Grosseinsatz der Polizei am Tag der Arbeit in Basel: An der Sperre war kein Vorbeikommen. Stefan Bohrer/Keystone

«Es war ein geplanter Angriff auf die Demo»

Die Kantonspolizei blockiert den bewilligten 1.-Mai-Umzug in Basel stundenlang. Drei Aktivistinnen schildern, was sie dabei erlebt haben.

Ein Interview von Daniel Ryser, 11.05.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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«Die Polizei muss auch Gefahren abwehren.» So begründete die Basler Sicherheits­direktorin Stephanie Eymann den Einsatz vom 1. Mai: Nach ein paar hundert Metern stoppte die Kantons­polizei den bewilligten, friedlichen Umzug durch Basel und kesselte Teilnehmerinnen an der Spitze des Zugs ein, «aufgrund von vermummten und mit Schutz­material ausgerüsteten Gruppierungen». Die Verantwortlichen der Gewerkschaft Unia forderten die Polizei erfolglos auf, «sofort den Kessel aufzuheben und die friedliche 1.-Mai-Demo weiterziehen zu lassen». Es gebe keinen Grund für ein solches Aufgebot. Die Unia bezeichnete den Einsatz der Polizei später als «sehr eskalierend».

Sicherheits­direktorin Eymann hingegen argumentierte, man habe verhindert, dass es zu Ausschreitungen gekommen sei. Gegenüber dem «Blick» sagte sie: «Letztes Jahr hatten wir am 1. Mai in Basel massive Sachbeschädigungen. Wenn ich dieses Jahr nach Zürich und Bern schaue, bin ich froh, hatten wir in Basel diese Bilder nicht. (...) Wir haben erreicht, dass nach einer Demo nicht alles kurz und klein geschlagen ist.»

Worauf diese Annahme gründete, sagte die Polizei­vorsteherin nicht. Denn vergangenes Jahr kam es in Basel zu keinen Ausschreitungen, und in Bern blieb es dieses Jahr ebenfalls friedlich. In Zürich kam es zu vereinzelten Sach­beschädigungen, aber zu keinen Ausschreitungen.

Im diesjährigen Basler Umzug befanden sich auch Mitglieder des Grauen Blocks. Eine Gruppe älterer Aktivistinnen, die sich im Nachgang um die Proteste von «Basel nazifrei» von 2018 gegründet hatte, als die Polizei mit einem massiven Gummigeschoss­einsatz gegen eine bis dahin friedliche, grosse Demonstration vorgegangen war. Später wurden Dutzende junge Menschen verhaftet und wegen Teilnahme an der Anti-Nazi-Demo angeklagt. Der Graue Block forderte die Behörden aus Solidarität mit den jungen Menschen auf, auch die alten Protestierenden anzuklagen und zu verhaften oder aufzuhören, die jungen Leute zu verfolgen. Wie die Republik später recherchierte, stellte sich schliesslich aufgrund eines Polizei­berichts und unterschlagenen Video­materials die Frage: Hatte das Vorgehen der Polizei überhaupt erst dazu geführt, dass die Demonstration eskalierte?

Jetzt wieder: Grosseinsatz gegen eine Demonstration. Nicht nur eine friedliche wie 2018. Sondern sogar eine bewilligte.

Für die Republik fuhr ich nach Basel, um mit drei Mitgliedern des Grauen Blocks über die Vorgänge am 1. Mai zu sprechen. War Basel wirklich kurz davor, in Schutt und Asche gelegt zu werden? Und was hat es mit den heftigen Angriffen vonseiten der Basler Polizei auf Demonstrationen in den letzten Monaten auf sich?

In einem Privathaus in Kleinbasel traf ich Saali (56), Rita (55) und Fafa (60).

Saali kennt man in Basel als, wie er sich selbst bezeichnet, «selbst­verwalteten Hirschen­eck-Gastronomen». Und spätestens seit ihm ein Gericht recht gegeben hatte, dass es in Ordnung war, den rechtsextremen Politiker Eric Weber als «Nazi» zu bezeichnen. «Wir sind eine diverse Gruppe, dreissig im Kern, sechzig insgesamt», sagt Saali, der sich selbst als Anarchisten bezeichnet.

