Serie «Endlich Sommer!» – Folge 2

Die ideale Temperatur liegt bei 15 bis 20 Grad: Im Wasser treiben wie ein Blatt. Fabian Hugo

Am liebsten würde ich einen Sommerschlaf machen

Dem Körper fehlt Melatonin, am schönsten ist es im Hallenbad. Diese Jahreszeit ist nie, wie wir sie uns vorstellen – weder an der Aare noch in Kosovo. Serie «Endlich Sommer!», Folge 2.

Von Meral Kureyshi, 25.07.2023

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Vorgelesen von Regula Imboden
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Heute ist der 22. Juni. Der erste Tag seit langem, an dem ich wieder draussen sitzen kann. Ohne Hut, ohne Sonnen­creme, mit klarem Kopf. Die Sonne brennt nicht auf der Haut. Es ist bewölkt, kühl, manchmal fallen sogar ein paar Regen­tropfen. Ich schwitze nicht, die Haut fühlt sich trocken und kalt an.

Im Sommer haben wir weniger Melatonin im Körper, das aus Serotonin produziert wird und den Tag-Nacht-Rhythmus steuert.

Diese hormonelle Veränderung hat Auswirkungen auf meine Arbeit, die Konzentration und meine Aufmerksamkeits­spanne. Ich kann nicht klar denken. Wenn es heiss ist, bin ich müde und antriebslos.

Dann denke ich wieder an Ruth. Ich wollte mich bei ihr melden, mit ihr Kaffee trinken und noch über so vieles sprechen. So waren wir verblieben, als ich sie das letzte Mal sah.

Jetzt ist es zu spät.

Ein paar Tage nach der Beerdigung sass ich auf einer Bank an ihrem Grab und sie hat nicht geantwortet. Ich wollte nicht weinen.

In der Zeitung lese ich über das U-Boot und die fünf Abenteurer, die vermisst sind im Atlantik.

Gleichzeitig ertrinken über 600 Migrantinnen im Mittelmeer, das steht in der kleinen Spalte daneben. Seit 2014 sind 27’000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Frauen und Kinder waren gezwungen, unter Deck auszuharren. Gefangen, als das Schiff sank.

Wer entscheidet über den Wert von Katastrophen? Als wären sie Netflix-Serien. Was mehr Zuschauer bindet, darf weiter­geschrieben werden. So einfach ist es.

Welche ist die bessere Geschichte?

Meine Freundin, sie sitzt mir gegenüber, zieht sich sogar etwas über die Schultern, da sie friert. Sie musste sich den Hautkrebs von der Nase wegoperieren lassen. Seither kaufe ich mir den höchsten Schutz­faktor, aus Angst vor der Sonne und dem Krebs.

Unsere Eltern haben sich in ihrer Jugend nie den Kopf über so etwas zerbrochen. Nicht einmal uns Kinder haben sie eingecremt.

Ich weiss noch genau, wie ich die abgestorbene Haut an meines Vaters Schultern entfernte, am Strand in Griechenland. Sich zu verbrennen, das war ganz normal im Sommer. Mein Vater ist nicht an Krebs gestorben, sein Herz hat plötzlich aufgehört zu schlagen.

Bitte weine nicht, sonst muss ich auch, sagt meine Freundin und nimmt mir die Zeitung aus der Hand. Dann schreit sie die Menschen am Neben­tisch an, die mit dem U-Boot mitfiebern, ganz aufgeregt und gespannt, was passieren wird in der nächsten Staffel. Die grosse Suche beginnt.

Serie «Endlich Sommer!»

Die Tage sind lang, die Strassen belebt, die Abende gemütlich – das gute Leben halt. Aber ist es das wirklich? Vier Autorinnen an unterschiedlichen Orten der Welt und mit verschiedenen Perspektiven darauf schreiben darüber, was der Sommer bei ihnen persönlich auslöst. Zur Übersicht.

