I. Gier
Kurt Goger steckte viel Geld in seine Tasche, das eigentlich seinen Arbeitern gehört. Die Strafverfolger werfen ihm vor, im Gipsergewerbe den freien Wettbewerb zerstört zu haben. Wie kommt es, dass er heute unbehelligt auf dem Golfplatz steht? Die unglaubliche Geschichte des grössten Schweizer Lohndumpingskandals, Teil 1.
Von Philipp Albrecht, Brigitte Hürlimann (Text), Klawe Rzeczy (Illustration) und Balázs Fromm (Bilder), 24.06.2023
Mai 2023
Loch zwei ist tückisch. Der Ball muss über ein starkes Gefälle in eine Talmulde geschlagen werden. Zur Distanz kommt der schwer abschätzbare Höhenunterschied hinzu. Doch der Mann mit Bürstenschnitt, grau meliert, spiegelnder Pilotenbrille, dunkelblauem Polo, weisser Hose und einem Handschuh an seiner Linken steht hier nicht zum ersten Mal.
Er positioniert sich am oberen der zwei Abschlagpunkte, wo die Spieler mit tiefem Handicap stehen dürfen, bewegt seinen Schläger kurz in Richtung des Balls und holt aus. Der Rasen absorbiert den metallischen Schlag. Mit der Handschuhhand an der Stirn folgt er der Flugbahn des Balles.
Würde er sich umdrehen, sähe er das spätmittelalterliche, mit zwei eleganten Türmchen bestückte Schloss Freiberg in der Steiermark, das über dem 18-Loch-Golfplatz thront. Der Sage nach hauste hier «einst ein gar stolzer und hartherziger Schlossherr, ein rechter Leutschinder, der seine Untertanen grob behandelte und schändlich ausnützte».
Doch Kurt Goger dreht sich nicht um.
Warum sollte er auch? Hinter ihm sind nur Probleme. Gläubiger und andere Geschädigte. Staatsanwältinnen, Gewerkschafter, Polizistinnen, Journalisten.
Die Schweiz wächst
Mitte der Nullerjahre hebt die Bauwirtschaft ab. Viele qualifizierte Arbeitskräfte ziehen in die Schweiz. Zugleich sind die Hypothekarzinsen tief. Das löst einen regelrechten Bauboom aus. Die meisten Zuzüger kommen aus Deutschland und suchen Wohnraum in Städten und Stadtnähe.
Im Schnitt werden 2009 jeden Tag 110 neue Wohnungen fertiggestellt. In den Agglomerationen ziehen Bauherren Wohntürme in die Höhe. In den Städten wird verdichtet, kleinere Wohnhäuser und Bürogebäude weichen riesigen Überbauungen und spiegelnden Türmen – höher und prächtiger.
Der grösste Schweizer Lohndumpingskandal
Ein Bauunternehmer aus Österreich hintergeht gemäss den Strafverfolgern seine Angestellten und errichtet ein mutmasslich kriminelles System. Heute spielt Kurt Goger Golf in der Steiermark. Warum gingen die Justizbehörden nicht strikter gegen ihn vor? Zur Übersicht.
Kurt Goger kommt 2005 mit seiner kleinen österreichischen Baufirma in die Schweiz. Bis 2015 steigen die Investitionen im Hochbau kontinuierlich von jährlich rund 35 auf 50 Milliarden Franken. Es ist die Zeit für grosse Projekte: In Zürich beginnt die Planung für die Europaallee am Hauptbahnhof und für den Umbau des Toni-Areals im Westen der Stadt; am Stadtrand von Bern wird das Industrieareal Von Roll in ein Hochschulgelände umgestaltet, und vor den Toren Basels entsteht mit dem Vierfeld und dem Helvetia Tower ein Wohn- und Bürokomplex.
