Der Mobilfunkreport – Teil 1

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Wellenritt ins Ungewisse

Der Aufbau des 5G-Netzes stösst auf Widerstand. Der Grund: Über die Gesundheits­risiken ist wenig bekannt – jedenfalls weniger, als die Industrie behauptet. Doch die Schweiz knausert bei der Forschung. Der Mobilfunkreport, Teil 1.

Von Pascal Sigg (Text) und Yoshi Sodeoka (Animation), 30.05.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
0:00 / 32:18

Das Misstrauen in Herrliberg am Zürichsee war an diesem Abend im Januar irgendwann so gross, dass die Leute keine Antworten auf Fragen mehr hören wollten. Sie winkten stattdessen nach dem Mikrofon, um Dinge richtig­zustellen, Ärger loszuwerden, auf Ungereimtheiten hinzuweisen.

Eigentlich wollte Sunrise-CEO André Krause in seiner Wohn­gemeinde selber «korrekt und umfassend» über den Mobilfunk­standard 5G und den Schutz der Bevölkerung informieren. So hatte ihn die «Zürichsee-Zeitung» zitiert, nachdem sich Anwohnerinnen gegen das Bauprojekt einer zusätzlichen Sunrise-Mobilfunk­antenne auf einem Wohnblock gewehrt hatten.

Krause lud in den imposanten Saal des Restaurants Rössli zur Vogtei. Hier war Krause nicht im gläsernen Firmen­hauptsitz am nördlichen Zürcher Stadtrand. Hier war er bei den Leuten.

Und die Leute waren über die Gesundheits­risiken von Mobilfunk­strahlung offensichtlich anderer Meinung als der Sunrise-Chef. Krause zeigte dazu bloss eine einzige Folie mit dem Titel: «Über 30 Jahre Forschung: keine Gesundheits­risiken». Den Rest der Präsentation überliess er Dr. Jürg Eberhard, der «interessen­neutrale Vermittlung der Wissenschaft» versprach.

Der Mobilfunkreport

Der Aufbau des 5G-Mobilfunknetzes kommt in der Schweiz nicht so voran, wie sich das die Anbieter wünschen. Die Widerstände gegen die neue Technologie sind gross; viele Menschen fürchten um ihre Gesundheit. Doch Politik und Wissenschaft gelingt es nicht, Vertrauen zu schaffen. Was läuft falsch? Eine Miniserie in zwei Teilen. Zur Übersicht.

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Wellenritt ins Ungewisse

Doch selbst der kostenlose Wein und die offerierten Apéro­häppchen konnten die Stimmung nicht retten. «Alles wird erlogen!», polterte ein aufgebrachter Herr ins Mikrofon. Zwar fehlten Verschwörungs­theorien, und die Leute im Saal brachten ihre Ansichten mehr oder weniger gesittet zum Ausdruck. Krause, der stets ruhig geblieben war, sagte trotzdem irgendwann: Wer selber informieren wolle, möge eine eigene Veranstaltung abhalten.

Am Ende des Abends, als alles gesagt und wenig besprochen war, blieben nicht nur viele Häppchen übrig, sondern auch zwei Erkenntnisse:

  1. Das Misstrauen gegenüber Mobilfunk­anbietern ist immens.

  1. Es wird dadurch angefacht, dass Sunrise und Co. in den Augen vieler die Gefahren der Mobilfunk­strahlung kleinreden.

Sind tatsächlich viele Schweizerinnen übertrieben ängstlich und schlecht informiert? Oder verharmlosen Politik und Industrie mögliche Gesundheits­risiken von Mobilfunk­strahlung? Mit diesen Fragen muss sich aktuell auch das Schweizer Parlament beschäftigen. Eine Motion der FDP-Fraktion sieht vor, das 5G-Netzwerk so schnell wie möglich aufzubauen und dabei die Grenzwerte erheblich zu erhöhen. National- und Bundesrat befürworten den Vorstoss. Die zuständige Kommission des Ständerats hat letzte Woche entschieden, dass der Aufbau des 5G-Netzes voran­getrieben werden soll, jedoch ohne Erhöhung der Grenz­werte. Kommende Woche berät der Ständerat darüber.

