Das Hauptquartier am Raiffeisenplatz in St. Gallen (Aufnahme vom 5. Juni 2018). Gaëtan Bally/Keystone

Der Raiffeisen-Gründer und die «Judenfrage»

2005 gestaltete die Künstlerin Pipilotti Rist in St. Gallen den Raiffeisenplatz. Jetzt fordert sie mit jüdischen Persönlichkeiten sowie Historikern und Politikern eine Umbenennung. Denn heute weiss man: Namens­geber Friedrich Wilhelm Raiffeisen war ein notorischer Antisemit.

Von Daniel Ryser, 26.05.2023

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Vorgelesen von Egon Fässler
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«Raiffeisenplatz. Friedrich Wilhelm Raiffeisen 1818–1888. Pionier des genossenschaftlichen Bank­wesens»: So steht es auf einer Gedenk­tafel vor dem Hauptsitz der drittgrössten Schweizer Banken­gruppe.

Der Platz ist auf insgesamt viertausend Quadrat­metern in rote Farbe getaucht. «Roter Platz» nennen sie den Ort deswegen in St. Gallen, seit die Video­künstlerin Pipilotti Rist und der Architekt Carlos Martinez im Auftrag der Bank den Platz mit rotem Kunststoff­granulat versehen haben. Eine «Stadtlounge» sollte es werden, der öffentliche Raum im Bleicheli-Quartier ein «öffentliches Wohn­zimmer», hiess es damals, als die Kunst von Rist und Martinez für grosses Aufsehen sorgte.

Der Rote Platz war offenbar identitäts­stiftend für Raiffeisen. Ein Jahr später integrierte die Bank die Farbe Rot auch ins Logo.

Heute lässt sich die braune Geschichte des Roten Platzes nicht mehr leugnen. Und Rist, Ikone der Popkultur und Künstlerin von Weltruhm, will mit «ihrem» Platz nichts mehr zu tun haben, sofern dieser nicht umbenannt wird. Das sagte sie am Donnerstag an einer Presse­konferenz in St. Gallen. «2005 war diese Geschichte so noch nicht bekannt», sagte Rist. «Ich will nicht, dass ein von uns gestalteter Platz mit einem Antisemiten in Verbindung gebracht wird.»

Am Donnerstag trat sie als Teil einer Gruppe auf, die unter anderem aus dem Historiker Hans Fässler, dem Alt-Ständerat Paul Rechsteiner sowie Mitgliedern der jüdischen Gemeinde bestand, um die Umbenennung des Platzes zu fordern. Und zwar nach der orthodoxen St. Galler Jüdin Recha Sternbuch, die als Flucht­helferin im Zweiten Weltkrieg viele jüdische Menschen vor der Ermordung durch das Nazi­regime rettete.

Aber was hat das mit dem Raiffeisen­platz zu tun?

2018 hatte der deutsche Autor Wilhelm Kaltenborn anlässlich des 200. Geburtstags von Friedrich Wilhelm Raiffeisen im Eigenverlag ein kaum beachtetes Buch veröffentlicht mit dem Titel «Raiffeisen. Anfang und Ende».

Darin belegte er anhand von historischem Quellen­material, dass der Gründer der Raiffeisenbank ein derart glühender und prominenter Rassist und Antisemit war, dass sich zu einer Feier aus Anlass seines 50. Todestages im Jahr 1938 im rheinland-pfälzischen Neuwied zahlreiche Nazigrössen einfanden. NSDAP-Gauleiter Gustav Simon sagte mit Blick auf die antisemitischen Schriften des Raiffeisen-Gründers: «Wir dürfen daher als National­sozialisten Friedrich Wilhelm Raiffeisen als einen der unserigen nennen. (…) Wir National­sozialisten bejahen Raiffeisen auch deshalb, weil er dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts einen starken Schlag versetzt hat. Er hat den jüdischen Wucher­kapitalismus als Erster bekämpft. Er hat das deutsche Bauerntum frei gemacht aus den Klauen der jüdischen Zinswucherer.»