Doch für die Baubranche ist der Boom ein zweischneidiges Schwert: Die Auftragsbücher sind voll – aber es mangelt an Fachpersonal. Kaum noch Schweizer wollen sich die oftmals harte Arbeit antun, immer weniger junge Schulabgängerinnen machen eine Lehre auf dem Bau. Was also tun? Clevere Lösungen sind gefragt. Und Bauunternehmer Goger wittert eine Chance.
Trauma
Ein Städtchen südlich von Budapest, eine halbstündige Autofahrt von der ungarischen Hauptstadt entfernt. Der Weg dorthin führt an Industriezonen vorbei, an Mega-Einkaufszentren, Drive-in-Fast-Food-Ketten, Tankstellen.
Jozsef Babai möchte an keinem anderen Ort der Welt leben, wie er uns sagen wird. In dieser Stadt im Nirgendwo ist er daheim, hier fühlt er sich geborgen. Sein Häuschen steht an einer schmalen Nebenstrasse, die der Taxifahrer aus Budapest nur mit Mühe findet. Unter diesem Dach lebt er zusammen mit seiner Frau Andrea und seinem Sohn, Jozsef junior. Ein Hund an einer Kette bellt unaufhörlich, weil Fremde eine Türklingel drücken, die nicht funktioniert, und am Gittertor rütteln. Nachbarn schalten sich ein und rufen zu Babais hinüber. Die Ankunft eines Taxis aus Budapest, der Besuch von Ausländern, die kein Ungarisch reden – das hat hier Seltenheitswert.
Jozsef Babai kennt das Ausland, er hat dort sein Glück versucht: als Gipser in der kleinen, reichen Schweiz. Auf den grossen Baustellen, mitten im Boom.
Und kehrte nach drei Jahren und drei Monaten als kranker, gebrochener, ausgebeuteter Mann zurück. Zurück in sein Häuschen, zurück zur Familie.
Tagelang verschanzte er sich im Schlafzimmer.
Noch nie, sagt seine Frau Andrea Babai, habe sie ihren Mann in einem derart erbärmlichen Zustand gesehen. Sie habe Freunde holen lassen, um ihn aus dem Zimmer zu bringen. «Das war eine schlimme Zeit.» Monatelang musste sich Jozsef Babai krankschreiben lassen. Und auch danach war er lange nicht in der Lage, eine neue Arbeitsstelle zu suchen. Er werkelte am Haus, solange das Geld reichte: fürs Material und fürs Leben. Das war nur möglich, weil auch seine Frau und sein Sohn einer Arbeit nachgingen: sie in einer Fabrik für Zigarettenfilter, der Junior in einer Druckerei.
Seit einem guten Jahr hat Babai wieder eine Arbeit, und er ist froh darum. Er kümmert sich für die Distriktsverwaltung um den Unterhalt von staatlichen Gebäuden. Auf den Bau, sagt Jozsef Babai, setze er keinen Fuss mehr. Nicht nach all dem, was er in der Schweiz erlebt habe.
«Heute», sagt Babai, «gehe ich mit einem Lächeln zur Arbeit. Wir sind ein gutes Team, eine kollegiale Truppe, der Lohn ist bescheiden, doch unsere Leistungen werden geschätzt. Ganz anders als in der Schweiz. Als ich für Goger arbeitete und eine Wand nach der anderen hochzog.»
Neue Regeln
Zur gleichen Zeit, als im ganzen Land der Bau boomt, treten die bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU in Kraft – und damit die Personenfreizügigkeit. Aus Angst vor billigen ausländischen Arbeitskräften, die den Schweizer Arbeitsmarkt überfluten könnten, werden ab 2004 flankierende Massnahmen eingeführt. Seither müssen EU-Bürgerinnen, die hierzulande arbeiten, zu den gleichen Bedingungen angestellt werden wie Schweizer.
In der Baubranche, wo Gesamtarbeitsverträge (GAV) üblich sind, gelten besonders strenge Regeln. Dazu zählen Maximalarbeitszeiten und Mindestlöhne.
Sie sollen verhindern, dass ausländische Firmen die Schweizer Konkurrenz aus dem Markt drängen, weil sie ihren Arbeitern zu tiefe Löhne bezahlen. Wer es trotzdem tut und erwischt wird, zahlt hohe Bussen.
