Der grösste Schweizer Lohndumping­skandal – Teil 2

Weder Proteste der Arbeiter noch heftige Schlagzeilen in den Medien bringen Kurt Goger von seinem ausbeuterischen Weg ab. Keystone (3), Screenshot TeleZüri

II. Verbrechen

Der österreichische Unternehmer Kurt Goger baut in der Schweiz mit mutmasslich krimineller Energie ein Gipser­unternehmen auf, räumt die grossen Aufträge ab und landet als «Ausbeuter» auf der Titelseite des «Blick». Dann steht die Polizei vor seiner Tür. Die unglaubliche Geschichte des grössten Schweizer Lohndumping­skandals, Teil 2.

Von Philipp Albrecht, Brigitte Hürlimann (Text), Klawe Rzeczy (Illustration) und Balázs Fromm (Bilder), 26.06.2023

Vorgelesen von Dominique Barth
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April 2023

«Es hat lange gedauert», sagt Jozsef Babai, «bis ich und meine Arbeits­kollegen merkten, dass wir von Goger übers Ohr gehauen werden.»

Babai sitzt zusammen mit drei weiteren ehemaligen Goger-Gipsern in einem Pub in einer Einkaufs­passage am Rande Budapests. Wenn er redet, nicken die anderen zustimmend mit dem Kopf. Die Stimmung ist bedrückt. Alle haben Plastik­tüten voller Dokumente bei sich. Einige der Männer sind über eine Stunde lang angereist, um sich hier im Stadtteil Pest zu treffen. Und sie haben nicht nur Unter­lagen mitgebracht, sondern auch viel Wut im Bauch.

Jozsef, Janos, Istvan und Attila gehörten zu den ersten Arbeitern aus Ungarn, die im Auftrag von Kurt Goger für gerade mal 12 Franken pro Stunde auf Schweizer Baustellen malochten. Manchmal bis zu 260 Stunden pro Monat.

Die vier Handwerker hatten sich das anders vorgestellt. Sie waren mit der Aussicht auf eine gut bezahlte Stelle in die Schweiz gereist. So hatten sie es ihren Familien erzählt, die sie in Ungarn zurück­liessen; Frauen, Freundinnen und Kinder, die sich ausmalten, wie ihr neues Leben aussehen könnte. Welche Rechnungen endlich bezahlt werden können. Zahnarzt­besuche, die nicht mehr aufgeschoben werden müssen. Schulbücher, die erschwinglich werden. Haus- und Wohnungs­renovationen, die so dringend notwendig sind.

Die Familie Babai hat die schlimme Zeit nie ganz vergessen: Jozsef junior, Jozsef senior und Andrea.

Die Ernüchterung kam auf einer Gross­baustelle in Zürich.

«Auf dem Toni-Areal sind wir mit anderen Arbeitern ins Gespräch gekommen», erzählt Jozsef Babai im Budapester Pub. «Wir konnten uns wegen der Sprach­probleme kaum unterhalten. Irgendwann standen wir vor einer Gipswand und fingen an, unsere Löhne aufzuschreiben und zu vergleichen. Als wir sahen, welche Zahlen die Kollegen notierten, die die gleiche Arbeit machten wie wir, fiel uns der Kiefer herunter.»

Grosse Namen

Bauunternehmer? Für den jungen Kurt Goger war das kein Berufsziel. Er wollte Musiker werden. Doch nach einem Jahr brach er die Musik­hochschule ab. Er verliess das Burgenland, wo er aufgewachsen war, und zog nach Wien. Dort arbeitete er tagsüber auf dem Bau und bildete sich in der Abend­schule weiter, um bald Chef auf der Baustelle zu werden. Mit 25 verliess er Österreich. Zuerst arbeitete er als Projekt­leiter auf einer Hotel­baustelle in Warschau, später in gleicher Funktion in München und Berlin.

