«V» für Victory? Jewgeni Prigoschin spricht am 25. Mai 2023 zu seinen Truppen, die sich nach dem Vordringen der ukrainischen Streitkräfte aus Bachmut zurückziehen mussten. UPI Photo via Newscom/Keystone/Press service of Prigozhi

Die Meuterei von Putins Koch

Der Aufstand der Söldner­armee zeigt: Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin hat im System Putin so stark an Einfluss verloren, dass er zum Angriff überging. Er ist gescheitert. Aber der gedemütigte Kreml­herrscher wird jetzt noch unberechenbarer.

Von Ivan Ruslyannikov, 26.06.2023

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Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Der seit langem schwelende Konflikt zwischen Jewgeni Prigoschin, dem Leiter der russischen Privat­armee Wagner, und dem russischen Verteidigungs­ministerium eskalierte am vergangenen Freitag­abend. Prigoschin behauptete, dass Raketen­angriffe auf das Lager von Wagner-Kämpfern erfolgt seien, die vom russischen Verteidigungs­minister Sergei Schoigu persönlich genehmigt worden seien. Daraufhin erklärte Prigoschin, dass «25’000 Menschen nach Moskau gehen werden, um heraus­zufinden, warum es eine solche Gesetzlosigkeit im Land gibt». Die russischen Soldaten forderte er dazu auf, sich der Wagner-Armee anzuschliessen.

Die Reaktion des Kremls liess nicht lange auf sich warten: Der Geheimdienst FSB eröffnete ein Straf­verfahren gegen Prigoschin wegen Aufrufs zum bewaffneten Aufstand. Präsident Putin veröffentlichte am Samstag­morgen eine Videobotschaft, in der er Prigoschins Handeln als Verrat bezeichnete und versicherte, dass alle Beteiligten bestraft würden. «Dies ist ein Schlag in den Rücken unseres Landes und unseres Volkes», sagte Putin.

Als der Konvoi der aufständischen Söldner am Samstag­abend noch etwa 200 Kilometer von Moskau entfernt war, verkündete Prigoschin urplötzlich, dass er den «Marsch der Gerechtigkeit» stoppen würde. Er soll einen Anruf des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko erhalten haben, der ihm eine Art «Sicherheits­garantie» versprach. Putins Presse­sprecher Dmitri Peskow erklärte, dass das Straf­verfahren gegen Prigoschin eingestellt werde.

Wie war ein solcher Coup-Versuch überhaupt möglich? Welche Bedeutung hatte Prigoschin bisher im System Putin? Und was bedeutet das alles für den Angriffs­krieg gegen die Ukraine?

Kellner für Wladimir Putin

Vor dem Krieg in der Ukraine 2014 war Prigoschin als «Putins Koch» bekannt. 1990 wurde der ehemalige Häftling aus dem Gefängnis entlassen, in dem er fast 10 Jahre lang wegen Diebstahls, Betrugs und anderer Vergehen inhaftiert gewesen war. Damals eröffnete er seine erste Hot-Dog-Kette in Sankt Petersburg. «Der Senf wurde in meiner Wohnung produziert. In der Küche, wo meine Mutter auch die Einnahmen zählte. Ich verdiente 1000 Dollar pro Monat, das war ein Berg von Rubeln», erinnerte sich Prigoschin.

1996 eröffnete er sein erstes Restaurant «Alter Zoll», das sich in erster Linie an Kunden mit viel Geld richtete. Im Frühjahr 1998 folgte die Einweihung des Restaurants «New Island», das zu einem beliebten Ziel für die finanzielle und politische Elite wurde. Laut dem Magazin «Forbes» kaufte Prigoschin damals ein altes Motorschiff für 50’000 Dollar, renovierte es für 450’000 Dollar und richtete dort sein schwimmendes Restaurant ein. Natürlich verkehrte auch Wladimir Putin, der in den 1990er-Jahren in der Sankt Petersburger Verwaltung arbeitete und von 1992 bis 1996 Vize­bürgermeister der Stadt war, in diesem Restaurant.

Im Sommer 2001 lud Putin, inzwischen das russische Staats­oberhaupt, den französischen Präsidenten Jacques Chirac auf das schwimmende Restaurant ein. Prigoschin bediente die Präsidenten persönlich. «Wladimir Putin sah, dass ich mir nicht zu schade war, persönlich einen Teller zu servieren», erzählte Prigoschin stolz. Im Mai 2002 assen Putin und der damalige US-Präsident George W. Bush an Bord der «New Island» zu Mittag. Das Menü bestand aus Entenleber­pastete und Lebkuchen, schwarzem Kaviar auf Eis, gegrilltem Rinderfilet mit schwarzen Trüffeln und frischen Morcheln. Im Herbst 2003 feierte Putin seinen Geburtstag auf der «New Island».