Sie lesen: Folge 2

Am liebsten jetzt ein Som­mer­schlaf

Folge 3

Manchmal gehört er mir, mein Körper

Folge 4

Wie ich lernte, die Sonne zu geniessen

Wir verlassen das Lokal. Noch gestern hätten wir uns das nicht denken können, dass es heute regnen soll und wie es sich anfühlt, der kühle Wind und die Tropfen. Wie wir uns nicht denken können, dass es jemals wieder schneien könnte. Oder wir wieder Socken tragen müssen in den Schuhen. Banale Gedanken als Ablenkung vom grossen Schmerz, der nicht auszuhalten scheint.

Jedes Jahr dasselbe. Wir vergessen so schnell und gewöhnen uns noch schneller an das, was ist.

Ausblenden, um weiterzumachen.

Im Vergessen bin ich gut. Ich erfinde mir die Gestern und glaube sie, solange ich sie ausspreche. Dann behaupte ich mir die Morgen und bin erstaunt darüber, wie schlecht ich sie mir ausmale. Alles kommt immer anders. Und ich bin enttäuscht, immer wieder enttäuscht. Aber auch nur, weil ich mir etwas vorstelle, wie es sein soll, und es dann nicht so ist. Ein Dilemma.

Im August verlieben sich laut einer Studie die meisten Menschen, sagt meine Freundin, als Ablenkung. Wir können in dem Moment nicht über ihren Krebs oder die vielen toten Menschen sprechen.

Vielleicht verlieben sich die Menschen im August, weil der Kopf zu Matsch wird, der die Gedanken verschluckt, sage ich.

Sie versucht zu lachen, es gelingt ihr nicht besonders gut.

Ich verliebe mich nur, wenn es schneit, füge ich hinzu.

Cortisol ist ein Stress­hormon, das morgens ausgeschüttet wird und über den Tag abgebaut.

So fühlt sich bei mir der Sommer an. Ich kann mich nicht an ihn gewöhnen.

Im Sommer gehe ich normaler­weise im Hallen­bad schwimmen, da ist niemand und die Sonne draussen.

Von oben kann man den Boden des Beckens sehen.

Der Bade­meister begrüsst mich immer freundlich und ich sage nur ein kurzes Hallo. Draussen zieht die Hitze an den kleinen Fenstern vorüber. Die Luft flimmert.

Die Treppen führen hinunter zu den Garderoben, ich nehme mir immer dasselbe Schliessfach mit der Nummer 327, gleich bei den Spiegeln. Nach dem Duschen, vor dem Schwimmen, friere ich etwas, auch beim Betreten des warmen Wassers. Die Brille beschlägt so schnell, dass ich mir keine Sorgen machen muss, welche Substanzen im Wasser aufzufinden sind. Ich stelle mir nie vor, was alles im Wasser schwimmen könnte, was ich mit blossem Auge nicht sehen kann. Unter Wasser gebe ich manchmal Geräusche von mir, in der Hoffnung, niemand höre es.

Heute gehe ich nicht ins Hallenbad. Heute lege ich mich in die kühle Aare und lasse mich treiben auf ihrer Oberfläche, wie ein Blatt. Die Brücken ziehen an mir vorbei, ganz langsam, und legen ihren Schatten auf meinen Körper.

Das thermische Optimum des Menschen liegt zwischen fünfzehn und zwanzig Grad. Herzversagen und Schlag­anfälle steigen mit jedem zusätzlichen Grad, lese ich auf meinem Telefon.

Im Hitzesommer 2003 starben in der Schweiz 975 Menschen mehr als üblich.

Natürlich haben die Jahres­zeiten einen Einfluss auf unseren Körper und auf unsere Psyche.

Nach einem langen Winter freuen sich alle auf den Sommer, der kommt auch, aber am Ende bin ich meistens enttäuscht, ich erwarte immer mehr von ihm. Vordergründig wirkt der Sommer schön und vital, doch seine Gefahren sind nicht zu unterschätzen.

Jedes Jahr ertrinken Menschen in der Aare. Sie werden gesucht und herausgefischt. Letztes Jahr war ich zufällig dabei, als eine junge Frau aus dem Wasser gezogen wurde. Sie war grün.

Der Sommer wird nie werden, wie wir ihn uns vorstellen.

Viele fahren in Urlaub, finden das Wetter schön und wollen es noch heisser haben im Süden bei vierzig Grad.