Der grösste Schweizer Lohndumping­skandal

Ein Bauunternehmer aus Österreich hintergeht gemäss den Strafverfolgern seine Angestellten und errichtet ein mutmasslich kriminelles System. Heute spielt Kurt Goger Golf in der Steiermark. Warum gingen die Justizbehörden nicht strikter gegen ihn vor? Zur Übersicht.

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Verbrechen

Teil 3

Versagen

So erzählte es Goger Ende November 2017 der Kantons­polizei Zürich. Ermittlungen und spätere Geständnisse von Komplizen weisen allerdings darauf hin, dass er bei dieser achtstündigen Einvernahme derart oft log, dass auch bei den Angaben zu seiner eigenen Biografie Zweifel angebracht sind.

Aus der Einvernahme, die der Republik vorliegt, ist ersichtlich, dass er sich für seine Referenzen auffallend oft auf klingende Namen stützte.

In München soll er das Kempinski-Hotel mit aufgebaut haben, und in Berlin sei er für den «grössten Privat­investor von Deutschland, Dr. Kottmeier» tätig gewesen. Allerdings ist unklar, wer damit gemeint ist.

2005 soll ihn der inzwischen verstorbene Red-Bull-Milliardär Dietrich Mateschitz in die Schweiz geholt haben, um als Projekt­leiter auf dem Bau von dessen Cube-Hotel in Savognin zu arbeiten. Doch in Wahrheit hatte Mateschitz mit dem Bau nichts am Hut. Er besass lediglich 10 Prozent der Anteile einer Hotel­projektierungsfirma, die das Cube bauen liess.

Goger lebte und arbeitete von nun an in der Schweiz. In Österreich hatte er kurz zuvor ein teures Bauprojekt versenkt. Das Gogers, ein Golfhotel im Burgenland, das als ökologisches Vorzeige­projekt gedacht und mit staatlichen Subventionen aus Österreich und der EU unterstützt worden war, rutschte gleich nach dem Start in die Insolvenz. Bauherr Goger überschritt das Budget auf etwas mehr als das Doppelte. In Sichtweite des Hotels liess er sich zur gleichen Zeit eine Villa bauen.

Dafür, so sagen es zwei unabhängige Quellen, habe er unerlaubter­weise Arbeiter vom Golfhotel abgezogen. Doch bewiesen werden konnten die Vorwürfe nie. Die Parteien einigten sich in einem Vergleich. Goger liess sein Hotel zurück, die Villa verkaufte er später.

In der Schweiz konnte er noch einmal von vorn beginnen.

«Schule für Gladiatoren»

261 Angestellte arbeiteten zwischen 2013 und 2016 im Sold Gogers. Sie wohnten in Unter­künften verteilt auf mindestens vier Kantone.

In Zürich treffen wir zwei ehemalige Goger-Arbeiter, die immer noch auf Schweizer Baustellen arbeiten, heute im Auftrag von Temporär­büros. Sie heissen beide Robert. Die Firma wies dem einen Robert 2012 eine Unterkunft in Ottikon im Zürcher Oberland zu. Im Schnitt teilten sich dort 19 Arbeiter 11 Zimmer, 2 Küchen und 3 Badezimmer.

Die Zustände seien «katastrophal» gewesen, erzählt Robert, eine «Schule für Gladiatoren». Es habe nur kaltes Wasser gegeben, und wenn das Heizöl ausgegangen sei, hätten sie sich selbst um neues kümmern müssen.

Was die anderen ungarischen Arbeiter erst im Nach­hinein erfuhren: Kurt Goger soll auch aus ihren Unter­künften schamlos Profit geschlagen haben.

Den Gipsern wurde für das Logis vom Lohn monatlich 600 Franken abgezogen. Wie die Strafverfolger der Staats­anwaltschaft Zürich festhalten, bezahlte Goger für die Miete der Unterkunft monatlich 3200 Franken, kassierte aber von seinen Gipsern bei durchschnittlicher Belegung monatlich 11’400 Franken. Goger begründete die ungewöhnlich hohen Wohnabzüge mit Entschädigungen für die Einrichtung, die Reinigung sowie für die Heizung.