In mehreren Schriften hatte Friedrich Wilhelm Raiffeisen ein zutiefst antisemitisches und rassistisches Weltbild offenbart.

1881 beispielsweise hatte er im «Land­wirtschaftlichen Genossenschafts­blatt» einen fünfseitigen Aufsatz mit dem Titel «Die Judenfrage» publiziert. Jüdische Menschen seien unredlich, Wucherer, die Vertreibung aus Spanien 1492 die gerechte Strafe für ihren Verrat an den Westgoten; und wären sie damals nicht aus Spanien vertrieben worden, dann wäre ihnen der Reichtum Amerikas in die Hände gefallen, während sich Europa in den Fesseln einer «goldenen Internationale» befinde, die auch die Raiffeisen­bewegung bedrohe. Damit verwies Raiffeisen auf die Broschüre «Die goldene Internationale und die Nothwendigkeit einer socialen Reform­partei» des deutschen Politikers Carl Wilmanns, der als Begründer des rassistisch motivierten Antisemitismus gilt.

Der Raiffeisenplatz, benannt nach einem Mann, der rassistische und antisemitische Verschwörungs­theorien verbreitete, grenzt in St. Gallen nicht nur an den Hauptsitz der Bank. Er grenzt auch an die Synagoge.

«Wir stehen hier an der Schnitt­stelle der drei jüdischen Gebets­häuser, die im letzten Jahrhundert genutzt wurden», sagte Batja P. Guggenheim-Ami von der Jüdischen Gemeinde St. Gallen auf dem Raiffeisenplatz. «Ein historisch mehr als passender Ort.»

«Die neue Namens­nennung des Roten Platzes wird für die jüdische Gemeinde in St. Gallen Verneigung und Dankbarkeit gegenüber Recha Sternbuch bedeuten», sagte Guggenheim-Ami. «Ihr Gedenken wird Trost für diejenigen sein, die unter den unfassbaren Schrecknissen eines menschen­verachtenden Gedankengutes während des Holocausts gelitten haben, und für die Nachwelt wird es ein lebendiges Beispiel für Zivil­courage werden.»

Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems (A), sagte, die Adresse der Sternbuchs sei auch Flüchtigen bekannt gewesen, die anderswo über die Grenze gekommen seien. «Sie wussten, sie mussten nach St. Gallen», sagte Loewy. «Alle, die sich mit ihrer Geschichte beschäftigt haben, alle, die noch Überlebende kannten und befragten, Leute, die von ihr gerettet wurden, wissen: Diesen Platz hätte sie schon lange verdient.»

Der ehemalige WOZ-Journalist und Historiker Stefan Keller führte dann aus, wie Recha Sternbuch Menschen gerettet hatte: Mittels eines Konsulats­angestellten in Bregenz habe sie Einreisevisa organisiert. Im Rheintal habe sie ein «Schleppernetz» unterhalten: Ein Vorarlberger Schmuggler namens Edmund Fleisch habe die Menschen heimlich über die Grenze gefahren. Der Diepoldsauer Gemüse­händler Willi Hutter habe sie dann auf seinem Lastwagen unter einer Plane versteckt, getarnt als Gemüse­lieferung, nach St. Gallen zu den Sternbuchs gefahren, wo diese die Weiterreise organisierten.

«In anderen, ebenfalls dokumentierten Fällen ging Recha Sternbuch direkt an die Grenze. Holte Flüchtlinge ab. Verhandelte mit den Grenz­behörden. Telefonierte mit Hauptmann Paul Grüninger oder liess ihn kommen, mitten in kalten Winter­nächten», sagte Keller.

Historiker Keller hatte 1993 mit der historischen Reportage «Grüningers Fall» die Rehabilitierung des St. Galler Polizei­kommandanten Paul Grüninger angestossen, der 1940 wegen Amtsgeheimnis­verletzung und Urkunden­fälschung verurteilt und ohne Pensions­anspruch entlassen worden war – weil er nach der Grenz­schliessung 1938 mit vordatierten Visa Hunderten Menschen die Einreise in die Schweiz ermöglichte und sie vor der Ermordung durch die Nazis rettete.

