Serie «Reise in Schwarz-Weiss» – Folge 3

Auf dem Fundament des Kolonialismus: Hans Fässler im zellwegerschen Doppelpalast in Trogen.

Das Vermächtnis des Hans Fässler

Wie ein Gymi-Lehrer aus Trogen die Rolle der Schweiz in der Sklaverei erforschte. Und nun für seinen grossen Traum kämpft: dass der Staat für begangenes Unrecht geradesteht. «Reise in Schwarz-Weiss», Folge 3.

Von Carlos Hanimann (Text) und Ladina Bischof (Bilder), 11.06.2021

Er hatte fünfzehn Minuten. Fünfzehn Minuten, um das Unrecht von Jahr­hunderten zusammen­zufassen und zu zeigen, welche Rolle die Schweiz darin gespielt hatte. Fünfzehn Minuten, um zu begründen, warum ausgerechnet so ein unbedeutendes Land wie die Schweiz Wieder­gutmachung leisten sollte.

Nach zwanzig Jahren Recherche­arbeit, nach einem grund­legenden Buch, Dutzenden politischen Vorstössen, ungezählten Zeitungs­artikeln, Vorträgen und Stadt­rundgängen, nach jahrelangen vergeblichen Versuchen der Kontakt­aufnahme sollte Hans Fässler nun gerade mal fünfzehn Minuten erhalten, um die Erkenntnisse eines ganzen Forscher­lebens zu präsentieren.

«Scheisse», dachte Fässler und wurde nervös. «Das ist jetzt meine grosse Chance, auf die ich gewartet habe. Das sind meine fünfzehn Minuten.»

Das war im Januar 2019, und Hans Fässler, ein Ostschweizer Aktivist, pensionierter Lehrer und «Teilzeit­historiker», wie er sich selbst nennt, war von einer karibischen Historiker­kommission eingeladen worden, um sein Anliegen vorzustellen. Ein Anliegen, von dem hierzulande bisher die wenigsten gehört haben, das aber die Schweiz in naher Zukunft noch beschäftigen dürfte.

Hans Fässler forderte nichts Geringeres, als dass die Schweiz sich offiziell entschuldigt und Geld an mehrere karibische Staaten zahlt.

Die Historiker­kommission der Caricom, der Vereinigung der karibischen Staaten, sollte die Schweiz auf die Liste jener Staaten setzen, die Reparationen für die Sklaverei zahlen. Als Wieder­gutmachung dafür, dass sich auch Schweizer am transatlantischen Sklaven­handel beteiligten und auf vielfältige Weise davon profitierten.

Serie «Reise in Schwarz-Weiss»

Was hat George Floyd mit der Schweiz zu tun? Was heisst Schwarz sein in der Schweiz? Was verbindet People of Color ausser der gemeinsamen Erfahrung des Ausschlusses? Reicht das? Wofür? Und welchen Einfluss hat das koloniale Erbe der Schweiz? Fünf Stationen, fünf Reportagen. Zur Übersicht.

Folge 2

Neuenburg: Der sonderbare Fall der Tilo Frey

Sie lesen: Folge 3

Trogen: Das Ver­mächt­nis des Hans Fässler

Folge 4

Leukerbad: Mit Nativ auf James Baldwins Spuren

Folge 5

Alpnach: Black Lives What? Der letzte Halt der Reise

Im Januar 2019 sass Fässler also vor dem Bildschirm im Arbeits­zimmer seiner Wohnung in St. Gallen, im Hinter­grund ein Bild des Flüchtlings­helfers Paul Grüninger, für dessen Rehabilitation er sich als Kantonsrat eingesetzt hatte. Und er erklärte vierzehn Vertreterinnen von karibischen Staaten in einer Online­konferenz, warum seiner Meinung nach nicht nur England, Spanien, die Nieder­lande oder Frankreich Wieder­gutmachung leisten müssen. Sondern auch die Schweiz.

Die Historiker der Caricom Reparations Commission hörten ihm zu, bedankten sich am Ende höflich, und Fässler dachte, er würde vielleicht nie wieder etwas hören.