Der andere Robert war in Bern untergebracht. Als dort die Bauarbeiten fertig waren, musste er jeden Tag nach Winterthur auf eine Baustelle fahren, vier Monate lang. Er fuhr im Privatauto eines Kollegen mit, doch Goger zog ihm eine monatliche Pauschale von 150 Franken für die «Mitbenützung eines Geschäfts­autos» vom Lohn ab. «Ich frage mich, ob Goger gut schlafen kann, obwohl er uns noch so viel Geld schuldet», sagt er.

Man habe Kurt Goger angesehen, sagt einer der beiden Roberts, dass er das Geld liebe: «Das war ihm wichtiger, als sich um die Menschen zu kümmern.»

Der Treuhänder

2005 hatte Kurt Goger seine eigene Schweizer Firma gegründet. Die Goger-Swiss AG war aus seiner Sicht eine logische Konsequenz. Als Projekt­leiter beim Cube-Hotel in Savognin hatte er eine Ausschreibung für Trockenbau­arbeiten gemacht und festgestellt, dass die Offerten der Schweizer Gipser­firmen mindestens 300 Prozent über seinem Budget lagen. Das konnte er mit eigenen Leuten günstiger machen. So sagte er es der Zürcher Kantons­polizei, als er im November 2017 einvernommen wurde.

Unterstützung bei seiner Firma in der Schweiz erhielt Goger von einem Treuhänder, der bis heute in einer Zürcher Goldküsten­gemeinde ansässig ist. Der Treuhänder vermittelte dem Österreicher eine Schweizer Aktien­gesellschaft, aus der schliesslich die Goger-Swiss AG entstand. Firmensitz: Dietlikon, Kanton Zürich (wo Goger sich auch eine Wohnung mietete). Um die Finanzen kümmerte sich der Treuhänder.

Dieser hatte damals neben Goger noch andere illustre Kunden. So war er in einen grossen Bestechungs­fall in der Bundes­verwaltung verwickelt. 2019 verurteilte ihn in diesem Zusammen­hang die Bundes­anwaltschaft mittels Strafbefehl wegen Bestechen, Geldwäscherei, Urkunden­fälschung und ungetreuer Geschäfts­besorgung.

Zuerst war die Goger-Swiss AG mit einer Handvoll österreichischen Arbeitern auf Bündner Baustellen aktiv. 2006 erhielt Goger für das Dolder Grand Hotel erstmals einen Auftrag in Zürich. Es folgten weitere kleinere und mittelgrosse Aufträge in Graubünden, St. Gallen, später auch in Bern und wieder in Zürich.

Im Sommer 2011 erhöhte Goger das Aktien­kapital von 100’000 auf 250’000 Franken – ein Indiz für starkes Wachstum. Kurz darauf erhielt Goger-Swiss den Auftrag für die Gipser­arbeiten im Zürcher Toni-Areal. Wo einst der grösste Milchverarbeitungs­betrieb Europas stand, liess der Kanton Zürich einen Hochschul­komplex mit 100 Wohnungen bauen.

Gogers erster grosser Prestigebau.

Kickbacks

Um den Auftrag auf dem Toni-Areal erfüllen zu können, war Goger auf die Hilfe eines Mannes angewiesen, den er 2011 auf einer Baustelle in Davos kennengelernt hatte: Dominik Varga. Varga, der eigentlich anders heisst, betrieb eine kleine Baufirma in Budapest und vermittelte regelmässig Leute nach Österreich, Deutschland und in die Schweiz. 19 Jahre hatte der ungarisch-deutsche Doppel­bürger in Deutschland gelebt und 14 davon auf Baustellen verbracht. Goger brauchte ausgebildete Handwerker, und Dominik Varga lieferte sie ihm.

Auch Jozsef Babai und seine Kollegen waren durch Vargas Vermittlung in die Schweiz und zu Goger gekommen. Mit ihm hatten die vier Gipser mündlich einen Stundenlohn von 11 Euro vereinbart.