Die Bekanntschaft mit dem russischen Präsidenten sollte sich auszahlen für den späteren Chef der Wagner-Gruppe. Im Jahr 2010 eröffnete er die Lebensmittel-Fabrik Concord und begann im Rahmen von Regierungs­vereinbarungen mit Lieferungen an Moskauer Schulen und Kinderheime. Nach Berechnungen der «Nowaja Gaseta» erhielt er seit 2011 Aufträge im Wert von 184 Milliarden Rubel, umgerechnet 2 Milliarden Franken. (Die Qualität dieser Speisen war allerdings fragwürdig: 2017 fand ein Drittklässler ein Stück Glas in einem Muffin. Wenig später lieferte Prigoschins Unternehmen ein Fass Griessbrei in eine Schule, in dem auf der Oberfläche eine Kakerlake schwamm.)

Der Gründer der Trollfabrik

Aber nicht nur in der Gastronomie und Lebensmittel­industrie war Prigoschin Putins verlässlicher Zulieferer. In den 2010er-Jahren wurde er beauftragt, in Eigenregie die «Drecksarbeit» für die Russische Föderation zur Wahrung innen- und aussen­politischer Interessen zu erledigen: Einmischung in die Wahlen in Deutschland, USA und Frankreich, Anschläge auf Oppositionelle im Exil, Konsolidierung des russischen Einflusses in afrikanischen Ländern.

Im Jahr 2013 gründete Prigoschin die Internet­agentur IRA, die im Auftrag des Kremls digitale Desinformations­kampagnen durchführte. Die geschaffene digitale Kommunikations­infrastruktur diente gleichzeitig der Diskreditierung der russischen Opposition und der Spaltung und Destabilisierung des Westens. Mittels Tausender von Fake-Konten in den wichtigsten sozialen Netzwerken, Foren und Video-Hosting-Seiten verbreiteten bezahlte Angestellte kremlfreundliche Propaganda sowohl im Inland als auch im Ausland. Während einer 12-Stunden-Schicht veröffentlichten die Mitarbeiter durch­schnittlich 135 bis 141 Kommentare zu einem bestimmten Thema, die jeweils mindestens 200 Zeichen umfassten.

Im Jahr 2018 beschuldigte das US-Justiz­ministerium Prigoschins IRA, sich in die US-Präsidentschafts­wahlen von 2016 eingemischt zu haben. Auch Facebook-Gründer Mark Zuckerberg räumte nach internen Unter­suchungen ein, dass es digitale Beeinflussungs­versuche durch den Kreml auf Facebook gegeben hatte. In der Anklage­schrift wurde der Vorwurf erhoben, dass Mitarbeiter der Agentur falsche Informationen in den sozialen Netzwerken veröffentlichten, politische Werbung schalteten, Strassen­aktionen organisierten und Kontakt zu den Mitarbeitern von Donald Trumps Wahlkampf­team aufnahmen. Die Aufarbeitung dieses Kapitels dauert bis heute an: Im Sommer 2022 setzte das US-Aussen­ministerium eine Prämie von bis zu 10 Millionen Dollar für Informationen über Prigoschins Einmischung in die US-Wahlen aus.

Der Fünfte nach Putin

Schon vor dem Krieg in der Ukraine 2014 hatte Jewgeni Prigoschin eine wichtige Stellung in Putins Vertrauten­kreis inne. Mit der Gründung der Wagner-Gruppe im Jahr 2014 baute er seine Macht­position noch einmal aus. Dabei blieb Prigoschin lange Zeit stets im Hintergrund.

Prigoschins neue Privatarmee war 2014 in den bewaffneten Konflikten im Donbass und 2015 am Syrien-Konflikt beteiligt. In zehn afrikanischen Ländern hat die Wagner-Gruppe lokalen Führern politischen Rat und Schutz gewährt, im Gegenzug erhielt sie Zugang zu natürlichen Ressourcen und Schürf­rechten. Die Kriegsaktionen der Wagner-Gruppe im Namen der Russischen Föderation sollten jedoch ein Geheimnis bleiben: Als die unabhängigen russischen Journalisten Orkhan Dzemal, Alexander Rastorgujew und Kirill Radtschenko vor Ort zu recherchieren begannen, was die Wagner-Mitarbeiter etwa in der Zentral­afrikanischen Republik konkret tun, hatte dies tödliche Folgen: Sie wurden alle drei ermordet.