Doch Fässler musste Eindruck hinter­lassen haben. Denn bald darauf sprach er vor einer jamaikanischen Subkommission vor. Dann lud man ihn für ein Symposium auf Antigua ein.

Fässler flog tatsächlich auf diese winzige Insel im Bogen der Kleinen Antillen, um dort davon zu berichten, auf welche Weise die Schweiz von der Versklavung und Verschleppung von Millionen Menschen aus Afrika in die Karibik profitiert hatte, und um zu fordern, dass die Schweiz Reparationen zahlen müsse. Sechsund­dreissig Stunden Hinreise. Dreissig Minuten Vortrag. Und am nächsten Tag wieder zurück. Es war verrückt.

Natürlich wunderte man sich an der Konferenz: Warum will ausgerechnet ein alter, weisser Mann aus dem Schweizer Alpen­land so unbedingt, dass sein Land um Entschuldigung bittet für die Sklaverei und zudem noch Geld zahlt?

Die Prachts­bauten der Familie Zellweger

Hans Fässler steht auf dem Perron des St. Galler Neben­bahnhofs. Dunkle Jeans, Leicht­wanderschuhe und ein grauer Fleece­pulli. Ein rotes Züglein rollt gerade ein. Es bringt uns über die Kantons­grenze nach Trogen AR, eine knappe halbe Stunde von St. Gallen entfernt. Dort zeigt mir Fässler den Lands­gemeinde­platz; ein Dorfplatz, der in seinem aristokratischen Pomp so überhaupt nicht ins Bild eines Appenzeller Bauern­dorfs passt.

Der Platz ist umgeben von wuchtigen Sandstein­gebäuden, darunter ist der sogenannte Doppel­palast, den die Familie Zellweger Mitte des 18. Jahr­hunderts bauen liess. Einen Teil des Fundaments für diese Prachts­bauten legte – wie bei so vielen architektonischen Prunk­stücken aus dieser Zeit – der Kolonialismus.

Fässler hat 2005 in seinem Buch «Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Orts­termine in Sachen Sklaverei» detailliert beschrieben, wie die Familie Zellweger ihr Vermögen nicht bloss dank kauf­männischem Gespür, bürgerlicher Tüchtigkeit und dem Mehrwert aus der Verlags­arbeit aufbaute. Sondern wie sie von einem trans­atlantischen Wirtschafts­system profitierte, das auf der Verschleppung und Versklavung von Millionen Afrikanerinnen beruhte, die in den Amerikas die Rohstoffe für den Reichtum Europas pflanzten, pflegten und ernteten. Rohwaren, die in Europa zu Produkten verarbeitet, nach Afrika exportiert und dort wiederum gegen Menschen eingetauscht wurden. Ein hoch­effizienter Handels­kreislauf, den Afrikaner mit ihrer Freiheit und ihrem Leben bezahlten.

Die Zellwegers importierten etwa Roh­baumwolle und «Kolonial­waren» und exportierten fertige Baumwoll­produkte. Bedruckte Indienne­tücher waren ein begehrtes Handels­gut, mit dem an afrikanischen Küsten auch Sklaven gekauft und eingetauscht wurden.

Das ist gewiss nicht der direkteste und skandalöseste Fall von Verwicklungen einer Schweizer Familie in die Sklaverei. Fässler hat ihn aber gerade deshalb ausgesucht. Die Geschichte der Familie Zellweger zeigt, dass nicht nur skrupellose Menschen­händler von Verschleppung und Versklavung profitierten. Vielmehr legte die trans­atlantische Sklaven­wirtschaft, die im 18. Jahr­hundert ihren Höhepunkt fand, eine Grundlage für den europäischen Kapitalismus.

Einen Steinwurf von Zellwegers Doppel­palast entfernt befindet sich die Kantons­schule Trogen, die Mittel­schule, an der Hans Fässler ein halbes Arbeits­leben lang Englisch und Geschichte unterrichtete. Von dort aus erkundete Fässler die letzten zwanzig Jahre die Spuren des Kolonialismus in der Schweiz.