In Ungarn, das sich Anfang der Zehnerjahre in einer desolaten wirtschaftlichen Situation befand und wo es für sie kaum Arbeit gab, hätten sie bestenfalls 4 Euro verdient. Sie hinterfragten ihren Schweizer Lohn nicht. Auch dann nicht, als eine merkwürdige Praxis eingeführt wurde.

Jozsef Babai vor seinem Haus, in einem Ort südlich von Budapest.
Eines der Prestigeobjekte, die sich Kurt Goger mit Dumpinglöhnen billig erkaufte: Das Toni-Areal in Zürich. Alex Buschor/Keystone

Wenige Wochen nach Arbeits­beginn in der Schweiz erklärte ihnen Varga, es werde ihnen zwar eine gewisse Summe auf ihr privates Konto einbezahlt, sie müssten davon aber einen Teil zurückzahlen, und zwar in bar. So, sagte Varga, funktioniere das «kostenfreie Nettolohn­system» in der Schweiz.

Von diesem Tag an marschierte Dominik Varga mit einem Büchlein in der Hand auf die Baustellen oder in die Arbeiter­unterkünfte und trug jedem einzelnen ungarischen Gipser auf, wie viel Geld er in den kommenden Tagen von seinem Konto abzuheben habe. Das konnten bis zu 2000 Franken sein.

Das Prozedere wiederholte sich monatlich. Varga kam mit seinem Büchlein vorbei und nannte eine Summe. Ein paar Tage später tauchte er ein zweites Mal auf, mit leeren Brief­umschlägen, und zog bei jedem Arbeiter ein, was in seinem Büchlein stand. Die mit Geld­scheinen prall gefüllten Couverts landeten anschliessend im Büro der Goger-Swiss AG in Dietlikon.

Ein paar wenige der Noten steckte Varga für sich selbst ein: seine Provision.

Als «Kickback-Zahlungen» werden die Strafverfolger Jahre später dieses System bezeichnen. Es ist ein bis damals in der Schweiz unbekanntes Vorgehen und derart ausgeklügelt, dass es den Behörden lange nicht auffällt – nicht zuletzt deshalb, weil die Firma mit komplett gefälschten Unterlagen hantiert. Und damit lange Zeit die Kontrolleure hinters Licht führt.

Goger, sein Treuhänder und Varga installierten dazu eine doppelte Buch­haltung mit offiziellen und inoffiziellen Lohn­tabellen. Die Höhe der individuellen Rück­zahlungen hing davon ab, wie viel die Gipser gearbeitet hatten. Eine Assistentin von Gogers Treuhänder berechnete den Lohn, den die Arbeiter tatsächlich behalten durften. Sie multiplizierte die geleisteten Arbeits­stunden mit dem mündlich vereinbarten (illegalen) Stundenansatz von rund 12 Franken. Doch nicht diese Summe wurde den Gipsern aufs Konto überwiesen, sondern ein deutlich höherer, GAV-konformer Lohn. Damit nach aussen alles seine Richtigkeit hatte.

Obwohl Überstunden die Regel waren, erhielten Gogers Arbeiter diese nicht ausbezahlt. Dafür durften sie alle zwei Wochen auf eigene Kosten für ein verlängertes Wochenende in die Heimat fahren. Darüber hinaus zog ihnen Goger hohe Pauschal­beträge ab: für Übernachtungen, Reinigungs­kosten und die Mitbenützung der Firmen­wagen. Und der Lohn wurde ihnen immer mit einem Monat Verzögerung ausbezahlt.

30 Prozent günstiger

Noch bevor Goger den Zuschlag für das Toni-Areal erhielt, machte der Verdacht des Lohn­dumpings auf Zürcher Baustellen die Runde.

In dieser Zeit telefonierte der Winterthurer Gipser­meister Reinhard Meier aussergewöhnlich oft mit anderen Betrieben in der Region. Seine Kollegen aus dem Gipser­verband Zürich-Land beklagten sich bei ihrem damaligen Präsidenten Meier über einen neuen Konkurrenten, der viele grosse Aufträge abräumte. Die Firma habe es besonders auf öffentliche Aufträge abgesehen, wo stets der günstigste Anbieter den Zuschlag erhält.