Um seinen Truppenbestand für den Krieg in der Ukraine zu erhöhen, erhielt Prigoschin im Sommer 2022 besondere Befugnisse: die Rekrutierung russischer Gefangener. Prigoschin flog persönlich mit dem Helikopter von Gefängnis zu Gefängnis. Die Bedingungen, die er den Gefangenen anbot: ein Vertrag mit der Wagner-Armee für ein Jahr, die Verwandten erhalten das Gehalt. Der Versuch, von der Front zu fliehen, wird mit der sofortigen Hinrichtung bestraft. Wenn der Straftäter seinen Einsatz jedoch überlebt, wird ihm eine staatliche Begnadigung und der Erlass seiner Gefängnis­strafe versprochen.

Die Wagner-Gruppe toleriert allerdings keine Verlierer in den eigenen Reihen. Am kurzzeitigen Kriegs­gefangenen Jewgeni Nuschin zum Beispiel wurde ein barbarisches Exempel statuiert: Mitglieder der Wagner-Söldner­truppe klebten seinen Kopf mit Klebeband an einen Stapel Ziegelsteine und zertrümmerten seinen Schädel mit einem Vorschlag­hammer. Ein Video von der barbarischen Tat wurde veröffentlicht. Prigoschin nannte das Mordvideo «eine schöne Regiearbeit» und fügte hinzu, dass die Tötung fair war. Heute ist der Vorschlag­hammer das Symbol der Wagner-Gruppe: Russische Politiker zeigen sich mit dem Emblem. Man konnte es in russischen Online­shops kaufen.

Prigoschins politische Karriere nahm wegen seiner militärischen Erfolge im Krieg gegen die Ukraine (die häufig auch übertrieben wurden) plötzlich rasant an Fahrt auf. Seine Popularität in Russland stieg: In vielen russischen Gross­städten rufen Werbeplakate dazu auf, der privaten Wagner-Armee beizutreten. In Sankt Petersburg wurde sogar ein «Wagner PMC (Private Military Company) Centre» eröffnet. Dies führte dazu, dass Jewgeni Prigoschin im Juni 2023, bis vor der Eskalation mit dem Putin-Regime, den fünften Platz auf der Rangliste der vertrauens­würdigsten russischen Persönlichkeiten belegte. Gleich hinter Putin, Aussen­minister Sergei Lawrow, Verteidigungs­minister Sergei Schoigu und Premier­minister Michail Mischustin.

Zu diesem Zeitpunkt wusste niemand ausserhalb des inneren Zirkels, dass Prigoschins Ansehen im Moskauer Macht­apparat schon längst auf einem Tiefpunkt angelangt war.

Prigoschins Rebellion

Bereits im Herbst 2022 zeichnete sich ein schwerer Konflikt zwischen Prigoschin und der Führung des russischen Verteidigungs­ministeriums ab. Damals kritisierte der Leiter der Wagner-Armee offen die russische Armee und ihre Befehls­haber für das Versagen während der ukrainischen Offensive in den Regionen Cherson und Charkiw. Im Februar 2023 beschuldigte Prigoschin erstmals das russische Militär, künstlich eine «Munitions­knappheit» für seine Truppen herbei­geführt zu haben und der Wagner-Gruppe nicht genügend Mittel für die Bachmut-Offensive zu geben. Das russische Verteidigungs­ministerium wies diese Vorwürfe zurück.

Prigoschin kritisierte offen, dass sich Russlands Elite de facto um die Mobilisierung foutiere. «Solange eure verfickten Kinder von Rubljowka (ein Nobelviertel in Moskau) nicht selbst in diese Scheisse gehen, werdet ihr denken, dass wir hier Krieg nur spielen», schimpfte Prigoschin.

Gleichzeitig begann der Wagner-Chef, auf seinem Telegram-Kanal Geheimnisse über die russische Armee auszuplaudern: So nannte er im Juni den Betrag, den Russland zur Förderung der eigenen Interessen in Afrika und den arabischen Ländern ausgab: 147 Milliarden Rubel. Das ist höher als das Jahres­budget der meisten russischen Regionen.

Im Mai 2023 stellte Prigoschin dem Verteidigungs­ministerium ein Ultimatum: Er drohte, seine Kämpfer aus Bachmut abzuziehen, wenn er keine Munition erhalte.