Die Bauarbeiter, sie bleiben zurück und verwandeln die Städte zu Baustellen. Sie reissen den Boden auf und zeigen, was sonst verborgen ist. Der Herbst trägt auf seiner Haut kleine Narben davon.

Es ist laut, es ist staubig, es ist heiss.

Anders als in der Schweiz war der Sommer in Prizren nicht auszuhalten. Mit zehn Jahren kam ich nach Bern und bin seither nur einmal im Sommer an meinen Geburtsort nach Kosovo gegangen.

Die Besucher im Sommer beleben die Wirtschaft jedes Jahr für einige Monate, womit die Menschen dort das ganze Jahr auskommen.

Immer noch dieselbe Musik in den Taxis, dieselben Filme im Fernseher, nur dass diese flach sind und nicht mehr unendlich tief. Dasselbe Essen, derselbe Geruch, wie immer.

Tausende von Euros werden für die Hochzeiten ausgegeben, sie finden immer im Sommer statt, in für sie angefertigten Palästen.

Im Sommer lebt die Stadt nur am Abend, am Tag schläft sie.

Der Fluss ist ausgetrocknet, wie die Felder. Das Grün silbern und die Sicht trüb.

Am liebsten würde ich einen Sommer­schlaf machen, nicht wie die Bären. Erwachen, wenn die Hitze vorüber ist, die Farben wieder farbig werden, die Regentropfen kalt.

Wir verbrennen Kalorien und schaffen somit Wärme. Die Hitze abzubauen ist nicht einfach für unseren Körper. Natürlich kann er Blut an die Peripherie pumpen, dort verliert sich Wärme, doch nicht bei hohen Temperaturen. Es braucht viel mehr Energie, den Körper zu kühlen, als ihn zu wärmen. Es wäre doch ganz sinnvoll, im Sommer zu schlafen, in der beliebtesten Jahreszeit.

Ja, die Abende sind schön, wenn die unzähligen Mücken nicht wären. Die Wälder so üppig und grün, wenn da die Zecken nicht wären.

Gestern blieb ich den ganzen Tag drinnen. Die Hitze zwang mich dazu. Ich habe gelesen und auf den Abend gewartet. Eigentlich wollte ich auf der Dach­terrasse essen. Das war auch am Abend noch nicht möglich. Die Pflanzen brauchen jeden Tag Wasser, sonst überleben sie nicht.

Es ist Sommer, es regnet. Diesen Sommer­regen könnte ich vermissen, wenn ich ihn verschlafen würde.

Niemand sonst ist in der Aare. Die kühlen Tropfen verändern die glatte Wasser­oberfläche in eine Mond­landschaft mit lauter Löchern. Wie Schnee fallen sie aus den Wolken über mir auf mein Gesicht.

Ich halte die Luft an, als ich mir vorstelle, wie es sein könnte, zu ertrinken, hinunter­gerissen zu werden und zu sterben.

Die Steine unter mir knirschen, meine Augen sind geschlossen. Das Wasser trägt mich. Ich mache einen Engel auf seiner Oberfläche, doch er verschwindet gleich wieder, als hätte mich das Wasser nie getragen.

Ich friere etwas, als ich aus dem Wasser steige, und werfe einen Stein in den Fluss, der nun nie mehr sein wird, wie er einmal war.

Auch wenn das Wasser weiterfliesst, immer ruhiger wird und ins Meer mündet, wo es diesen Stein vergessen wird.

Aber der Stein wird etwas verändern. Die Oberfläche erholt sich vielleicht. Doch der Stein hat bereits etwas verändert. Er ist jetzt da, wo er nie war.

Das Wasser muss darüberfliessen.

Diese Kühle wäre nicht so schön ohne die Qual der Hitze.

Zur Autorin

Meral Kureyshi, 1983 in Prizren im ehemaligen Jugoslawien (heute Kosovo) geboren, kam 1992 mit ihrer Familie in die Schweiz und lebt in Bern. Sie studierte Literatur und Germanistik, gründete das Lyrik­atelier und arbeitet als freie Autorin. Ihre beiden Romane «Elefanten im Garten» (2015) und «Fünf Jahreszeiten» (2020) sind im Limmat-Verlag erschienen.

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