Am Anfang seiner Erkundungen hörte er schallendes Gelächter: Die Schweiz habe doch keine Kolonien besessen! Heute widerfährt ihm das höchst selten. Die Tatsache, dass die Schweiz eine koloniale Vergangenheit hat, stellt kaum mehr jemand infrage.

Und spätestens seit den Black-Lives-Matter-Protesten im letzten Sommer konnte auch eine breite Öffentlichkeit lesen, hören und sehen, dass Rassismus, Sklaverei­geschichte und Kolonialismus nicht nur amerikanische Themen sind, sondern dass ihre Spuren und Auswirkungen direkt vor der Haustür zu finden sind.

Ab letztem Juni befand sich denn auch Fässler in einem eigentlichen Ausnahme­zustand: Sein Telefon klingelte ständig, Mails kamen herein. Zeitungen, Fernsehen, Radio, Schulen – alle wollten von ihm hören, was die Schweiz mit Versklavung und Kolonialismus zu tun habe. Und Fässler nahm so gut wie alle Anfragen an.

Schliesslich hatte er genau das gesucht: Aufmerksamkeit für ein Thema, das in seinen Augen zu wenig beachtet worden war.

Zwanzig Jahre lang hatte er in Archiven geforscht, Leser­briefe und politische Vorstösse für Parlamentarier geschrieben. Er klingelte an Türen und rief bei Redaktionen, Gemeinde­verwaltungen und Universitäten an. Er erinnerte die Schokoladen­fabrik Lindt daran, dass es ohne Sklaverei keine Schokolade gäbe. Und er versuchte Strassen, Plätze und sogar eine Bergspitze umzubenennen.

In Neuenburg ist es ihm gemeinsam mit Schwarzen Aktivistinnen gelungen, einen Platz, der nach dem Natur­forscher und Rassisten Louis Agassiz benannt war, zu dekolonisieren. Er ist heute nach der ersten Schwarzen National­rätin Tilo Frey benannt. In Lausanne erinnern in der Avenue Agassiz immerhin kleine Tafeln mit QR-Code daran, dass der National­held Agassiz Mitte des 19. Jahr­hunderts in den USA Daguerro­­typien von Sklaven anfertigte, um die Minder­wertigkeit der Schwarzen «Rasse» zu belegen. An der Umbenennung des Agassiz­horns in den Berner Alpen hingegen scheiterten Fässler und seine Mitstreiterinnen trotz jahrelangen Vorstössen und Verhandlungen. Derzeit will er zusammen mit dem Agassiz-Spezialisten Hans Barth und der Künstlerin Sasha Huber erreichen, dass ein Agassiz-Gebirge auf dem Mond umbenannt wird.

«Zwanzig Jahre lang hatte ich gesät, gegossen, gejätet», erzählt Fässler über den vergangenen Sommer. «Jetzt war es Zeit zu ernten.»

Pionier der Schweizer Kolonialgeschichte

Fässler steigt in die Trogener­bahn. Der Zug bringt uns nach Trogen. Und während wir langsam stadt­auswärts ruckeln, beginnen bereits Fässlers Ausflüge in die Lokal­geschichte. «Da hinten beim Tigerhof fand 1883 der sogenannte Bamberger-Krawall statt», sagt Fässler, «einer der grössten anti­semitischen Krawalle der Schweiz.»

Der englisch-jüdische Geschäfts­mann Louis Bamberger hatte dort ein Textil­geschäft, in dem, erstmalig, Kleider in Raten gezahlt werden konnten – was vor allem der ärmeren Bevölkerung zugutekam. Allerdings schrieb Geschäfts­mann Bamberger auch einen Leser­brief, in dem er sich kritisch zur Schweizerischen Landes­ausstellung von 1883 äusserte. Das kam schlecht an. Die lokale Bevölkerung wollte das dem «ausländischen Juden» mit «währschaft schweizerischer Handmünze» heimzahlen: Bis zu 2000 Personen kamen vor Bambergers Geschäft zusammen, die Demonstration endete in Krawall und Plünderungen. Zuletzt musste eine Rekruten­kompanie aufgeboten werden, um wieder Ruhe und Ordnung herzustellen.