Meier hatte dieselbe Erfahrung bei einem Grossauftrag in Winterthur gemacht. Beim Bau eines Verwaltungs­gebäudes der Stadt hatte Goger 30 Prozent tiefer offeriert als er. Wie war das möglich?

Seit knapp 40 Jahren war Meier im Gipser­geschäft. Manchmal stiess er auf kleine Firmen, die mit ausländischem Personal bei privaten Aufträgen mit sehr tiefen Preisen offerierten. Doch diesmal war die Sache anders: Der Betrieb war deutlich grösser und gleich auf mehreren Gross­baustellen präsent. Meier rechnete mehrmals nach und konnte nicht glauben, dass dieser Goger so viel effizienter arbeitet. Etwas war faul.

Die Winterthurer Gipser beschlossen, eine Lohnbuch­kontrolle durchzuführen. Ein Mittel, das Firmen gemeinsam mit Gewerkschaften einsetzen dürfen. Die beiden Parteien organisieren sich für diese Aufgabe in einer paritätischen Berufs­kommission und kontrollieren so die Einhaltung der Gesamt­arbeitsverträge (GAV). Die Kontrolle wird angeordnet, wenn ein Unternehmen verdächtigt wird, sich nicht an die gemeinsamen Regeln und Mindest­anforderungen zu halten.

Der Lohndumping­verdacht sollte eigentlich auch das zuständige kantonale Amt auf den Plan rufen. In Zürich ist dies das Amt für Wirtschaft und Arbeit. Es wurde nach Meiers Lohnbuch­kontrolle gleich dreimal innerhalb dreier Jahre von unter­schiedlichen Stellen auf Goger hingewiesen.

  • 2011 meldeten sich die Kollegen aus dem Kanton Graubünden: Goger hatte eine Schlechtwetter­entschädigung für ein Bauprojekt angefordert, das es gar nie gab. Und er hatte polnische Angestellte unerlaubter­weise im Stundenlohn (zu 12 Euro) beschäftigt, diese im Winter jeweils nach Hause geschickt, wobei er ihnen vorübergehend kündigte und teilweise keine Quellen­steuer bezahlt. Die Bündner Behörden äusserten den «erhärteten Verdacht», dass die Firma gegen das Arbeitslosen­versicherungs­gesetz sowie das Sozial­versicherungs- und Quellensteuer­gesetz verstiess. Zudem vermuteten sie Verstösse gegen ausländer­rechtliche und GAV-Bestimmungen.

  • 2013 blieben in einer Kontrolle der Zürcher Stadtpolizei am Sihlquai drei ungarische Goger-Angestellte hängen. Eine Abklärung zeigte, dass sie keine Melde­bestätigung hatten und somit gegen die flankierenden Massnahmen zum freien Personen­verkehr verstiessen. Die Polizei meldete dem Amt für Wirtschaft und Arbeit den Verdacht der Schwarz­arbeit und auf Verstoss gegen das Ausländer­gesetz.

  • 2014 gerieten erneut Goger-Leute in eine Kontrolle, diesmal durchgeführt von der Arbeits­kontrollstelle des Kantons Zürich. Wieder lautete der Verdacht Schwarzarbeit. Und wieder ging die Meldung ans Amt für Wirtschaft und Arbeit.

Wieso ist nichts passiert? Die oberste politische Verantwortliche, die Zürcher Regierungs­rätin Carmen Walker Späh, wollte sich auf Anfrage nicht äussern. Ihr Sprecher lässt der Republik die schriftliche Antwort des Regierungs­rats auf einen Vorstoss von 2019 zum Fall Goger im Kantonsrat zukommen.

Schuld sei eine Gesetzes­lücke im Bundesgesetz über Massnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit, die erst 2018 behoben wurde, steht darin. Die Meldung aus dem Kanton Graubünden habe man zwar an interne Stellen weiter­reichen können, jedoch von Gesetzes wegen nicht an die Baudirektion, an die sie eigentlich hätte gehen müssen.