Die Gewerkschaften und die Unternehmen arbeiten hier Hand in Hand. Sie bilden zusammen sogenannte paritätische Berufskommissionen, um die Einhaltung der GAV-Regeln zu kontrollieren.
Entdeckung
Christa Suter war viele Jahre als Sektionsleiterin bei der Gewerkschaft Unia für die Baubranche zuständig. Um 2010 herum war ihr Einsatzgebiet das Limmattal – der «Speckgürtel von Zürich», wie sie sagt. Eine Grossbaustelle nach der anderen schoss dort in den Himmel.
Zusammen mit einem Gewerkschaftskollegen («Wir waren nie alleine unterwegs») fuhr sie von Baustelle zu Baustelle. Sie wollten kontrollieren, wer wo arbeitet und ob die Vorschriften eingehalten werden. Und sie verteilten Flugblätter, verfasst in einem halben Dutzend Sprachen.
An eine Grossbaustelle in Zürich-Altstetten, die sie zusammen mit ihrem Kollegen überprüfte, erinnere sie sich noch sehr genau, erzählt die inzwischen pensionierte Gewerkschafterin. Der Rohbau stand, die Maurer waren abgezogen. «Ich wusste, nun fängt der Innenausbau an. An diesem Tag waren nur wenige Arbeiter auf der Baustelle. Plötzlich sah ich zwei Männer. Sie trugen zerlumpte Kleider, löchrige Schuhe. Sie hatten offensichtlich Angst vor uns. So etwas Desolates hatte ich noch nie gesehen.»
Ihr sei klar gewesen, dass die Männer Gipserarbeiten ausführten. «Später bemerkte ich, dass sie kaum mehr Zähne im Mund hatten – ein Zeichen grösster Armut. Als sie mich und meinen Unia-Kollegen sahen, verschwanden sie und wollten sich verstecken. Ich spürte sie auf. Und versuchte, mit ihnen zu reden. Erfolglos. Sie verstanden keine der Sprachen, die mir geläufig sind.»
Kurz darauf, erinnert sich Suter, sei ein Mann aufgetaucht und habe in harschem Ton gefragt, was sie hier wollten. Und er habe ihnen verboten, mit den beiden Arbeitern zu reden.
«Also ging ich in die Garage runter», erzählt Suter weiter, «weil ich hoffte, auf Firmenwagen zu stossen. Aber es standen nur Privatwagen dort, ohne Aufschriften. Was mir auffiel: Die Autos hatten ungarische Nummernschilder. Ungarische Arbeiter auf einer Schweizer Baustelle? Das war mir neu. Aber jetzt verstand ich, warum ich mich mit den Männern nicht verständigen konnte.»
Nach ihrer Entdeckung in der Garage suchte die Gewerkschafterin den Bauleiter auf und fragte, welche Firma für die Gipserarbeiten zuständig sei.
Die Goger-Swiss AG, lautete die Antwort.
«Von dieser Firma», sagt Suter, «hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nie gehört. Doch nach der Begegnung mit den zerlumpten, zahnlosen und verängstigten Arbeitern war mir klar: Dieser Sache muss ich nachgehen.»
Desaster
Heute, über zehn Jahre später, ist der Fall Goger ein Scherbenhaufen. Und ein juristisches Desaster für die Behörden.
Die Strafverfolger gehen heute von rund 150 geschädigten Arbeitern aus, 9 Personen werden beschuldigt, Straftaten begangen zu haben. Etwa ein Dutzend Staatsanwältinnen und 35 Rechtsanwälte haben sich bislang mit der Aufarbeitung des grössten Lohndumpingfalls der Schweiz beschäftigt. Je nach Quelle wird der mutmassliche Schaden auf einen einstelligen oder zweistelligen Millionenbetrag beziffert.