Solche Anekdoten kennt Fässler zuhauf. Und er gibt sie gerne zum Besten. Mal spielen sie in St. Gallen, in Neuenburg oder Zürich, mal in Port-au-Prince. Wer ihm zuhört, merkt schnell: Der Mann ist nicht nur Forscher, er ist auch fasziniert von seinem Fach.

Er hört es nicht gern, aber Fässler ist ein Pionier in Sachen Schweizer Kolonial­geschichte. Ja, sagt er, er habe schon zu den frühen Forschern gehört. «Aber erstens war ich nicht allein, zweitens gehörte ich nie zum akademischen Zirkel.»

Bereits ab den Sechziger­jahren haben Historiker vereinzelt auf die Verwicklungen von Schweizer Banken in die Sklaverei hingewiesen. Aber der eigentliche Durch­bruch erfolgte Mitte der Nuller­jahre, als gleich drei Bücher die Schweizer Beziehungen zum trans­atlantischen Sklaven­handel untersuchten. Zwei waren wissenschaftliche Publikationen. Das dritte war Fässlers «Reise in Schwarz-Weiss.»

Er hatte einen populären Zugang gewählt, einen erzählerischen Ansatz. Es ist fast ein Wander­buch, mit dem sich die koloniale Vergangenheit der Schweiz zu Fuss erkunden lässt. Knapp 4000 Bücher verkaufte Fässler, ein kleiner Teil davon in einer französischen Auflage. Das Buch gilt heute als Grundlagen­werk, die französische Version ist vergriffen, die deutsche in dritter Auflage.

Wie also ist es dazu gekommen, dass dieser alte, weisse Mann, wie er sich auch selbst nennt, so tief in die Sklaverei­geschichte eintauchte und unablässig ihre Ausläufer in die Schweiz verfolgte?

Engagiert in jeder Phase des Gesprächs: Hans Fässler in Trogen …
… wo der Landsgemeindeplatz das kolonialistische Erbe der Schweiz widerspiegelt.

«Es war Zufall», sagt Fässler, als wir in Trogen angekommen sind und wegen eines überraschenden Schnee­regens Unter­schlupf in einem Café suchen, das sich gleich neben dem Dorf­platz befindet. Fässler erzählt, wie das eine zum anderen führte: wie zufällig aus der Not eine über zwei Jahrzehnte andauernde Leidenschaft wurde.

«Le Premier des Noirs»

Im Jahr 2003 feierte der Kanton St. Gallen sein 200-jähriges Bestehen. Fässler, damals auch als Kabarettist auf lokalen Bühnen unterwegs, wollte sich für einen Kultur­beitrag bewerben und recherchierte online, was sich 1803 sonst noch so auf der Welt ereignet hatte, ausser dass Napoleon die Truppen aus der Helvetischen Republik abzog und mit der Mediations­akte den Kanton St. Gallen gründete.

Immer wieder stiess Fässler dabei auf die Haitianische Revolution, auf den Sklaven­aufstand in der einstigen französischen Kolonie. 1803 schlugen die Aufständischen in der Schlacht von Vertières schliesslich die napoleonische Kolonial­macht entscheidend und erklärten am 1. Januar 1804 die Unabhängigkeit von Frankreich.

Fässler war fasziniert von Toussaint Louverture: Der Anführer und Märtyrer der Haitianischen Revolution hob den Code noir auf, das französische Sklaven­gesetz, der allerdings umgehend wieder eingeführt wurde. Später geriet er in einen Hinterhalt, wurde gefangen genommen, nach Europa gebracht und in einen feuchten Kerker im Fort de Joux eingesperrt, gleich hinter der Schweizer Grenze im Jura. Dort starb er am 7. April 1803.

Fässler war begeistert von der Dreistigkeit, mit der Louverture Napoleon Bonaparte heraus­gefordert hatte, als er über einen Brief die Anrede setzte: «Du Premier des Noirs au Premier des Blancs».

Und Fässler war empört über das historische Unrecht, dass Frankreich von Haiti 150 Millionen Goldfrancs für die Gewährung der Unabhängigkeit erpresste (den Vertrag unterschrieb Haiti 1825, während französische Kriegs­schiffe 500 Kanonen auf Port-au-Prince richteten; später wurde die Summe auf 90 Millionen Goldfrancs gesenkt, was heute rund 20 Milliarden Franken entspräche).