Erste Konsequenzen

Während die Alarmglocken bei den kantonalen Behörden stumm blieben, kam bei Gogers Konkurrenten und bei der Gewerkschaft Bewegung in den Fall. Zwar hatte Reinhard Meier bei seiner Lohnbuch­kontrolle 2011 in den Räumlichkeiten von Gogers Treuhänder an der Goldküste noch nichts Belastbares gefunden. Doch weil die Berichte von Gipser­firmen und Gewerkschafterinnen nicht nachliessen, führte später auch die zweite paritätische Berufs­kommission des Gipser­gewerbes im Kanton, jene der Stadt Zürich, eine Lohnbuch­kontrolle durch. Dabei kam zum Vorschein, dass Goger sämtlichen Angestellten nur den Hilfsarbeiter­lohn auszahlte. Eine dritte Kontrolle offenbarte kurz darauf weitere GAV-Verstösse.

Kurt Goger räumte schliesslich Fehler ein. Er habe sich nicht ausführlich genug mit den komplizierten GAV-Bestimmungen in der Schweiz auseinander­gesetzt, sagte er der paritätischen Berufs­kommission. Von nun an würden alle Gipser in seiner Firma nach Qualifikationen eingeteilt.

Die Parteien vereinbarten, den 45 betroffenen Gipsern seien die geschuldeten Beträge zu überweisen: insgesamt 310’000 Franken.

Doch das Geld gelangte nie zu den ungarischen Gipsern.

Wie Untersuchungs­dokumente zeigen, die der Republik vorliegen, liess Goger seine Gipser leere oder mit einem für sie unverständlichen deutschen Text bedruckte Zettel unterschreiben. Sie dienten einerseits als Quittung für die paritätische Berufs­kommission, als Beweis, dass die Angestellten die Beträge erhalten haben. Andererseits schrieb im Nachhinein jemand auf die Zettel, dass die Gipser keine rechtlichen Schritte gegen Goger-Swiss ergreifen würden.

Jozsef Babai und seine Kollegen bestätigen, was auch die Berufs­kommission später feststellte: Die Gipser haben keinen roten Rappen erhalten. «Wir mussten mehrfach weisse Blätter unterschreiben», erinnert sich Babai. «Uns war klar: Wer reklamiert, riskiert den Job.»

2015

Es ist eisig kalt an diesem Februar­morgen am Fusse des Zürcher Uetlibergs. Immerhin gibts heissen Kaffee und Gipfeli für alle. Die Gipser stehen herum und warten, bis sie befragt werden. Einige schlottern. Die Gewerkschaft Unia hat ihnen den Zugang auf die Baustelle des Hotels Atlantis verwehrt.

Eingepackt in eine dicke, rote Unia-Jacke steht auch Christa Suter zwischen den Gipsern. Mittlerweile sind mehr als drei Jahre vergangen, seit sie unweit von hier in Zürich-Altstetten zum ersten Mal auf ungarische Goger-Leute getroffen ist. In der Zwischen­zeit hat sie auf Baustellen Informationen gesammelt und für eine Weile die Goger-Swiss AG aus den Augen verloren.

Flankiert von Übersetzern nehmen Suter und ihre Gewerkschafts­kolleginnen die Personalien der Ungarn auf. In eine Liste tragen sie ein, seit wann sie für Goger arbeiten, was sie verdienen und wie viele Stunden sie pro Woche arbeiten. Auch die Beträge, die diese in bar zurück­geben müssen, werden eingetragen.

Für Suter ist das endlich der Beleg für die Kickback-Zahlungen, die bis heute in keiner Lohnbuch­kontrolle nachgewiesen werden konnten. Später lässt sie die Aussagen der Arbeiter über die Rück­zahlungen notariell beglaubigen.

Am nächsten Tag titelt der Blick: «Lohn-Klau! – Die üblen Machenschaften einer Schweizer Gipser­firma». Tags darauf prangt das Bild des Firmenchefs auf der Titelseite: «Der Ausbeuter – Gipsermeister Kurt Goger verletzt den GAV gleich mehrfach. Er streitet alles ab».