Die Strahlung erreicht unsere Körper

Damit wir auf einem Spaziergang facetimen oder Emojis verschicken können, nutzen unsere Smart­phones elektro­magnetische Felder, die von Mobilfunk­antennen erzeugt werden. Die Felder bewegen sich in Wellen, ähnlich denjenigen, die ein ins Wasser geworfener Stein in einem stillen Teich verursacht. Die Wellen werden zu Informations­trägern, indem beispiels­weise ihre Höhe (die Amplitude) oder der Abstand der Wellen­berge (die Frequenz) verändert wird. Die Wellen verebben, wenn keine weiteren Antennen sie aufnehmen.

Grundsätzlich stimmt: Je kürzer der Abstand zwischen den Antennen ist, desto weniger müssen sie leisten, um einander zu erreichen. Experten erklären deshalb immer wieder, dass die meiste Strahlung von den Endgeräten selber ausgeht – vor allem bei schwachem Empfang.

Die hochfrequente 5G-Technologie nutzt zwar dieselbe Art von Wellen. Doch ihr zentrales Versprechen lautet: viel höhere Effizienz durch eine verbesserte Art der Übertragung dieser Wellen. Neue, sogenannt adaptive Antennen können ihre abgestrahlte Leistung konzentrierter und gezielter aussenden. Sie sind nur dann aktiv, wenn Daten übertragen werden, und nur in die Richtung des aktiven Empfängers. Weil diese Antennen auch mehrere Benutzerinnen innerhalb eines Strahls gleichzeitig versorgen können, kann ihre Strahlung allerdings kurzzeitig intensiver sein als diejenige herkömmlicher Technologien.

Egal ob kurz und stark oder lang und schwach: Die Energie dieser Wellen erreicht auch unsere Körper. Und die Strahlung tieferer Frequenzen dringt tiefer ein als diejenige höherer Frequenzen.

Je nach Eindring­tiefe sind andere Körperzell­typen betroffen. Unsere Körper senden auch selber elektro­magnetische Wellen aus, insbesondere via Nerven­system. Sie tun dies allerdings auf deutlich tieferen Frequenzen als der Mobilfunk. Grundsätzlich gilt: Unsere Körper werden leitfähiger, je höher die Frequenz der von aussen eintreffenden Wellen ist.

Beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen mit möglichen Auswirkungen von Handy­strahlung auf unsere Gesundheit, müssten sie zum Beispiel folgende Fragen interessieren: Was genau passiert kurz- und langfristig in Hautzellen, wenn sie mit intervall­artiger Handy­strahlung verschiedener Frequenzen in Kontakt kommen? Wie reagiert das Nerven­system auf die Signale von aussen? Und unter welchen Umständen könnten diese uns allenfalls schaden?

Eine zu einfache Antwort

An der Veranstaltung in Herrliberg hatte Jürg Eberhard eine einfache Antwort auf diese komplizierten Fragen: Mobilfunk­strahlung habe nur dann gesundheitliche Folgen, wenn sie die Haut zu stark erwärme. Und dies passiere erst bei hundertfacher Überschreitung der Grenzwerte, die hierzulande übrigens so streng seien wie weltweit sonst nirgends.

Tatsächlich muss die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern mit Mobilfunk­strahlung besonders vorsichtig umgehen. Denn das Umweltschutz­gesetz beinhaltet ein Vorsorge­prinzip. Sofern die Schädlichkeit einer Technologie «feststeht oder zu erwarten ist», sieht dieses einen besonderen Schutz vor. Deshalb kennt die Schweiz auch besonders tiefe Grenzwerte.

Eberhards Erklärung war trotzdem bemerkens­wert. Denn sie beruhte auf einer unvollständigen Betrachtung des Forschungs­stands. Eberhard ignorierte etwa die Interpretationen und Empfehlungen, welche die Beratende Experten­gruppe für nicht ionisierende Strahlung (Berenis) vor zwei Jahren im zweiten Corona-Lockdown in einem Sonder­newsletter verschickt hatte. Die Gruppe, 2014 vom Bundesamt für Umwelt einberufen, sichtet regelmässig neue publizierte wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Mobilfunk­strahlung und wählt jene zur detaillierten Bewertung aus, welche aus ihrer Sicht für den Schutz von Mensch und Umwelt von Bedeutung sein könnten.

Nun hatten zwei Mitglieder, Meike Mevissen von der Universität Bern und David Schürmann von der Universität Basel, in einer vom Bundesamt für Umwelt in Auftrag gegebenen Übersichtsstudie alle zwischen 2010 und 2020 erschienenen relevanten Tier- und Zellstudien auf einen möglichen Zusammen­hang zwischen Zellstress und nicht ionisierender Strahlung untersucht.