«Die Jungen sind durchaus froh über unsere Präsenz», sagt Fafa, der in der Liegenschaften­branche tätig ist. «Dass sie nicht allein sind mit dem, was in Basel seit einigen Jahren abgeht.»

«Das ist für mich ein weiteres Argument, wieso ich nach wie vor am 8. März oder am 1. Mai auf die Strasse gehe», sagt Rita, die im sozialen Bereich tätig ist und lange für die Menschenrechts­gruppe Augenauf arbeitete. «Weil ich finde, man darf die Jungen nicht alleinlassen. Den Jungen wird ja noch viel weniger geglaubt als uns.»

Sie sehe sich als Aktivistin vom Grauen Block in einer dreifachen Funktion, sagt Rita: «Ich habe erstens eigene Anliegen, für die ich auf die Strasse gehe. Zweitens will ich beobachten, was abgeht. Drittens will ich Brücken schlagen.»

Derzeit müsse man in Basel vor allem um das Recht kämpfen, überhaupt noch seinen Protest öffentlich kundtun zu dürfen, ganz abgesehen vom Inhalt. «So tief sind wir in Basel gesunken», sagt Rita. «Wir kämpfen gerade darum, dass auch die Generationen nach uns sich noch getrauen können, ihre Meinung auf die Strasse zu tragen.»

Nur durch einen präventiven Einsatz gegen die bewilligte 1.-Mai-Demonstration habe verhindert werden können, dass junge Leute alles kurz und klein schlügen. Was sagen Sie als ältere Demo-Teilnehmende vom Grauen Block zu diesem Narrativ der Basler Sicherheits­direktorin?
Fafa: Ich warte immer noch auf die Beweisfotos der Polizei, die zeigen, was im Polizeikessel am 1. Mai alles beschlagnahmt wurde. Bisher wurde nichts veröffentlicht. Das passt gut zu dem, was passiert ist. Und auch dazu, was von dem Tag zu erwarten war. Ich ging am 1. Mai an die Demo und habe nicht erwartet, dass es Lämpe git.

Rita: Ein Journalist aus Berlin hatte mich im Vorfeld der Demonstration kontaktiert: Ob Basel ein guter Ort sei, um einen Gummigeschoss-Einsatz zu filmen. «Vergiss es», sagte ich ihm, nachdem ich mich bei diversen Gruppierungen umgehört hatte. Es war klar: Das wird ein easy Tag. Wir sind dann auch fröhlich gelaunt mit unserem Transpi losgezogen. Und dann aus heiterem Himmel kommt irgendwie so ein …

Saali: … chirurgischer Schnitt.

Rita: Eine Truppe Robocops rast unvermittelt in die bewilligte Demo, genau auf unserer Höhe. Ich spickte weg. Ich verstand nicht, was los war. Einer von uns Alten spickte es auf die andere Seite des Kessels. Irgendwann wurde klar: Die stellen sich einfach zwischen uns und denen weiter vorne. Die wollen den Revolutionären Block von den Gewerkschaften abtrennen.

Fafa: Ich war auf dem Weg zur Demospitze, um mir ein Bild der Lage zu machen, als die Polizei in die Demo rannte. Ich bin dann an der Polizeikette vorbei­gelaufen, zum Rest meiner Gruppe.

Rita: Wir waren Teil einer bewilligten Demo und hatten plötzlich eine Reihe von hochgerüsteten Polizisten vor uns. Wir vom Grauen Block haben dann zuerst einmal versucht, beruhigend auf die einzuwirken. Haben gerufen: «Beruhigt euch! Beruhigt euch!» Weil überhaupt nicht klar war, was los ist. Es gab am Anfang wüste Schubsereien der Polizei. Dann behaupteten sie, die Demo habe die falsche Route genommen. Was nicht stimmte. Sie wollten dann uns, dem abgespaltenen Teil, eine neue Route aufzwingen.