Der offen zur Schau getragene Konflikt mit dem Verteidigungs­ministerium hatte jedoch sofortige Konsequenzen für Prigoschin. Die Erlaubnis, russische Gefangene zu rekrutieren, wurde zurück­gezogen. Danach nahm Putin die Dinge an die Hand: Er dekretierte, dass alle privaten Militär­unternehmen nun verpflichtet sind, einen Vertrag mit dem Verteidigungs­ministerium zu unterzeichnen. Die Schikane zielte auf Prigoschin ab. Dieser sollte dadurch gezwungen werden, sich direkt dem verhassten Schoigu zu unterstellen.

Der Leiter der Wagner-Gruppe weigerte sich.

Doch was bezweckte Prigoschin mit seiner Macht­demonstration, als er Armee-Einrichtungen besetzte und seinen Truppen den Marsch auf Moskau befahl? Der Wagner-Chef wollte eine Ansage machen in der einzigen Sprache, die Putin versteht: der Sprache der rohen Gewalt. Das vom Kreml angedrohte Straf­verfahren scheint den Ex-Sträfling nicht beeindruckt zu haben. Aber Prigoschin hat vermutlich gar nicht ernsthaft erwogen, die russische Hauptstadt zu besetzen. Sie ist 2510 Quadrat­kilometer gross, und Putin hätte alle loyalen Polizei- und Militär­einheiten sowie den Geheimdienst FSB gegen die Wagner-Truppen einsetzen können. Ein blutiges Massaker wäre die Folge gewesen.

Dieses Chaos hätten die ukrainischen Militärs sicherlich zu ihrem Vorteil genutzt, um die von Russland besetzten Gebiete zu befreien. Das wäre kaum im Interesse der Wagner-Gruppe.

Im Jahr 2022 hatte Jewgeni Prigoschin derart viele Befugnisse wie sonst kein anderer von Putins Komplizen: Er konnte im Namen des Präsidenten Gefangene begnadigen, für seine Privat­armee rekrutieren und seine Truppen­bestände ausbauen. Die Erfolge sind Prigoschin wohl zu Kopf gestiegen und brachten ihn zur Überzeugung, dass er Schoigu und Waleri Gerassimow, den Generalstabs­chef der russischen Streitkräfte, nicht mehr als Vorgesetzte akzeptieren müsse. Seine Ambition war wohl darauf ausgerichtet, die Nummer zwei hinter Putin zu werden und gegebenenfalls das Verteidigungs­ministerium und die Leitung der russischen Armee zu übernehmen.

Seine Hoffnung war, dass sich viele Unzufriedene innerhalb der russischen Armee seinem Aufstand anschliessen würden. Damit verkalkulierte er sich massiv.

Prigoschin war länger entmachtet

Der befürchtete Ausbruch eines Bürgerkriegs in Russland war von Anfang an sehr unwahrscheinlich. Dafür hätte es Massen von verärgerten, bewaffneten Russinnen gebraucht, die bereit gewesen wären, zu kämpfen, zu töten und zu sterben. Für die meisten Menschen in Russland ist der Krieg in der Ukraine jedoch sehr weit weg, sie sind kaum mobilisierbar über diesen Konflikt. Das Verteidigungs­ministerium kann trotz ständigen Ermahnungen junge Männer nur mit Geld­geschenken für den Ukraine-Einsatz locken. Inzwischen sind die staatlichen Stellen selbst dazu übergegangen, in den Gefängnissen zu rekrutieren.

Prigoschins loses Mundwerk hat zudem schon lange dazu geführt, dass er an Einfluss in Putins System verlor. Und der Kremlchef konnte sukzessive an seiner Entmachtung arbeiten.

In Putins System ist es nämlich äusserst unüblich, öffentlich über Probleme und Missstände zu sprechen. In der Regel werden alle kritischen Fragen ausschliesslich hinter den Kulissen geklärt. Ob jemand zum inneren Kreis der Vertrauens­personen gehört, bemisst sich an den Möglichkeiten, mit dem Staats­oberhaupt direkt in Kontakt zu treten: Man muss Putin anrufen oder sich mit ihm unter vier Augen treffen und eine Einigung finden.

Wenn eine Person aus dem innersten Kreis nun anfängt, offene Briefe zu schreiben, Videos zu veröffentlichen und Ultimaten zu stellen, bedeutet das vor allem eines: dass sie alle direkten Kanäle innerhalb des Macht­apparats verloren hat. Prigoschin hatte de facto schon länger keinen Draht mehr zum inneren Kreis im Kreml und sah sich deshalb wohl gezwungen, auf Social-Media-Kanäle auszuweichen.