Ihr Fazit: Auch unter Berücksichtigung methodischer Schwächen zeichne sich eine Tendenz ab, dass schon wenig Strahlung zu Veränderungen in Zellen führen könne. Es gebe Hinweise, dass Mobilfunk­strahlung bereits im Bereich der bestehenden Grenzwerte gesundheitliche Auswirkungen haben könne. Dies gelte insbesondere bei Kindern und Betagten sowie Menschen mit Immun­schwächen oder neuro­degenerativen Erkrankungen wie Diabetes, Multipler Sklerose oder Demenz.

Als Jürg Eberhard in Herrliberg darauf angesprochen wurde, projizierte er eine bisher nicht gezeigte Folie, um die Bedenken im Saal zu zerstreuen. Bei den erwähnten Wirkungen, sagte er, handle es sich um ein «nicht konsistent nachgewiesenes gesund­heitliches Risiko».

Daraufhin meldete sich eine Dame aus dem Publikum, die sich als promovierte Biochemikerin vorstellte. Die Leute seien nicht ängstlich, sondern machten sich berechtigte Sorgen, sagte sie. Und fügte bei: «Es sind genügend Studien da.»

Als ein Mann fragte, ob für Menschen mit Multipler Sklerose besondere, von Mobilfunk­strahlung verursachte Gesundheits­risiken bestünden, gab Eberhard Entwarnung. Worauf sich der Herr, der sich als Elektro­ingenieur vorgestellt hatte, demonstrativ von seinem Platz erhob und zu einem der Bartische schritt.

Es war offensichtlich: Eberhard stiess viele Anwesende, die sich selber vertieft mit der Sache beschäftigt hatten, vor den Kopf, weil sie seine Position nicht teilten. Und er mit dieser die Mobilfunk­anbieter stützte. Eberhard schreibt dazu auf Anfrage, ihm sei an der Veranstaltung in Herrliberg «offensichtlich nicht gelungen, den Stand des Wissens beziehungs­weise Unwissens aufzuzeigen».

Was die Industrie behauptet

Das Problem: Nichtwissen wird von der Industrie forsch zu Wissen umgedeutet. Wenige Tage nach der Info­veranstaltung in Herrliberg sagte Sunrise-CEO Krause in der SRF-Sendung «Eco Talk»: «Die wissenschaftliche Erkenntnis, die wir heute haben, weist klar nach, dass es keine bedenklichen Heraus­forderungen der 5G-Strahlung gibt.» Salt-CEO Pascal Grieder legte kurz darauf im «Blick» nach: «Die seriösen wissenschaftlichen Studien sind ausgesprochen klar in der Aussage, dass Mobilfunk­strahlung weitgehend unbedenklich ist.»

Von einem derartigen Konsens ist die Wissenschaft allerdings weit entfernt.

Der polnische Forscher Dariusz Leszczynski ist einer der international respektiertesten Experten auf dem Gebiet. «Wir haben Tausende Studien, aber die meisten sind von schlechter Qualität», sagte er unlängst in einem Podcast-Interview. «Wenn die Leute wüssten, wie schlecht die Qualität der Studien ist, auf Basis derer wir sagen, dass wir vor der Strahlung geschützt sind, wären sie erstaunt und schockiert.»

Trotz Tausender Studien ist also immer noch zu wenig über die möglichen Wirkungen nicht ionisierender Strahlung bekannt. Und damit ist der Raum für unter­schiedliche Inter­pretationen riesig.

Wichtig in diesem Interpretations­streit ist die Internationale Kommission zum Schutz vor nicht ionisierender Strahlung ICNIRP. Die Gruppe von Forscherinnen ist sehr einflussreich, da sie Empfehlungen für Grenzwerte abgibt. Allerdings verfügt der Verein, der seine Mitglieder selber bestimmt, über kein offizielles Mandat dazu. Nachdem Medienberichte und die Grünen im EU-Parlament Interessen­konflikte und fehlende Transparenz kritisiert hatten, erklärte sich die Gruppe vor einem Jahr. Heute publiziert sie ihre Jahres­berichte und deklariert Einnahmen und Interessen der Mitglieder.

Die Position der ICNIRP bleibt jedoch radikal: Risiken, die nicht wissenschaftlich zweifelsfrei bewiesen sind, anerkennt sie nicht. Und sie akzeptiert weiterhin nur das sogenannte thermische Wirkmodell, wonach nicht ionisierende Strahlung die Oberfläche menschlicher Körper einzig erwärmen kann.