Als Fässler herausfand, dass auch 600 Schweizer im Dienste Frankreichs über den Atlantik gefahren waren, um die Haitianische Revolution nieder­zuschlagen, darunter St. Galler Soldaten und Offiziere, hatte er genug Stoff für ein Kabarett­­programm – und für ein Buch: «Louverture stirbt 1803» führte er etwa dreissig Mal auf, einmal auch auf Haiti. 2005 – zwei Jahre später – veröffentlichte er «Reise in Schwarz-Weiss».

Toussaint Louverture hat Fässler nie losgelassen. Seit 2002 pilgert er jedes Jahr am Todestag von Louverture durch das Val-de-Travers über die Grenze zum Fort de Joux, wo auch viele Haitianerinnen den Märtyrer ehren, den Napoleon dort einst verrotten liess.

«Im Fall von Haiti», sagt Fässler, «kristallisiert sich für mich das historische Unrecht der Sklaverei.»

Über hundert Jahre lang beutete Frankreich Haiti aus. 40’000 weisse Kolonial­herren herrschten über 400’000 Schwarze Sklaven, die das damalige Saint-Domingue zur «Perle der Antillen» machten, der ertrag­reichsten europäischen Kolonie. «Aber nachdem Haiti seine Unabhängigkeit erkämpft hatte, entschädigte Frankreich nicht Haiti für die Schande, die es den Sklaven über hundert Jahre lang angetan hatte. Sondern die Sklaven­besitzer, die angeblich schuldlos enteignet worden waren. Ähnliches geschah im Fall von England und bei den Nieder­landen. Auch Schweizer wurden entschädigt. Das ist für mich das Ur-Unrecht, eine kristallisierte Gemeinheit, wenn man so will, die mich nie losgelassen hat.»

Fässler hat mittlerweile mit Unterstützung des Karibik-Spezialisten Klaus Stuckert ein riesiges digitales Archiv aufgebaut, in dem er in vielen Einzelheiten dokumentiert, welche Schweizerinnen wann auf welche Weise in die Sklaverei­geschichte verwickelt waren. Es ist schon jetzt ein kleines Vermächtnis.

Darin findet sich etwa ein Eintrag über David de Pury, den Stadt­vater von Neuenburg, der in der ersten Hälfte des 18. Jahr­hunderts von London aus für die South Sea Company arbeitete, eine der berüchtigtsten Sklaven­verschleppungs­gesellschaften. Später machte er ein Vermögen am portugiesischen Hof, indem er Holz und Diamanten aus dem Nordosten Brasiliens importierte und Banker des portugiesischen Königs wurde. Er hielt zudem Anteile an einer Handels­gesellschaft, die Menschen aus Angola versklavte und nach Brasilien brachte.

Es findet sich auch ein Eintrag über die Stadt Bern: Sie hielt als grösste Einzel­investorin Anteile an der britischen South Sea Company, die gemäss der Transatlantic Slave Trade Database 41’923 Sklaven verschleppte. Davon kamen 34’865 lebend in den Amerikas an.

Es gibt auch einen Eintrag über den grossen Sklaven­aufstand in Berbice an der Nordküste Südamerikas im Jahr 1763, bei dem mehrere Plantagen in Schweizer Besitz zerstört und ihre Besitzer von den Rebellen getötet wurden.

Und es finden sich zahlreiche Einträge über Plantagen in Schweizer Besitz, auf denen Sklaven schuften mussten, über skrupel­lose Personen, die die Plantagen mit grösster Brutalität überwachten, die Sklaven kauften und verkauften.

Schweizer Geschäftsleute, Firmen, Bankiers, Intellektuelle, Soldaten beteiligten sich in vielfältiger Weise am kolonialen Projekt: Sie handelten mit Sklavinnen, besassen und verwalteten Plantagen, sie finanzierten Dreiecks­handels-Expeditionen, importierten Kolonial­güter oder schlugen Aufstände in den Kolonien militärisch nieder.