Am Tag nach der Atlantis-Aktion müssen alle Arbeiter auf Geheiss des Chefs eine vorformulierte Erklärung unterschreiben. Darauf steht, sie hätten nie Lohn­rückzahlungen leisten müssen und sie bekämen den Mindest­lohn plus sämtliche Über­stunden ausbezahlt. Zwei von ihnen weigern sich und fordern das Geld zurück, das ihnen zustehe. Goger entlässt sie fristlos.

In den nächsten sieben Wochen erscheint Gogers Konterfei noch an sechs weiteren Tagen im «Blick». Drei Tage nach der Aktion vor dem Hotel Atlantis lässt die Zeitung Reinhard Meier zu Wort kommen. Der Gipser­meister, der nebenbei Box­trainer ist, lässt sich in Box­handschuhen ablichten. Dazu die Zeile: «Dieser Gipser sagt den Lohn-Dumpern den Kampf an.» Er sei schockiert über die Zustände bei Goger-Swiss, sagt Meier. Man behandle die Leute dort «wie Sklaven».

Zur Transparenz

Der Co-Autor dieser Serie war von 2011 bis 2016 als Wirtschafts­redaktor bei der «Blick»-Gruppe tätig und schrieb 2015 erstmals über die Lohndumping­vorwürfe gegen die Goger-Swiss AG. In diesem Zusammen­hang wurde er von Kurt Goger unter anderem wegen unlauteren Wettbewerbs, Verleumdung, übler Nachrede und Anstiftung zu Amtsgeheimnis­verletzung angezeigt. Ende 2016 wurde die Klage im Rahmen eines Vergleichs zwischen Goger und Ringier zurückgezogen.

Auch andere Medien berichten nach dem «Blick» über den bis dahin (und bis heute) grössten bekannten Lohndumping­fall der Schweiz. Und darüber, wie die Gewerkschaft Unia die Gunst der Stunde nutzt und weitere Baustellen von Goger besetzt. Mit Bannern und Triller­pfeifen blockieren sie die Arbeiten im Fifa-Museum in Zürich-Enge, in der Gross­überbauung Tic Tric Trac in Zürich-Binz, im Limmat-Tower in Dietikon und im Helvetia-Tower in Pratteln.

Aufgeschreckt durch die Bericht­erstattung fordern Gogers Auftrag­geber Antworten. General­unternehmen wollen wissen, ob an der Story etwas dran sei. Zum Beispiel der Baukonzern Implenia:

Sehr geehrter Herr Goger

Mit Befremden mussten wir aus der Presse entnehmen, dass Ihre Firma in Verbindung mit Lohndumping genannt wird. Die Presse­berichte zum Thema Lohndumping im Hotel Atlantis zwingen uns dazu, Ihnen dieses Schreiben zukommen zu lassen.

Wir fordern Sie auf, die in den Presse­berichten genannten Missstände uns gegenüber glaubhaft zu widerlegen, die werkvertraglichen Verpflichtungen einzuhalten und dafür besorgt zu sein, dass die Implenia Schweiz AG als Auftraggeber der Goger-Swiss AG im Zuge von Ermittlungen hinsichtlich Lohndumping in oben genannter Sache schadlos gehalten wird.

Wir erwarten Ihre schriftliche Stellungnahme mit einer lückenlosen und gesetzes­konformen Darstellung Ihrer Anstellungs­bedingungen, welche Sie uns gegenüber im Rahmen der Solidar­haftung angegeben und bestätigt haben, bis zum 3. März 2015.

Freundliche Grüsse

Implenia Schweiz AG

Brief der Implenia Schweiz AG vom 26. Februar 2015.