2020 präsentierte die Gruppe überarbeitete Empfehlungen zur Festsetzung der Grenzwerte. Ihr Vorsteher sagte, die Richt­linien seien nach einer gründlichen Sichtung der relevanten Wissenschafts­literatur entwickelt worden: «Sie schützen gegen alle wissenschaftlich nachgewiesenen Gesundheits­beeinträchtigungen durch elektro­magnetische Felder im Spektrum von 100 Kilohertz bis 300 Gigahertz.» Die Schweizer Mobilfunk­anbieter berufen sich bei ihrer Interpretation der Gesundheits­risiken auf diese Beurteilungen der Gruppe.

Gegründet worden war sie 1992 unter anderem vom australischen Strahlen­forscher Michael Repacholi. Dieser liess sich später als Direktor des Programms zur elektromagnetischen Strahlung der Weltgesundheits­organisation (WHO) vom Mobiltelefon­hersteller Motorola jährlich 50’000 Dollar zuschanzen. Im Nachhinein wurde dann bekannt, dass Motorola 1994 zusammen mit einer PR-Firma unliebsame Forschungs­ergebnisse gezielt in Zweifel gezogen hatte.

Die Strategie: konsequent darauf hinweisen, dass Studien­ergebnisse noch nicht bestätigt wurden. Zudem sollten glaubwürdige, respektierte Wissenschaftler rekrutiert werden, die diesen Standpunkt anstelle eigener Expertinnen vertraten. Der damals verantwortliche, auf Energie­themen spezialisierte Berater arbeitete von 2014 bis 2020 bei der PR-Agentur Hill + Knowlton Strategies – einer Partnerin der Berner Agentur Furrerhugi, die im Auftrag des Schweizerischen Verbands der Telekommunikation (Asut) lobbyiert.

Die enge Interpretation der ICNIRP, wonach Mobilfunk­strahlung bloss die Haut­oberfläche erwärmen kann, teilen heute nicht mehr viele Forscherinnen. Im vergangenen Jahr kamen Kritiker zum Schluss, dass sich die Gruppe bei der Überarbeitung der Strahlenschutz­grenzwerte im Jahr 2020 selbst­referenziell auf lediglich 17 Autoren bezogen hatte, die fast alle mit ihr verbunden waren. Skeptische Wissenschaftlerinnen gründen deshalb eigene Gruppen, die andere Empfehlungen abgeben, oder unterzeichnen Appelle. Damit rufen sie die WHO und die Uno sowie deren Mitglieds­staaten dazu auf, die globalen Bedenken bezüglich der Auswirkungen von elektro­magnetischer Strahlung auf Mensch und Umwelt ernst zu nehmen.

Auch die Schweizer Berenis-Gruppe will sich nicht zu stark an den Empfehlungen der ICNIRP orientieren: Es gebe weiterhin genügend Unsicherheiten, insbesondere im Bereich der 5G-Frequenzen.

Resilienz, Ratten und Replikationen

Drei Monate nach dem Herrliberger Infoabend sitzt Berenis-Mitglied Jürg Fröhlich im engen Sitzungs­zimmer seiner Kleinfirma in einem unscheinbaren Altbau oberhalb des Zürcher Hegibach­platzes. Die Firma stellt Geräte zur wissenschaftlichen Messung nicht ionisierender Strahlung her. Vor der Firmen­gründung 2014 hatte er 9 Jahre an der ETH an biologischen und medizinischen Anwendungen und Auswirkungen von elektro­magnetischen Wellen und Licht geforscht.

Heute beliefert seine Firma Umwelt­ämter und Universitäten auf der ganzen Welt mit Geräten, die für die epidemiologische Forschung eingesetzt werden.

Fröhlich gilt als integer und unabhängiger als andere, weil er auf keine Zuwendungen aus der Industrie angewiesen ist, keine Forschungs­gelder akquirieren muss. Er sagt, er habe sich während des Studiums zunehmend für Wissenschafts­theorie und -soziologie interessiert. Wie kommt man mit einer gewissen Methodik zu einem sogenannten Konsens über die Wahrheit, und was bedeutet diese?

Und so ist Fröhlich ein gefragter Mann, wenn es um Studien geht, die die Wirkung von Mobilfunk­strahlung untersuchen.