Dabei waren die Schweizer vor allem in Haiti, Surinam und Guyana präsent. Laut Fässler sind weit über hundert Plantagen in Schweizer Händen nachgewiesen.

Insgesamt schätzt Fässler den Schweizer Anteil am Menschheits­verbrechen der Sklaverei auf etwa 2 bis 3 Prozent – eine Zahl, die bisher von anderen Historikerinnen nicht infrage gestellt worden ist. Verglichen mit den grossen Kolonial­nationen Portugal oder Frankreich, die für etwa 30 beziehungs­weise 20 Prozent verantwortlich sind, ist das nicht viel. Aber immer noch weit mehr, als die Schweiz bislang gegenüber den Nach­kommen der Sklaven eingestehen will.

Vorsorgliche Brand­schutzmauer

«Wir haben wirklich das grosse Glück, dass wir nie eine Kolonial­macht waren», sagte Aussen­minister Ignazio Cassis Anfang dieses Jahres in der «Samstags­rundschau» von SRF, nachdem er von einer Afrika­reise zurück­gekehrt war.

So oder ähnlich sagten es vor ihm schon andere Bundes­rätinnen. Im Grunde ist es seit zwanzig Jahren die offizielle Schweizer Position. Im Jahr 2001 verlautete ein Diplomat im südafrikanischen Durban anlässlich der Uno-Weltkonferenz gegen Rassismus, man schaue den diskutierten Entschädigungs­forderungen gelassen entgegen – weil «wir mit Sklaverei, dem Sklaven­handel und dem Kolonialismus nichts zu tun haben».

Die schon damals wissenschaftlich widerlegte Behauptung korrigierte der Bundesrat schnell einmal und präzisierte: Die Schweiz als Staat habe nichts mit der Versklavung zu tun gehabt. Womöglich hätten aber einzelne Familien, Kaufleute, Unter­nehmen auf die eine oder andere Weise vom Kolonialismus profitiert.

Auch Bundesrat Ignazio Cassis stützte sich im SRF-Interview auf diese Argumentation, nachdem ihm der Journalist entgegen­gehalten hatte, dass die Schweiz sehr wohl im Sklaven­handel involviert gewesen sei. «Nicht als Land», sagte Cassis. «Es waren Schweizer Personen, Schweizer Unter­nehmen, aber das Land als solches, die Organe des Landes, waren nicht involviert.»

Kein Wunder, wurde doch die Sklaverei in den meisten Staaten ab den 1850er-Jahren verboten, als «die Organe des Landes» gerade erst im Entstehen waren.

Aber hinter Cassis’ Abwehr steckt mehr als blosse Wort­klauberei. Was gestern Verweigerung war, ist heute Schön­färberei: immer nur zugeben, was gerade bewiesen ist. Es sind Einzel­täter, nicht Strukturen. Einzel­personen, nicht der Staat. Es war schliesslich Derek Chauvin, der George Floyd tötete –nicht eine Polizei mit einer jahre­langen Tradition rassistischer Morde.

Die bundesrätliche Schön­färberei darf man mit Blick auf künftige Debatten rund um allfällige Reparations­forderungen aus der Karibik durchaus als vorsorgliche Brand­schutz­mauer verstehen.

Dabei, sagt Hans Fässler, seien die Reparationen gerade im Fall der Karibik sehr einfach nachvollziehbar.

Jedes Schiff in der Datenbank

Es gebe eine klare zeitliche Eingrenzung, beginnend mit Kolumbus’ Ankunft im Jahr 1492 bis ins Jahr 1886, als auf Kuba die Sklaverei abgeschafft wurde. In der Caricom, der Vereinigung der karibischen Staaten, seien zudem fünfzehn Staaten versammelt, die von Nachkommen der Sklaven und Opfer von Verschleppung und Versklavung bevölkert sind. «Und auch die Täter­nationen lassen sich gut eingrenzen. Dazu gibt es viel Forschung: So gut wie jedes Sklaven­schiff ist detailliert in einer Daten­bank dokumentiert

Die Caricom hat einen detaillierten 10-Punkte-Plan erarbeitet, nach dem eine Reparation erfolgen soll: Er beinhaltet unter anderem eine formelle Entschuldigung der beteiligten Regierungen, verschiedene Entwicklungs­programme und Technologie­transfers sowie die Tilgung der öffentlichen Haushalts­schulden.