Fafa: Alle fanden: «Hey, gehts noch?» Viele kannten ja Leute, die vorne waren. Ich wusste zum Beispiel nicht: Ist meine Tochter nun vorne im Kessel oder bei mir hinten. Es war eine grosse Aufregung. Da gab es keine Diskussion, ob man sich spalten lässt. Auch bei der Unia nicht. Alle waren solidarisch mit den Leuten vorne, die eingekesselt waren. Für mich war auch völlig klar, dass wir hier bleiben, bis alle Leute aus dem Kessel raus sind.

Was passierte dann?
Fafa:
Die Polizisten versuchten immer wieder, uns wegzudrängen. Wir blieben stehen, auf unserer bewilligten Route, gaben ein wenig Gegendruck. Und führten Diskussionen mit den Polizisten. Dabei hast du immer wieder gehört, wie im Kessel auf die Leute geschossen wird. Mit Gummi­geschossen. Und gegen uns gingen sie mit Reizgas und Knüppeln vor.

Warum?
Fafa: Weil wir nicht zurück­weichen wollten. Weil wir von unserem Recht Gebrauch machten. Wir standen auf der bewilligten Route. Es flog keine Flasche, kein Böller, keine Pyro. Plötzlich bekam ich eine Ladung Reizgas voll ins Gesicht.

Saali: Schliesslich hat sich die Unia-Basis, die ungefähr vierzig Meter weiter hinten stand, mit ihrem Transpi nach vorne bewegt. Alle mit ihren Unia-Tschäppern und mit ihren roten Jäckchen. Die sind auf die Polizeisperre zugelaufen und haben gesagt, sie wollen jetzt da durch und ihre bewilligte 1.-Mai-Demo zu Ende bringen. Und dann wurden die von der Polizei völlig nieder­gemacht. Mit literweise Reizgas hat die Polizei die Unia-Leute plattgemacht. Eine Frau musste ins Spital gebracht werden. Sie lag schon auf dem Boden, da haben sie noch hinterher­gespritzt. Völlig ungehemmt.

Gewerkschaft Unia plant rechtliche Schritte

Jetzt ist klar, wie die Gewerkschaft Unia als Organisatorin der Demonstration auf die Ereignisse am 1. Mai in Basel reagiert. «Wir werden rechtlich gegen den Polizeieinsatz vorgehen», sagt Daria Frick, Sprecherin der Unia Aargau-Nordwest­schweiz, auf Anfrage der Republik. Für Donnerstag hat die Unia zusammen mit dem Basler 1.-Mai-Komitee eine Presse­konferenz angekündigt, an der man das weitere Vorgehen aufzeigen werde «gegen das widerrechtliche Vorgehen der Kantonspolizei Basel-Stadt am 1. Mai 2023». «Derzeit sind wir dabei, die Fälle der Verletzten zusammen­zutragen.» Die Unia hatte noch am 1. Mai den Polizei­einsatz in einem Communiqué verurteilt. Die Basler Polizei halte sich nicht an die Gesetze, hiess es darin. Das Vorgehen sei inakzeptabel. Unter den Eingekesselten hätten sich auch zahlreiche Familien, Gewerkschafterinnen, Passanten, Schülerinnen, solidarisch Teilnehmende befunden. «Die Basler Regierung wird sich verantworten müssen für ihr Verhalten», so die Unia. «Zwei unserer Vertrauens­leute sind durch den Polizei­einsatz erheblich verletzt worden», sagt Daria Frick. Sie hätten sich unter anderem wegen Problemen mit den Atemwegen in ärztliche Behandlung begeben müssen. «Mehrere weitere Unia-Leute wurden ebenfalls verletzt. Es sind so viele, dass wir noch keinen genauen Überblick haben.»

Wie gefährlich es geworden ist, in Basel sein verfassungs­mässiges Recht auf Versammlungs- und Meinungs­freiheit wahrzunehmen, zeigt auch der Einsatz des Beobachter­teams der Demokratischen Jurist:innen: Vier Mitglieder der Gruppe, die sich vor Ort ein Bild des Polizei­einsatzes machen wollten, wurden ebenfalls mit mehr als zweihundert anderen Personen stundenlang eingekesselt. «Die Sicherheits­direktorin behauptet, unbeteiligte beziehungs­weise nicht vermummte Personen seien schnell wieder aus dem Kessel hinaus­gelassen worden. Wir können mit Video­material belegen, dass dies nicht stimmt», sagt Anwältin Constanze Seelmann zur Republik. Viele Leute seien bis um 15 Uhr im Kessel festgesteckt. «Die ersten Personen konnten den Kessel erst um circa 12.30 Uhr verlassen – also zwei Stunden nach Festsetzung.»