Herr Fröhlich, weshalb wissen wir denn so wenig über die Gesundheits­risiken von Mobilfunk­strahlung?

Fröhlich nennt vier Gründe.

Erstens: Das Forschungs­feld ist komplex und braucht inter­disziplinäre Expertise. Um elektro­magnetische Felder und Mobilfunk­technologien zu verstehen, ist physikalisches und technisches Wissen nötig – von Physikern, Elektro­ingenieurinnen. Um den menschlichen Körper zu verstehen, braucht es zum Beispiel Mediziner, Mikro­biologinnen oder Neurologen.

Zweitens: Verschiedene biologische Effekte von Mobilfunk­strahlung sind zwar identifiziert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Effekte auch gesundheitliche Auswirkungen haben. So kann Zellstress innerhalb eines bestimmten Bereichs beispielsweise auch regenerativ wirken: «Unsere Körper sind Selbstreparatur­maschinen. Aber wir haben noch nicht identifiziert, unter welchen Umständen der Zellstress mehr schadet als nützt. Dies ist direkt auch sehr schwer bestimmbar, da sehr viele Einflüsse Zellstress erzeugen können.»

Drittens: Bezüglich Einflüssen auf Gewebe gibt es kaum Forschung am Menschen direkt, weil das in der Praxis schwierig umzusetzen ist. Die meisten Studien basieren auf Tier­versuchen oder Experimenten mit Zellkulturen oder Modell­organismen, wobei unklar bleibt, ob sich die Resultate auf den Menschen übertragen lassen.

Und viertens: Von fast allen wichtigen Studien, in denen Forscher allenfalls gesundheits­schädliche Wirkungen identifizierten, fehlen Replikations­studien, welche die Resultate ein zweites oder drittes Mal unabhängig überprüfen.

Dies ist insbesondere auch bei der bisher grössten und teuersten Langzeit­studie der Fall, der sogenannten NTP-Studie des US-Gesundheits­departements. Sie kostete 30 Millionen Franken. Doch die Versuchs­einrichtung – alleine im Wert von 10 Millionen – wurde vor der Auswertung der Resultate sofort wieder abgebaut. Nun soll die Studie endlich in Japan und Südkorea teilweise wiederholt werden. Allerdings nicht mit derselben Bestrahlungs­intensität.

Fröhlich schüttelt den Kopf: «Ich kann mir mit Studien­replikationen nichts verdienen. Aufregender ist es, einen Effekt zu entdecken. Eigentlich müsste man mit jeder Studie auch gleich zwei unabhängige Replikationen ansetzen und im Preis einrechnen.»

Und so kann Fröhlich die Ergebnisse vieler aufwendiger und seriöser Studien nur unbefriedigend mit folgendem Prädikat bewerten: begrenzte Evidenz.

Die Hoffnung: Staatlich motivierte Forschung

Trotzdem liefern viele dieser Studien immerhin bemerkens­werte Hinweise, die weitere Forschung eigentlich unabdingbar machen. Kann Mobilfunk­strahlung allenfalls das Gleich­gewicht innerhalb von Zellen entscheidend stören? Kann sie Vorerkrankungen verstärken? Reagieren unter Umständen junge und alte Menschen sensibler? Wie genau kann sie die Hirnaktivität beeinflussen? Schadet sie der menschlichen Fortpflanzungs­fähigkeit?

Zu all diesen Fragen gibt es internationale Expertinnen, die besorgt sind. Hugh Taylor zum Beispiel, Professor für Geburts­hilfe und Gynäkologie an der Yale School of Medicine, sagte dem US-Online­magazin «Pro Publica»: «Die Beweise sind sehr, sehr stark, dass es einen kausalen Link gibt zwischen Verhaltens­auffälligkeiten bei Kindern und Mobilfunk­strahlung.» Während der Zeit der Gehirn­entwicklung sei der Fötus sehr verletzlich. Auch er bezog sich dabei auf Forschung mit Mäusen.

Woran sollte denn jetzt besonders intensiv geforscht werden, Herr Fröhlich?

«Ich würde beim Nervensystem ansetzen. Damit erzeugen unsere Körper selber elektro­magnetische Felder. Gibt es einen direkten oder indirekten Einfluss auf neuro­degenerative Krankheiten wie Demenz oder Multiple Sklerose? In diesem Bereich wird experimentell bereits geforscht. Doch man steht erst ganz am Anfang.»