«Aber wer soll dafür zahlen?» Es ist die Frage, die Fässler am häufigsten hört, wenn er über Reparationen spricht. «In den Kommentar­spalten der Online­plattformen habe ich immer wieder gelesen: Das sollen die Reichen zahlen, die von der Sklaverei profitiert haben! Und ich finde: Wenn eine reiche Familie, eine Bank oder eine Firma anerkennt, dass ihr Reichtum dank der Sklaverei entstand und Entschädigung zahlen will – dann sollen sie das machen. Aber im grossen Stil gibt es nur einen Akteur, der einiger­massen gerecht Reparation organisieren und leisten kann. Das ist der Staat.»

Sein Traum? Dass die Schweiz bei Reparationsforderungen nicht so ablehnend auftritt wie Frankreich oder England. (In der reformierten Kirche im Trogener Ortszentrum.)

Die Geschichte, sagt Fässler, sei voll mit Beispielen von Reparationen. «Die deutsche Kriegs­schuld nach dem Ersten Weltkrieg. Die Reparationen an Opfer des National­sozialismus. Die Entschädigungen für die Ureinwohner in den USA. Die Briten zahlten Kenianerinnen für die Nieder­schlagung des Mau-Mau-Aufstands Wieder­gutmachung. Oder in der Schweiz: die Kinder der Landstrasse. Die Verding­kinder. In all diesen Fällen war es immer der Staat, der Wieder­gutmachung leistete.»

Ein Staat habe die Kompetenz für eine ordentliche Aufarbeitung, er sei die Instanz, die vom Wohlstand der verwickelten Personen und Firmen profitierte, und schliesslich verfüge er auch über die finanziellen Mittel, um die Wieder­gutmachung zu bezahlen und über ein progressives Steuer­system auch einiger­massen gerecht wieder einzutreiben. «Dann zahlt die reiche Familie auch mehr als der einfache Arbeiter, der wegen der Pandemie auch noch den Job verloren hat», sagt Fässler.

Im Sommer 2019 kündigte die von der Caricom eingesetzte Reparations Commission an, die Liste jener Staaten auszuweiten, von denen sie Reparationen fordert. Darunter war nun auch die Schweiz. Jetzt fehlt lediglich noch die formelle Absegnung durch die Staats- und Regierungs­chefs der Caricom. Dann könnte im Aussen­departement in Bern schon bald ein Brief aus der Karibik eintreffen, dass die Schweiz mit den Caricom-Staaten über Reparationen verhandeln solle. Eine schriftliche Anfrage der Republik, wann genau dies der Fall sein könnte, blieb von der Caricom unbeantwortet.

Zur Debatte «Muss die Schweiz die Nachfahren von Sklaven entschädigen?»

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Hans Fässler selbst hat die Schweizer Regierung nie darum ersucht, von sich aus mit den karibischen Staaten in Kontakt zu treten. Die bisher geäusserte offizielle Haltung in Bern gibt denn auch wenig Anlass zur Hoffnung, dass sich die Schweiz von sich aus bewegen würde.

Dennoch ist Fässlers grosser Traum, dass die Schweiz nicht so ablehnend auftreten wird wie Frankreich, England, die Niederlande oder Spanien. «So sehr Patriot bin ich schon», sagt Fässler, «dass ich hoffe, dass die Schweiz mit dieser Forderung fair umgeht und zumindest sagt: Wir schaffen eine gemeinsame Experten­kommission, zur Hälfte aus der Schweiz, zur Hälfte aus der Karibik, und arbeiten die Sklaverei­beziehungen ordentlich auf.»

Warum ist das Fässler so wichtig?

«Ich habe viel Zeit und Arbeit aufgewendet, um der Caricom klarzumachen, dass die Schweiz eine Sklaverei­vergangenheit hat. Vermutlich wissen auf Barbados, Dominica, Haiti weniger Leute darüber Bescheid, dass die Schweiz eine Sklaverei­vergangenheit hat, als hier. Es wäre ein Stück weit mein Vermächtnis, dass ich das der Caricom näher­gebracht hätte.»

