klima­wandels nach Wasser und Leben lechzenden Wäldern an und reichten den Geflüchteten, die sich dort versteckten, eine Dose Zucker­wasser oder ein Stück Melone. In mein Gedächtnis hat sich eine kurvige Strasse eingeprägt, unweit der spanischen Exklave Melilla, vertrocknete Bäume links und rechts. Hinter ihnen lugten die Körper schwarzer Menschen hervor, sie wurden über Grenzen geschubst und wieder zurück und warteten geduldig, dass ihnen jemand ein paar Münzen oder Lebens­mittel reichte. Damals verstand ich nicht, was das sollte. Heute blicke ich mit einem schlechten Gewissen auf diese Zeit.

Wir versteckten uns nicht im Wald. Mein Vater lieh sich Geld und bezahlte fett Schmier­gelder, damit wir mit unseren marokkanischen Pässen einen Tag in Melilla verbringen durften. Wir Kinder rebellierten, weil wir nicht verstanden, warum wir in diesem Gefängnis namens «Heimat der Eltern» gelandet waren, und mein Vater wollte beweisen: Schaut, ein bisschen Reise­freiheit liegt doch noch drin.

Es gibt ein Bild von uns drei Geschwistern, in dem wir mit geröteten Gesichtern an der Flanier­meile von Melilla stehen – glücklich und erschöpft. Endlich mit einem Fuss in der selbst ernannten «ersten Welt».

Die Geflüchteten blieben draussen in den Wäldern und warteten auf Leute wie uns, die ihnen auf der Rückfahrt vielleicht ein hart gekochtes Ei oder eine Tafel angeschmolzene spanische Schokolade aus dem Auto schmissen.

Seitdem ist die Abschottung noch krasser geworden. In Nord­afrika ist der antischwarze Rassismus auf einem Allzeit­hoch, die demokratisch geformte Stimmung gegen Flüchtende ist aus Europa auf die andere Seite des Mittel­meers übergeschwappt. Und das, obwohl genug Nord­afrikanerinnen selbst weiter in Boote steigen, sich in Wäldern verstecken, Schleusern anvertrauen, um ihre Träume zu verwirklichen und Schutz zu suchen.

Inzwischen bin ich nach Deutschland zurückgekehrt – zunächst fürs Studium und mit unheimlich viel Aufwand. Jedes Mal, wenn ich – meist im Sommer – wieder in Marokko bin, beobachte ich eine weitere Radikalisierung dieser europäischen Abschottung, mit der zentral­europäische Länder wie Deutschland, Österreich oder die Schweiz viel mehr zu tun haben, als sie gerne vorgeben.

Mit meinem hart erarbeiteten deutschen Pass schleuste ich mich noch vor Beginn der Pandemie an der Grenze zu Melilla durch einen Parcours von Zäunen und Gittern. Dort, wo regel­mässig die reglosen Körper der Geflüchteten auf dem harten Boden aufprallen, wenn sie beim Überwinden dieser Zäune abgeschossen werden. Marokkanische Grenz­beamte scannten meine Dokumente mit Geräten, auf denen das Logo der deutschen Bundes­druckerei prangte. Und ich musste mich an diesen Sommer erinnern, in dem wir uns als naive Kinder etwas Würde geholt hatten mit ein paar Stunden Aufenthalt in der Europäischen Union.

Als ich im Gymnasium war, wollte ich meine älteste Schwester in Deutschland besuchen, sie hatte es als Erste von uns drei Geschwistern mit sehr viel Schmerz und Aufopferung wieder auf die «gute» Seite des Mittel­meers geschafft. Ich wollte mich mit einem Sommer in Deutschland für meine guten Schul­noten belohnen. Heute finde ich es absurd, einen Sommer in Deutschland verbringen zu wollen.

Ich erinnere mich, wie ich mit meinen Eltern vor der deutschen Botschaft in Rabat in der Warte­schlange stand. Schon ab vier Uhr morgens versammelten sich die Antrag­stellerinnen auf dem schmalen Trottoir vor dem Tor. Ein marokkanischer Botschafts­mitarbeiter trat kurz vor acht Uhr heraus und schlug mit einem langen Olivenzweig auf uns ein: «Benehmt euch wie Deutsche und wartet in einer geraden Linie!»

Gegen zehn Uhr war endlich ich an der Reihe. Ich wurde in einen kleinen Raum gebeten, wo man mich fotografierte und ich schriftlich bestätigen musste, dass ich weder «Mitglied in einer terroristischen Vereinigung» sei, noch «Anschläge von Saudiarabien oder Afghanistan aus» plante.

Die deutsche Sach­bearbeiterin sah sich meinen Antrag an und hob dabei demonstrativ ihre linke Augenbraue. Als Grund für meinen Visums­antrag gab ich «Tourismus» an. Ich würde wieder nach Marokko zurückkehren, um mein Abitur zu machen.

«Sie haben keinen Anspruch auf Rück­erstattung der Gebühren», sagte sie, und ich hoffte, dieser Satz sei lediglich Teil der skurrilen Formalitäten.

Nachdem ich meinen Pass samt Antrag abgegeben hatte, warteten wir wieder stunden­lang auf dem Trottoir vor der Botschaft. Kurz vor 18 Uhr bekam ich kommentarlos über ein kleines Fenster meinen grünen marokkanischen Reisepass zurück. Ohne Visum. Dafür aber mit einem fast unlesbaren, weil kontrastarm kopierten Infoblatt.

Darauf stand: «Mögliche Gründe für Ihre Ablehnung: Männer zwischen 12 und 55 Jahren bekommen in der Regel kein Touristen­visum.»

Ich zerknüllte den Zettel, wischte mir damit die Tränen weg und schmiss ihn auf dem Nachhause­weg aus dem Auto in die Kork­wälder Marokkos, wo die Flüchtenden auf eine Chance warteten, endlich ein Leben in Würde und Freiheit zu beginnen.

Als im Sommer 2005 mein Antrag auf ein Schengen-Visum abgelehnt worden war, machten wir Urlaub an der Atlantik­küste in Marokko und in Marrakesch. Ich roch nach Kokos-Sonnenmilch, trank viele Milk­shakes und war dennoch untröstlich. Nach den Sommer­ferien fehlten in meiner Schulklasse wieder ein paar Jungs und Mädchen, sie sahen keinen Sinn darin, im Abitur durch- und in die Arbeits­losigkeit hinein­zufallen. Beim Schulstart log ich alle an. Ich sagte: «Der Sommer in Europa war schön.»

Zum Autor

Mohamed Amjahid ist freier Journalist und Autor, unter anderem für den «Spiegel» und die TAZ. Er arbeitete als Reporter für die «Zeit» und das «Zeit Magazin». Von ihm erschienen sind die Sachbücher: «Unter Weissen» (2017), «Der weisse Fleck» (2021) und «Let’s Talk About Sex, Habibi» (2022).

Sie lesen: Folge 1

Kokos-Son­nen­milch und Tod

Folge 3

Manchmal gehört er mir, mein Körper

Folge 4

Wie ich lernte, die Sonne zu geniessen