Sinnvoll fände Fröhlich auch, wenn seine frühere Forschung weiterverfolgt würde. Konkret: Was passiert akut, wenn Radiofrequenz­strahlung für Therapie und Diagnose genutzt wird? Gibt es irgendwelche Neben­effekte, die allenfalls wieder korrigiert werden, oder nicht? Mit seinen Forschungs­kollegen hat er beobachtet, dass man mit nieder­frequenten Magnet­feldern ab einer bestimmten Stärke die Zellregeneration anregen und dies biologisch messen kann. «Die Frage stellt sich nun: Ab welchem Level passiert dies nicht mehr? Und was sind die entscheidenden Faktoren?»

Gegenwärtig laufen international zahlreiche grosse Forschungs­anstrengungen. Ein Cluster von vier Projekten von drei bis fünf Jahren Laufzeit hat total 29 Millionen Euro aus dem «Horizon»-Topf der EU erhalten. Fröhlich ist an einem dieser Projekte beteiligt. Das Schweizerische Tropen- und Public-Health-Institut an zwei. Auch die WHO gab systematische Reviews in Auftrag, deren Ergebnisse im Verlauf dieses Jahres erwartet werden.

Fröhlich verspricht sich dabei am meisten von staatlich motivierter Forschung durch politischen Druck. Risiko­forschung sei aufwendig, meist fächer­übergreifend und führe nicht zu schnellen Publikationen. Zudem sei der Bereich elektro­magnetische Strahlung weniger attraktiv für die persönliche Profilierung im akademischen Umfeld als neue Technologien. «Was erforscht wird, ist nicht immer zuerst eine wissenschaftliche Frage, sondern eine Vorlieben­frage», sagt Fröhlich: «Wofür erhält man Aufmerksamkeit? An welche Förder­töpfe gelangt man? Es gibt Wissenschaftler, die sich dieser Fragen auch so annehmen, aber meistens wird diese Forschung getriggert durch ein politisches Bedürfnis nach Klärung und nicht durch die hochgelobte curiositas

Fröhlichs Standpunkt ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die hitzig geführte Debatte um die Risiken von 5G vor allem eines zeigt: Die Frage, welche Risiken wir bei der immer intensiveren Technologisierung von immer mehr Lebens­bereichen eingehen wollen, ist hochpolitisch. Reicht es uns, zu sehen, dass die Krebsrate ganz allgemein nicht gestiegen ist? Oder wollen wir mit aller Sicherheit ausschliessen können, dass Mobilfunk­strahlung womöglich dazu beiträgt, dass unser Nerven­system Schaden nimmt? Wie viel wollen wir wissen?

Und wem sind wir zu vertrauen bereit?

Industrie-PR im ETH-Mäntelchen

Die Mobilfunk­anbieter selber behandeln diese Fragen zweifellos bereits hochpolitisch. Dabei suchen sie die Autorität wissenschaftlicher Expertise. Jürg Eberhard – der von Sunrise geladene Experte – wurde später in einem Bericht über den Anlass in Herrliberg von TeleZüri als «Strahlen­forscher» bezeichnet. Und Sunrise-CEO André Krause sagte kurz darauf, Eberhard erforsche das Thema an der Universität Zürich.

Beides stimmt nicht und suggeriert eine Expertise, die Eberhard gar nicht hat.

Jürg Eberhard ist nämlich kein Mobilfunk­experte. Vielmehr trat er in Herrliberg als Geschäfts­führer der «Forschungs­stiftung Strom und Mobil­kommunikation» auf. Die Stiftung bezeichnet sich als «die kompetente Anlauf­stelle für Personen und Institutionen aus Politik, Wirtschaft und Zivil­gesellschaft». Es ist eine Organisation der Mobil­funkindustrie. Swisscom, Salt, Sunrise und der Branchen­verband Asut sind alle dabei.

Eberhard verfügt zwar über einen Doktortitel der ETH, doch elektro­magnetische Strahlung ist nicht sein Fachgebiet. Er forscht auch nicht selber, obschon er auch schon als ETH-Forscher betitelt wurde. Gemäss eigenen Angaben hat er Erfahrung mit der Entwicklung und dem Management von Start-ups und auf Führungs­ebene im Energiesektor. Auf Anfrage schreibt Eberhard, er beschäftige sich seit 2021 mit Mobilfunk, und seine Tätigkeit beschränke sich auf «Zusammen­fassungen von andernorts durchgeführten Studien».