Aber was treibt Fässler an, diese Arbeit zu machen?

«Das klingt jetzt wohl pathetisch oder sozial­romantisch», sagt er. «Aber ich glaube, ich werde vom Gefühl angetrieben, dass ich ein wahnsinnig privilegiertes Leben in der sicheren und wohlhabenden Schweiz lebe. Heute nennt man das wohl white privilege. Und aus diesem Gefühl heraus wollte ich immer etwas für jene tun, die es weniger gut haben. Solidarität im weitesten Sinne. Und bei der Sklaverei im Speziellen war es dann die Erkenntnis, dass es in der Geschichte wahrscheinlich kein grösseres Unrecht gegeben hat als die Sklaverei – wenn Struktur, Dauer und Dimension des Unrechts zum Massstab genommen werden.»

Nur ein bisschen kratzen

Wenn Hans Fässler früher gefragt wurde, wie es dazu gekommen sei, dass er sich für die Geschichte der Versklavung und der Schweizer Verwicklungen interessiert habe, dann antwortete er: «Durch Zufall.»

Er habe zufällig online recherchiert. Er sei zufällig auf die Geschichte von Toussaint Louverture gestossen. Und zufällig habe dann ein Aussen­minister auf Haiti Fässlers Website entdeckt und gesehen, dass da ein Schweizer Freak sich für das Thema Sklaverei interessierte, und ihn nach Port-au-Prince eingeladen. Zufall hier, Zufall da.

«So habe ich das immer gesehen und erzählt: Par hasard, accidentally, zufällig.»

Aber dann fuhr Hans Fässler eines Tages nach Paris für die französische Veröffentlichung seines Buchs. Nach der Veranstaltung kam eine Frau auf ihn zu, sie stammte aus Martinique oder aus Guadeloupe. Fässler erinnert sich nicht mehr genau. Aber er weiss noch, dass auch sie ihn fragte: Wie? Warum?

Fässler antwortete wie immer: «Par hasard.»

«Da stauchte mich die Frau total zusammen», erzählt Fässler. «‹Was redest du von Zufall?›, sagte sie zu mir. ‹Das ist kein Zufall! Das musste so kommen.›»

Die Frau griff in ihre Handtasche und zog ein Buch heraus, das sie immer auf sich trug. Es war der «Code noir», das französische Sklaven­gesetz von 1685.

«Und dann las sie mir daraus vor, ich glaube, es war Artikel 44, wenn ich mich recht erinnere: ‹Der Status eines Sklaven entspricht dem eines Möbels.› Wütend sagte sie das: ‹Un meuble! Das bin ich: ein bewegliches Gut.›»

Fässler sagt: Wann immer er heute vom Zufall spreche, sehe er diese Frau vor sich, die – 350 Jahre nachdem das Unrecht der Sklaverei im «Code noir» festgeschrieben und rund 170 Jahre nachdem dieser aufgehoben wurde – aufgewühlt auf ihn einrede und sage: Es war kein Zufall.

«Darum sage ich heute: kein Zufall. Es ist vielmehr so: Die Kolonial­geschichte hockt überall in Europa direkt unter der Ober­fläche. Und sie ist riesig. Man muss nur ein bisschen daran kratzen – an den Zellwegers, an einem Schloss, einer Statue, am Reichtum –, dann findet man darunter die Geschichte von Kolonialismus und Sklaverei.»

Zur Schreibweise

Der Autor schreibt «Schwarz» in dieser Serie gross. Es meint keine vermeintliche Haut­farbe, sondern ist eine politische Selbst­bezeichnung. Sie drückt Zugehörigkeit zu einer Gruppe Menschen aus, die auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen wird und gewisse Erfahrungen teilt.

Folge 2

Neuenburg: Der sonderbare Fall der Tilo Frey

Sie lesen: Folge 3

Trogen: Das Ver­mächt­nis des Hans Fässler

Folge 4

Leukerbad: Mit Nativ auf James Baldwins Spuren

Folge 5

Alpnach: Black Lives What? Der letzte Halt der Reise