Kurt Goger und seine Goger-Swiss AG hatten laut Strafverfolger jahrelang den fairen Wettbewerb im Trockenbau ausgehebelt. Offerten von gesetzeskonformen Gewerblern wurden bei Auftragsvergaben kaum noch berücksichtigt: Sie waren zu teuer.
Gleichzeitig habe Goger seine Arbeiter ausgebeutet. Die Arbeitsbedingungen seien unzumutbar und gesetzeswidrig gewesen. Goger habe seine Gipser aus Ungarn dazu gezwungen, ihm jeden Monat einen grossen Teil ihres Lohnes zurückzuzahlen. In bar.
Im Dezember 2021 listet die Zürcher Staatsanwaltschaft in einem internen Schreiben, das der Republik vorliegt, zehn Delikte auf, die Kurt Goger vorgeworfen werden:
gewerbsmässiger Betrug
Erpressung
Urkundenfälschung
Unterdrückung von Urkunden
Wucher
ungetreue Geschäftsbesorgung
betrügerischer Konkurs
Sachbeschädigung
Unterlassung der Buchführung
falsche Anschuldigung
Dazu kommen sistierte Prozesse vor Arbeitsgericht und ein Konkursverfahren.
Guten Tag, Herr Goger
Sein Haus hat die Form eines L. Es wurde in den Hang hineingebaut. Ein Flügel ist eingeschossig mit einem schmalen Streifen Garten, auf den anderen Flügel wurde ein zweites Geschoss gesetzt mit separatem Eingang.
Namensschilder sucht man vergebens. Was die Häuser in diesem Quartier verbindet, ist die Tatsache, dass sie sich hier nicht jeder leisten kann.
Wir sind hier, um Kurt Goger zu konfrontieren. Streitet er weiterhin alles ab? Die Ausbeutung, die Lügen, die gefälschten Dokumente?
Wir klingeln, aber nichts passiert.
Auf dem Weg zurück zu unserem Auto, das wir ein Stück entfernt parkiert haben, blicken wir über Gleisdorf. Eine unförmige, auseinandergezerrte Kleinstadt, eingebettet zwischen zwei Hügeln. Hinter dem einen liegt Graz.
Wo ist Goger? Auf dem Golfplatz beim Schloss Freiberg, zehn Minuten von seinem Wohnhaus, warteten wir an diesem Tag vergeblich, stundenlang. Wir besuchten seinen alten Golfclub, Bad Waltersdorf, und seinen früheren Automechaniker. Dieser redete sich in Rage über seinen ehemaligen Kunden, und als wir uns verabschiedeten, sagte er: «Gauner g’hörn in Hefen» – ins Gefängnis. Beim alten Golfclub hat Goger Platzverbot.
Wie wir unsere Autotüren schliessen, rauscht ein blauer Tesla an uns vorbei. Am Steuer: Kurt Goger.
Wir steigen wieder aus und gehen den Weg zurück zu seinem Haus. Der Tesla steht jetzt direkt vor der Haustür. Wir klingeln, Goger öffnet und steht vor uns, braun gebrannt, blau kariertes Kurzarmhemd, beige Hose. Er ist überrascht. Aber nicht freundlich überrascht.
«Ja?»
«Guten Tag, Herr Goger.»
Wir stellen uns vor. Er greift nach seinem Handy in der Hosentasche: «Ich rufe jetzt die Kriminalpolizei.» Und dann, halb zu sich selbst: «Man hat mir gesagt, wenn jemand kommt, soll ich das tun.» Drohend hält er das Gerät ein paar Zentimeter vor sein Ohr: «Es gibt nichts zu sagen, der Fall ist jetzt in Österreich, Sie haben kein Recht mehr. Verschwinden Sie von meinem Privatgrund.»
Wir gehen ein paar Schritte zurück. Goger schliesst die Tür. Und öffnet sie gleich wieder. Das Handy hält er drohend in die Luft. Mit der anderen Hand macht er eine abweisende Geste, als würde er streunende Hunde verscheuchen.
«Verschwinden Sie sofort von meinem Privatgrund.»