Auch sein Arbeitgeber forscht nicht selber. Die «Forschungs­stiftung Strom und Mobil­kommunikation» vergibt Gelder für Forschungs­projekte, publiziert Ergebnisse in wissenschaftlichen Publikationen und vermittelt «Forschungs­fakten und Sachwissen in der Gesellschaft». «Wir halten es für richtig und wichtig», schreibt Eberhard, «wenn die Industrie Eigen­verantwortung wahrnimmt und Forschung zu den Auswirkungen der von ihr eingesetzten Technologien mitfinanziert und diese Aufgabe nicht allein beim Staat hängen bleibt.»

Doch diese Forschung nach dem Verursacher­prinzip ist höchst bescheiden alimentiert. Via Stiftung haben die Mobilfunk­unternehmen in den letzten Jahren verhältnis­mässig wenig Geld in Forschungs­projekte gesteckt. 2021 waren es total 250’000 Franken, 2022 waren es 325’000 Franken und 2023 100’000 Franken – 2024 sei dafür ein grösseres Projekt geplant.

Laut Jürg Fröhlich kostet ein seriöses Forschungs­projekt allerdings mindestens 500’000 Franken – und sollte idealer­weise wiederholt werden. Fröhlich sitzt im wissenschaftlichen Ausschuss der Stiftung. Er erhält dafür kein Geld und beteuert, dass die vertraglich abgesicherte Firewall zwischen Forschung und Auftrag­gebern funktioniere. Die Unternehmen könnten keinerlei Einfluss auf die Vergabe und die Durch­führung der Forschungs­projekte nehmen.

Viel Stiftungsgeld fliesst so in Kommunikation und Gate­keeping. Gemäss Eberhard gehört zu seiner Arbeit auf der Geschäfts­stelle tägliches Monitoring wissenschaftlicher Publikationen oder die Teilnahme an Konferenzen. «Wir geben zu Fachfragen Auskunft gegenüber Sponsoren, Trägern, kantonalen Fachstellen, Gemeinden, Medien, Unternehmen und Privat­personen. Zudem organisieren wir regelmässig Informations­anlässe und halten Vorträge.» Doch hier fehlt eine vergleichbare Firewall zu den Trägern.

Dies führt schon lange zu Kritik. Die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz verliessen 2006 die Stiftung. 2015 sagte die Organisation, die Unabhängigkeit der Information sei «nicht gewährleistet, wenn eine Stiftung, welche hauptsächlich durch die Immissions­verursacher beauftragt wird, bewerten soll, ob die durch den Immissions­verursacher verursachte Immission gesundheits­gefährdend ist».

Was der Forschungs­stiftung trotz allem wissenschaftliche Glaubwürdigkeit verleiht: Sie hat eine Adresse in einem ETH-Gebäude und eine ETH-Web-URL, Jürg Eberhard verfügt über eine ETH-E-Mail und ein ETH-Angestellten­profil. Doch der Eindruck, dass die Stiftung ein Teil der ETH ist, erweist sich als falsch. Gemäss Eberhard ist sie dort bloss «eingebettet». Das Departement Informations­technologie und Elektro­technik stelle der Stiftung ein Büro samt Infrastruktur zur Verfügung, schreibt Eberhard. Die ETH-Medienstelle bestätigt dies. Die Stiftung sei «administrativ» dem Leiter des Instituts für Elektro­magnetische Felder unterstellt.

Allerdings: Es existieren keine Verträge, die die Beziehung regeln. Instituts­leiter ist Jürg Leuthold, der selber die Technologie und nicht deren mögliche Gesundheits­wirkungen erforscht und vor vier Jahren trotzdem sagte, das einzig Gefährliche an 5G sei für ihn die Angst vor 5G.

Die ETH, so Eberhard, profitiere von der Arbeit seiner Stiftung als «Kompetenz­zentrum, welches sich ausschliesslich mit Fragen rund um elektro­magnetische Felder und deren Auswirkungen beschäftigt und die Forschung auf diesem Gebiet international verfolgt». Es gebe keine andere Stelle in der Schweiz, die diese Aufgabe erfüllte.

Nur: Das stimmt nicht. Die vom Bundesamt für Umwelt eingesetzte Experten­gruppe Berenis tut exakt dasselbe – und bewertet den Forschungs­stand mit deutlich mehr wissenschaftlicher Expertise vorsichtiger und kommuniziert deutlich zurück­haltender.