2006 war das Stadion Krontal des lokalen Fussball­clubs SC Brühl in Paul-Grüninger-Stadion umbenannt worden: Grüninger war Spieler jener Brühler Mannschaft gewesen, die 1915 die Schweizer Meisterschaft gewonnen hatte.

Und nun Sternbuch statt Raiffeisen.

Verantwortliche von Stadt und Raiffeisen­bank zeigten sich nicht an der Presse­konferenz. Dabei wissen sie spätestens seit dem 2. Juni 2021 über den Antisemitismus von Namensgeber Raiffeisen Bescheid. Und auch über die Pläne, den Platz umzubenennen. Das sagte Initiator und Sklaverei­forscher Hans Fässler in St. Gallen.

Damals habe man dem Stadtrat und der Bank einen «sehr ausführlich dokumentierten Brief geschrieben», sagte der Historiker. «Das haben wir nicht öffentlich gemacht, um der Stadt und Raiffeisen Zeit zu geben, sich ohne medialen Druck mit der einerseits komplexen, andererseits aber auch ganz einfachen Materie zu befassen», sagte Fässler. «Die Zeit ist nun abgelaufen.»

In dem Brief an den St. Galler Stadtrat, der die Namens­änderung zu veranlassen hat, heisst es unter anderem: «Mit Recha Sternbuch würde eine Frau gewürdigt, die Familien­arbeit mit sechs Kindern und politisches Engagement zu verbinden vermochte, was durchaus den bereits erhobenen Forderungen entsprechen würde, dass Frauen und ihre Leistungen im Alltag gleich sichtbar sind wie Männer.»

Zwar hätten Stadt und Raiffeisen schliesslich im Sommer 2022 signalisiert, eine mögliche Umbenennung – weg vom Antisemiten Raiffeisen hin zur jüdischen Flucht­helferin Sternbuch – wäre «stimmig», seither habe man aber nichts mehr gehört.

Egal wie sehr Stadt und Raiffeisen in Deckung gingen, sagte Fässler: «Die Umbenennung wird kommen.»

Davon ist auch Pipilotti Rist überzeugt. Im Vorfeld der Presse­konferenz hatte sich die Republik schriftlich mit der Video­künstlerin ausgetauscht.

«Mir ist es wichtig, einen Beitrag dafür zu leisten, dass wir als Gesellschaft eine Erinnerungs­kultur pflegen», schrieb Rist. «Wir können Unrecht, das geschehen ist, nicht wiedergutmachen. Doch wir können Nein sagen zum Unrecht und mit dieser Umbenennung einen Menschen ehren, der mit grossem Mut andere Menschen vor der Verfolgung durch das verbrecherische Nazi­regime gerettet und vor dem sicheren Tod bewahrt hat.»

Nur in Kenntnis unserer Geschichte mit all ihren Facetten könnten wir unsere Gegenwart verantwortungs­voll gestalten und verhindern, dass die Ungerechtigkeit von damals fortbestehe. «Gerade heute, da Antisemitismus zunimmt, ist es wichtig, aufzuzeigen, was war und wohin das führen kann.»

«Die Raiffeisenbank», schrieb Rist weiter, «könnte die Vermittlungs­arbeit von Stadt und Kanton an Schulen unterstützen und so in Kenntnis des damaligen Unrechts heute ihren Beitrag dazu leisten, dass die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis und das Verhalten der Schweiz wachgehalten werden, damit sich künftig Rassismus und Anti­semitismus nicht weiter ausbreiten können. Ich würde mir auch wünschen, dass die Bank sich bei der Aufarbeitung ihrer Geschichte der erinnerungs­politischen Debatte stellt, wie das heute selbst­verständlich ist.»

Die heutige «Stadtlounge», der von ihr gestaltete «Rote Platz», so Rist, sei ein Ort zum Verweilen. Der «Recha-Sternbuch-Platz» wiederum könne ein Ort sein, der die Menschen zudem «zum Denken anregt, die Erinnerung an negative und positive Aspekte unserer Geschichte wachhält».

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