Sich an einer Kundgebung zu vermummen, sei juristisch bloss eine Übertretung, sagt Ada Mohler, die Geschäfts­führerin der Demokratischen Jurist:innen. Deswegen stehe es in keinerlei Verhältnis, wegen ein paar vermummten Personen tausend Personen an ihren Grund­rechten zu hindern. «Die präventive Einkesselung steht im klaren Wider­spruch zu rechts­staatlichen Grundsätzen. Sie ist eine krasse Verletzung des Grundrechts auf Versammlungs- und Meinungs­freiheit, die sich nicht alleine mit der Durch­setzung des Vermummungs­verbots rechtfertigen lässt.»

Die Polizei sei zudem jeglichen Beweis schuldig geblieben, dass irgendwelche Straftaten vorbereitet worden sein sollen, was als Argument für den Einsatz genannt worden sei. Dass wiederum das Tragen von Schutz­brillen oder gegen den Beschuss mit Gummischrot verstärkte Transparente ein derartiger Hinweis seien, sei juristisch nicht haltbar, so Seelmann. «Schutz­brillen sind passives Material. So argumentiert die Polizei ja selbst: Man trägt Helme, um nicht verletzt zu werden. Das hat nichts damit zu tun, dass man irgendwelche Gewalt­taten plant», sagt Seelmann.

In Basel habe eine Diskurs­verschiebung stattgefunden, sagt Mohler: «Demonstrationen werden als grundsätzlich störend wahrgenommen, als etwas, das man nicht haben möchte. Daher muss die demokratie­politische Bedeutung von Kund­gebungen wieder mehr ins Zentrum gerückt werden.»

Jurist Daniel Gmür, der ebenfalls für die Demokratischen Jurist:innen vor Ort war, sagt: «Der Polizei­einsatz ist ein grund­rechtlicher Skandal. Es ist nicht mit der Versammlungs- und Meinungs­äusserungs­freiheit vereinbar, dass man eine bewilligte Demonstration durch eine bewilligte Route führt und die friedliche Demonstration dann in einen Hinterhalt lockt und einkesselt, offensichtlich geplant.»

Rita: Es war ein Angriff der Polizei auf eine bewilligte Demonstration. Für uns vom Grauen Block war klar: Wir als ältere Personen können da jetzt nicht weg. Denn es wirkte tatsächlich so, als würde die Polizei alles tun, um eine Eskalation zu provozieren. Ich hatte Angst. Die Polizisten standen unter Strom. Einige Leute kriegten einen Schlagstock über die Rübe gezogen – im Kessel und auch ausserhalb.

Fafa: Allein drei Leute vom Grauen Block haben so viel Gas ins Gesicht gespritzt bekommen, dass sie eine halbe Stunde lang blind waren. Eine von diesen dreien gab einem SRF-«Rundschau»-Team, das vor Ort war, ein Interview. Blind. Es wurde nicht ausgestrahlt.

Saali: Wir sollten noch zum Punkt kommen, warum sich der 1. Mai überhaupt auf diese Art und Weise abspielen konnte.

Wie meinen Sie das?
Saali: Die SP fand im Vorfeld, dass es am 1. Mai so etwas wie einen Demo-Kodex brauche. Und dass man gewisse Gruppierungen nicht am 1. Mai haben wolle. Damit waren alle gemeint, die sich unter dem Revolutionären Block versammelten, also mindestens ein Drittel der rund tausend Demonstrierenden. Das tat die SP kund ohne Absprache mit dem 1.-Mai-Komitee. Das Komitee hat nämlich gesagt: Alle sind willkommen an der Demo vom 1. Mai. Wir wünschen uns eine kämpferische, laute, friedliche 1.-Mai-Kundgebung und -Demo.

