Serie «Meine Testamente» – Teil 2

Ach Papa

… mein Vater sagt, entschuldige bitte, entschuldige vielmals, niemals würde ich gehen, ohne Tschüss zu sagen. «Meine Testamente», Teil 2.

Von Mely Kiyak (Text) und Nora Hollstein (Bild), 01.06.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
0:00 / 8:51

Spätsommer. Ich merke, mit mir stimmt was nicht. Nicht die Art von Mit-mir-stimmt-was-nicht, die man im Alltag gelegentlich spürt. Dieses Merken hat schon etwas von Bescheid­wissen. Da ich einige Jahre zuvor an den Augen erkrankt war, konnte ich mir zunächst nicht sicher sein, ob das, was ich sehe, Wirklichkeit ist. Wenn die Augen unzuverlässig sind, misstraut man prinzipiell der eigenen Wahr­nehmung. Aber irgendwann wusste ich es. Hier stimmt was nicht.

Mein Vater ist zu Besuch, ich will abwarten, bis er wieder abreist. Ich ahne, ich muss mich in ärztliche Hände begeben. Es gilt womöglich eine grössere Sache zu bewältigen. Ich möchte aber erst Zeit mit ihm verbringen. Er soll seinen jährlichen Deutschland­besuch in guter Erinnerung behalten. Ich möchte ihn zu seinen Terminen begleiten. Auch Onkel Arif und mein Geschwister werden kommen, um ihn zu sehen. Auch hier muss sich gekümmert werden. Betten müssen bezogen, Hand­tücher gewaschen werden. Die gemeinsamen Abend­essen, die mein Vater bereitet, sind das, woran er sich festhält, nachdem er wieder abgereist ist. Die lauten Quasseleien, die Witze, die Spaziergänge danach. Ich verstehe das. Mein Vater ist die Art Mensch, die seit dem Tag der Geburt ihrer Kinder Angst um sie hat. Der Vater gehört noch zur Generation von Eltern, die mit einer hohen Kinder­sterblichkeit konfrontiert waren. Der Tod eines Kindes ist eine vorstellbare Katastrophe. Wenn mein Vater mitbekäme, dass mit mir etwas nicht stimmt, hätte ich zwei Probleme zu bewältigen. Die alles umwölbende Angst meines Vaters abzuwehren und mich um mich selbst zu kümmern. Ich bin in einem Alter, in dem die Kinder ihre Eltern beruhigen und trösten. Ihnen nicht alles erzählen. Manchmal sogar lügen. Nicht aus Bosheit, sondern um zu beruhigen.

Serie «Meine Testamente»

Krankheit und Tod. Davon erzählt Mely Kiyak. Sie wird sich Zeit lassen. (Sie schafft keine Chronologie.) Zur Übersicht.

Sie lesen: Teil 2

Ach Papa

Teil 3

Wir lachen und nicken

Teil 4

Noch da

Teil 5

Der Himmel fällt runter

Teil 6

Ich bin jetzt so weit

Teil 7

Müller, Meier, Kiyak

Teil 8

Ich, Mely Kiyak …

Teil 9

Wir sind Ge­schich­ten

Teil 10

Guten Morgen, ich bin aufgewacht

Teil 11

Dieses Kind muss bleiben

Ich bin froh darüber, dass ich mich nicht zum sofortigen Arzt­besuch befehlige. Mit einem Besuch ist es bei diesen Symptomen ohnehin nicht getan. Man geht zum ersten Arzt, wartet, erzählt alles, wird zum nächsten Arzt geschickt, geht hin, wartet, erzählt, und so geht es weiter. Bis eine Diagnose feststeht, kann es dauern.

Vaters Abreisetag. Ausgerechnet jetzt ist er so nervös wie nie zuvor. Er zittert unkontrolliert. Am Flughafen verschüttet er den Kaffee im Becher, so sehr spielen ihm seine Nerven und seine Hände einen Streich. Es ist ihm peinlich, er schämt sich. Immer wenn mein Vater sich geniert, mache ich ein Foto von ihm. Er hasst das sehr, aber er muss auch ziemlich lachen. Diesen Gefühls­ausdruck kenne ich, seit mein Geschwister und ich in der Pubertät waren. Ein Schauspiel, das wir sehr lieben. Den Vater so lange provozieren, bis er nicht mehr weiterweiss, er kann nicht wütend sein. Stattdessen bekommt er einen Lachanfall und wir lachen natürlich laut mit.

Als ich Vater zum Gate bringe, an genau die Stelle, wo wir uns jedes Jahr fest und lange umarmen, ein oder zwei kleine Scherze machen, ist er vor Abschieds­trauer und Reise­aufregung so fertig, dass er aus Versehen durch das Drehkreuz gleitet. Ich aber habe noch einen Zipfel seines Pullovers in der Hand, ich rufe, Papa, Papa, wir müssen uns verabschieden, du hast nicht Tschüss gesagt. Ich bin derart erschüttert und entsetzt, ich schreie fast. Erschrocken dreht er sich um. Über das Drehkreuz hinweg, mit den Metall­teilen im Bauch, drücken wir uns hektisch aneinander. Mein Vater sagt, entschuldige bitte, entschuldige vielmals, niemals würde ich gehen, ohne Tschüss zu sagen. Ich weiss auch nicht, was mit mir los ist. Er schluchzt. Ich spüre Vaters heisse Wangen an meinen, er ist etwas fiebrig. Er ist dünn, er ist eigentlich der Kranke in unserer Familie. Wie immer habe ich ihn aufgepäppelt, und ich spüre genau, an welchen Stellen er eine Winzigkeit molliger geworden ist. Die etwas weicheren Wangen, die nicht ganz so knöchernen Schultern, der etwas festere Druck der Umarmung, das habe ich alles meiner Aufpäppelei zu verdanken. Ich lasse ihn los, ich schubse ihn ein klein wenig an, ich winke, ich denke aber auch, armer Vater.