Die verschwundenen Millionen

Der Bund ist auch der kräftigste Förderer von Forschung zu Mobilfunk­strahlung. Trotzdem stockt es auch dort, obschon der politische Wille vorhanden wäre. 2019 forderte die SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher, die im Vorstand des Telecom-Branchen­verbands Asut ist, den Bundesrat in einer Motion auf, die nötigen Massnahmen zu ergreifen, um «die gesund­heitlichen Wirkungen» der Mobilfunk­strahlung «besser zu klären». Die Arbeiten sollten durch die Einnahmen aus der Versteigerung der Mobilfunk­konzessionen von 2019 finanziert werden, mit denen der Bund fast 380 Millionen Franken eingenommen hatte. Denn Graf-Litscher erachtete die existierenden Forschungs­budgets als «völlig ungenügend».

Der politische Prozess verlief ziemlich schnell: Zwei Monate später beantragte der Bundesrat die Annahme der Motion, kurz vor Weihnachten stimmte der Nationalrat zu, nur ein Jahr nach der Einreichung auch der Ständerat.

Verwaltung und Parlament waren sich für einmal einig: Die Schweiz benötigt mehr Geld für Forschung über die gesund­heitlichen Wirkungen von Mobilfunk, und der Bund soll es zur Verfügung stellen.

Doch mehr als zwei Jahre später fehlen die Mittel dafür noch immer. Auf Anfrage schreibt das Bundesamt für Umwelt, es sei daran, die Motion umzusetzen, und verweist auf sechs Forschungs­projekte, die vor wenigen Monaten starteten. Für die zehnjährige Förderung habe man ein Gesamt­budget von 8 Millionen Franken.

Allerdings floss für diese Forschung gar kein zusätzliches Geld. Das Bundesamt für Umwelt habe dafür «intern Ressourcen priorisiert und somit keine zusätzlichen Mittel erhalten». Weshalb, bleibt unklar. Gemäss einem Controlling­bericht erachtet das zuständige Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation seinen Umsetzungs­auftrag trotzdem als erledigt.

Hat es die Motion verwässert? Das Departement will sich nicht äussern, nicht einmal zum Status der Motion. Eine Anfrage bleibt trotz Eingangs­bestätigung zwei Wochen lang unbeantwortet. Auch drei Anrufe zu Bürozeiten beantwortet niemand.

Die fast 380 Millionen Franken, die der Bund für die 5G-Konzessionen von den Mobilfunk­unternehmen erhielt, sind allem Anschein nach schon ausgegeben. Bei der Eidgenössischen Finanz­verwaltung heisst es auf Anfrage: «Einnahmen aus Versteigerungen von Mobilfunk­lizenzen fliessen in die allgemeine Bundeskasse und werden für die verschiedensten Aufgaben­gebiete (soziale Wohlfahrt, Verkehr, Finanzen und Steuern, Bildung und Forschung etc.) verwendet.»

Wie das Parlament fordern auch die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz mehr Forschung. Sie sind die einzige Organisation mit medizinischem Fokus, die sich ausserhalb der Verwaltung mit Risiken von Funkstrahlung beschäftigt.

In einer ausführlichen Stellungnahme gegenüber der Republik schreibt der Verein: «Gerade jetzt, da im Rahmen der digitalen Transformation und der Einführung neuer Mobilfunk­standards die Durchdringung des Alltags mit nicht ionisierender Strahlung zunimmt, müssen sich nationale und internationale Regulierungs­behörden und Beratungs­gremien die Frage stellen, ob die geltenden Regulierungen genügend schützen.» Zudem rechtfertige der aktuelle Forschungs­stand auch eine konsequente Umsetzung des Vorsorge­prinzips.

«Die pauschale Entwarnung gibt es nicht», sagt Berenis-Mitglied Jürg Fröhlich. «Ich sehe nicht, dass es etwas gibt, was alarmierend ist, aber das heisst nicht, dass man es nicht weiter beobachten muss.» Zudem verweist Fröhlich auf die Position seiner Experten­gruppe. «Es gibt im Moment keine Basis, um etwas zu ändern. In unserem Umweltschutz­gesetz steht das Vorsorge­prinzip. Der Vorsorge­grenzwert gilt, weil etwas nicht vollends geklärt ist. Und solange sich diese Unsicherheit nicht auf ein vertretbares Niveau reduziert hat, lässt man es, wie es ist.»

Zur Finanzierung

Die Recherche für den zweiteiligen Mobilfunkreport wurde von Journafonds finanziell unterstützt.

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