Putins Demütigung

Dennoch: Der Aufstand ist eine grosse Erniedrigung für den russischen Präsidenten. Als Prigoschin mit seinem Gelände­wagen von Rostow am Don nach Belarus fuhr, wurde er von den Einwohnern mit Applaus verabschiedet. Diese öffentlichen Bilder demonstrieren, dass Putins Glaubwürdigkeit so beschädigt ist wie noch nie.

Die öffentliche Ankündigung, 25’000 Wagner-Kämpfer nach Moskau zu schicken, zeigte auch, dass dem Kremlchef die Kontrolle über Prigoschins Privatarmee komplett entglitten ist. Vermutlich konnte sich der russische Präsident, der einen loyalen Ja-Sager-Kreis um sich geschart hat, niemals vorstellen, dass der Mann, der ihm vor zwanzig Jahren noch schwarzen Kaviar servierte, zu so etwas fähig ist.

Dass Putin selber nicht den Konflikt zu deeskalieren vermochte, sondern dass mit seinem belarussischen Amtskollegen Lukaschenko ein anderer Staatschef diese Rolle übernehmen musste, ist eine zusätzliche Demütigung für den Kremlchef.

Wie geht es nun weiter?

Prigoschins Zukunft ist unklar. Mit seiner Rebellion ist er komplett aus Putins System heraus­gefallen; der russische Präsident wird ihm die Demütigung niemals verzeihen.

Das auf Propaganda und Desinformation gebaute Putin-Regime braucht für seinen Krieg gegen die Ukraine jedoch die vermittelbaren Bilder eines Helden: Der Wagner-Chef war ein sicherer Wert für das russische Staats­fernsehen. Putin betonte stets, dass er neben dem Verteidigungs­ministerium und den Atomwaffen zwei «Supermächte» habe: die Truppen von Ramsan Kadyrow und die Wagner-Armee, die nur ihm unterstellt sind. Das wichtigste Aushänge­schild der Propaganda­maschine ist nun kompromittiert. Allerdings ist unklar, wie wichtig die Wagner-Armee für Russlands Angriffs­krieg tatsächlich ist. Experten bezweifeln die Effizienz der Wagner-Armee, die zwar erfolgreich ihre Erfolge inszeniert, jedoch ständig enorme Verluste erleidet.

Putin hat sich in der Person Prigoschins grundsätzlich geirrt. Er gab die Waffen einem Mann, der sie letztlich gegen ihn selbst gerichtet hat. Diese Fehl­einschätzung wird nicht ohne Folgen bleiben. Es ist naheliegend, dass nun innen­politisch eine Ära der drohenden Instabilität und der deshalb noch grösseren Repressionen folgen wird. Nach der totalen Demütigung wird Putin seinem Umfeld noch misstrauischer begegnen, seine Paranoia wird zunehmen, ebenso seine Unberechenbarkeit.

Es gibt eine vielsagende Parallele zur Geschichte der Sowjetunion: zum Zeitpunkt, als der Diktator Josef Stalin mit der Massen­repression in der UdSSR begann, in deren Verlauf Millionen von Menschen hingerichtet wurden. Auslöser war die Ermordung des einflussreichen Bolschewiken Sergei Kirow im Jahr 1934, ein Vorfall, der die Autorität Stalins heraus­zufordern schien. Wenige Tage später unterzeichnete dieser ein Dokument, in dem es hiess, dass Fälle von Staats­verbrechen zügig und ohne Anwälte behandelt werden müssen, Gnaden­gesuche nicht angenommen werden dürfen und Todes­urteile sofort nach ihrer Verkündung vollstreckt werden müssen.

Wem kann Putin jetzt noch vertrauen? Das ist die grosse Frage. Nur eines steht fest: Der Mann, den er seit mehr als zwanzig Jahren kennt, hat ihn verraten und öffentlich gedemütigt.

Zum Autor

Ivan Ruslyannikov wurde 1994 geboren. 2016 schloss er das Journalismus­studium an der Ural Federal University in Jekaterin­burg ab. Seither arbeitete er als freier Journalist für die Zeitungen «Kommersant», «MBK Media», für Forbes und «Nowaja Gaseta». Für den Republik-Text «Yandex – ein Techunternehmen kreiert Zombies» erhielt Ruslyannikov gemeinsam mit Republik-Autorin Adrienne Fichter den Zürcher Journalistenpreis 2023.

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