Die Hausärztin untersucht mich. Sie kennt die Krankheits­geschichte mit den Augen und weiss, welchen Weg ich bereits hinter mir habe. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sie immer wieder sagt, wir gehen jetzt mal nicht davon aus, dass es das oder das ist. Sie wiederholt die Sätze so oft, dass ich mit dem Gedanken nach Hause gehe, doch, genau das ist es.

Noch bin ich nicht besorgt. Noch sind es nur Arzt­besuche. Noch habe ich keine Diagnose. Noch bin ich eine, die sich kümmert. Noch bin ich ein freier Mensch. Noch kann ich so tun, als stünden mir alle Wege offen. Noch ist das Leben von ungewisser Dauer.

Ich habe oft so seltsam wenig Kraft. Das fällt mir auf. Ganz plötzlich und rapide bin ich leer.

Ich erhalte einen Anruf. Der Vater ist dran. Das Flugzeug fing auf der Rollbahn an zu brennen. Er und die Mitreisenden wurden in einem Bereich des Flughafens untergebracht, den sie nicht verlassen können. Er will sowieso nicht raus. Sein Gepäck ist noch im Flugzeug. Er wiederholt das ständig, meine Koffer sind da noch drin, sagt er. Er kann nicht aus seiner Haut. Kann das Gepäck nicht Gepäck sein lassen. Ich frage, habt ihr Kontakt zum Flughafen­personal? Die meisten Passagiere sprechen kein Deutsch, sagt Vater, wir warten, es ist sehr kalt. Er berichtet, neben ihm sässe eine schwangere Reisende, sie haben nichts zu essen und zu trinken. Er dankt für den grossen Beutel mit dem Reise­proviant, danke, dass du mir das aufgedrängt hast, ich teile alles.

Ich beende das Telefonat mit ihm und rufe die Polizei an, die Flughafen­verwaltung, die Flug­gesellschaft. Versuche heraus­zufinden, was der Plan ist. Gibt es automatische Umbuchungen? Kann bitte jemand Tee zu den Reisenden bringen? Ich trommele und mache Wirbel. Es sind mittlerweile mehrere Stunden vergangen. Ich kann meinen Vater nicht dazu bewegen, den Flughafen zu verlassen. Ich sage, wir holen dich ab, du ruhst dich aus, wir buchen dir einen neuen, einen sicheren Flug. Mein Vater will nicht. Ich denke natürlich auch die ganze Zeit, das sind Zeichen. Hol ihn raus. Erzähle ihm alles. Ich denke, wenn ich dieses Jahr nicht überlebe, wird er es sich nie verzeihen, dass er darauf bestanden hat, im Flughafen zu bleiben. Dass er nicht rausgekommen ist. Dass wir nicht noch ein oder zwei weitere Tage miteinander verbracht haben.

Um den Akku seines Telefons nicht unnötig zu leeren, fasst er sich kurz. Ja, nein, ich warte. Ich aber will reden. Kann und mag jetzt nicht loslassen. Habe das intensive Gefühl, hier den Lauf der Dinge verändern zu müssen. Papa, bist du glücklich? Wovor hast du Angst? Sei nicht traurig irgendwann, ja? Weisst du, dass mir nichts fehlt? Dass ich alles hatte? Das musst du wissen. Nichts davon sage ich. Ich sage, ach Papa …!

Am nächsten Morgen, er ist schon auf dem anderen Kontinent, ruft er mich an. Er klingt gelöst. Na, sagt er, da hast du deinen Papa aber als ganz schönen Trottel erlebt, was? Ich sage, ach was. Nicht mehr als sonst. Wir lachen.

Zur Autorin

Mely Kiyak schreibt Bücher und Theater­stücke. Zuletzt erschienen «Frausein» (2020) und «Werden sie uns mit FlixBus deportieren?» (2022), beide beim Hanser-Verlag in München. Als Schrift­stellerin ist sie vielfach ausgezeichnet worden. In den Jahren 2019 und 2020 schrieb Kiyak auch Kolumnen für die Republik.

Sie lesen: Teil 2

Ach Papa

Teil 3

Wir lachen und nicken

Teil 4

Noch da

Teil 5

Der Himmel fällt runter

Teil 6

Ich bin jetzt so weit

Teil 7

Müller, Meier, Kiyak

Teil 8

Ich, Mely Kiyak …

Teil 9

Wir sind Ge­schich­ten

Teil 10

Guten Morgen, ich bin aufgewacht

Teil 11

Dieses Kind muss bleiben