Der Zürcher Rechtsanwalt Adrian Bachmann setzt für Goger die ersten Klagen auf: gegen die Gewerkschaft Unia und den Ringier-Verlag. Später zieht er die zwei Ex-Angestellten in Ungarn, die ihre Unterschrift verweigert hatten, wegen Persönlichkeits­verletzung vor Gericht. Ausserdem klagt er gegen die Gipser­verbände von Zürich und Winterthur, gegen Christa Suter, ihren Chef Roman Burger, der die Region Zürich-Schaffhausen der Unia leitet, und gegen den damaligen «Blick»-Journalisten und Co-Autor dieses Textes, der über Goger geschrieben hat. Über einen zweiten Anwalt verklagt Goger zwei weitere Ex-Angestellte wegen Erpressung und Verleumdung.

Die Gerichte treten auf die meisten Vorwürfe gar nicht ein oder weisen sie teilweise ab. In mindestens drei Fällen einigt man sich ausser­gerichtlich.

Zwölf Tage nach der Atlantis-Aktion lädt die Unia gemeinsam mit den beiden paritätischen Kommissionen von Zürich-Stadt und Zürich-Land zu einer Presse­konferenz. Sie wollen das Lohndumping­system von Goger erklären und demonstrieren, dass sie es gemeinsam bekämpfen. Auch Reinhard Meier ist da, genauso wie vier Goger-Swiss-Gipser, die sich der Unia angeschlossen haben. Darunter auch Jozsef Babai.

Dem Schweizer Radio und Fernsehen SRF, das über die Medien­konferenz berichtet, antwortet Goger schriftlich: «Es gab nie Geld­rückgaben und es gibt erst recht keine gefälschten Unterlagen, und wenn ich von ‹mehreren Millionen Franken› lese, die den Arbeitern vorenthalten sein sollen, kann ich nur noch lachen.»

Schliesslich reagieren die General­unternehmen. Goger hat es nicht geschafft, deren Bedenken zu beseitigen. Anfang April gibt Implenia bekannt, der Firma keine Aufträge mehr zu vergeben, «bis die Vorwürfe aufgearbeitet sind». Die SBB werfen Goger «per sofort» aus der Baustelle Sihlpost, wo später Google einziehen wird. Andere prüfen die Zusammen­arbeit.

Im Juni 2015 erscheint Kurt Goger zu einem Streit­gespräch mit Roman Burger von der Unia bei «Talk täglich» – wenige Tage nachdem sich die «Weltwoche» hinter ihn gestellt hatte und Vorwürfe der Gipser­verbände und der Gewerkschaft als Kampagne der Unia bezeichnet hatte. Burger beschreibt in wenigen Sätzen das Lohndumping­system von Goger. Dieser entgegnet: «Drei Wochen lang bin ich voll beschossen worden, ohne dass ich mich wehren kann, und ich bin auch dankbar, dass ich jetzt da sitzen darf, dass ich einmal sagen kann, was da überhaupt für Verbandelung … und für … möchts gar nicht ausdrucken ... schweinischer Pack da zusammensitzt.»

Burger ist schon einen Schritt weiter. Ihm geht es nicht mehr um das Ob, sondern um das Wann: «Aufgrund der Papiere, die ich gesehen habe, bin ich sehr sicher, dass hier massive Verstösse ans Licht kommen werden.»

Verhaftung

An einem frühen Mittwoch­morgen, es ist der 25. Oktober 2017, wird Kurt Goger verhaftet.

Eineinhalb Jahre zuvor, im April 2016, hatte die paritätische Berufs­kommission für das Gipsergewerbe bei der auf Wirtschafts­kriminalität spezialisierten Staats­anwaltschaft III des Kantons Zürich Strafanzeige eingereicht.

Als die Handschellen klicken, sieht es ganz danach aus, als ob die Vorwürfe endlich ernst genommen und ein mutmasslicher krimineller Bauunternehmer und seine Komplizen zur Rechenschaft gezogen werden.

Doch wie so oft wird es anders kommen.

Zur Mitarbeit

Paul Koren, freier Journalist in Graz und Wien, beteiligte sich an dieser Recherche. Er machte im Vorfeld unseres Besuchs in der Steiermark Abklärungen und begleitete die Konfrontation mit Goger in Gleisdorf.

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