Fafa: Die SP, die Regierungs­partei ist, kann nicht sagen, wer an einem 1. Mai willkommen ist und wer nicht.

Saali: Sie sind dann zurück­gekrebst eine Woche vorher und sagten, es gibt jetzt doch keinen Kodex.

Rita: Aber das war die Steilvorlage für Polizei­vorsteherin Stephanie Eymann und Polizeichef Martin Roth. Denn bald zeigte sich: Die Polizei hatte den Einsatz geplant. Es fing damit an, dass sie am Morgen zahlreiche junge Leute verhafteten, die an die Demo wollten. Einfach deshalb, weil sie Schutz­brillen auf sich trugen, wie ich bei einer Verhaftung selbst beobachten konnte. Oder Transpis dabei hatten, die nicht von Gewerkschaften waren. Die Polizei hat die Steilvorlage der SP dankbar aufgegriffen: Wir separieren den ominösen Schwarzen Block, dieses Tumor­geschwür, aus der Demo raus.

Fafa: Dem liegt noch immer das Missverständnis zugrunde, der Schwarze Block sei eine klar definierbare Gruppe.

Rita: Sie können uns nicht lesen, sie kapieren unsere Organisations­formen nicht. Es gibt keinen klaren Schwarzen Block. Die Leute, die sie abtrennten, waren ein kunterbunter Mix. Ja, da waren Leute mit einem Front­transparent, und ja, Einzelne waren vermummt. Aber ehrlich: Ich wäre nach all den Erfahrungen mit «Basel nazifrei» und Haus­durchsuchungen morgens um sechs Uhr vermutlich auch vermummt. Aber auch Eltern mit Kindern waren dabei, ein Tourist, Anwohner. Rund dreihundert Leute. Und denen haben sie dann irgendwann gesagt: «Ihr dürft raus, wenn ihr euch kontrollieren lasst.»

Wie lange dauerte das?
Fafa: Die Leute waren sechs bis sieben Stunden im Kessel. Stellenweise hiess es: Man könne nur Männer rauslassen, weil man gerade keine Polizistin zum Abtasten habe. Im Kessel sind die Leute immer wieder mit Reizgas und Gummi­schrot beschossen worden.

Rita: Es sei ein konstanter Stress gewesen, erzählte mir eine junge Frau: sich um die Leute zu kümmern, die mit Atemnot am Boden lagen, mit Panik­attacken.

Fafa: Im Kessel gab es stundenlang kein Wasser. Stundenlang keine Möglichkeit, auf die Toilette zu gehen. Essen gab es nicht. Wir haben immer wieder gefragt: «Können wir Essen und Trinken reinbringen?» Das wurde verneint. Nach Stunden gab es endlich Wasser. Die konstanten Attacken mit Reizgas waren nicht zur Gefahren­abwehr da, die waren einfach nur dazu da, die Leute enger zusammen­zudrängen.

Rita: Einige der Leute, die dann tröpfchen­weise aus dem Kessel entlassen wurden, haben ein vorbereitetes Rayon­verbot in die Hand gedrückt bekommen und einen Platzverweis.

Fafa: Es war ein geplanter Angriff auf die Demo. Denn einen konkreten Anlass gab es nicht. Es herrschte keine aggressive Stimmung. Dann sagen sie: Es habe keine Verletzten gegeben. Das ist gelogen. Ich wurde ja selbst verletzt. Ich war eine halbe Stunde lang blind, nachdem man mir Reizgas in die Augen gesprüht hatte. Ich habe unzählige Leute gesehen, die ohnmächtig wurden, eine Person erlitt Schnitt­verletzungen. Ich sah Leute, die geschlagen wurden. Drei Leute sind im Spital gelandet. Die Polizei­vorsteherin sagt dann: Man habe verhindern wollen, dass wie im letzten Jahr die Stadt verwüstet werde. Dabei gab es gemäss meiner Erinnerung damals eine Sprayerei und eine kaputte Scheibe am Bankenplatz. Das kann man übrigens im Archiv der «BZ Basel» nachlesen: Die vermeintliche Verwüstung der Stadt am letzten 1. Mai war ihr gerade mal zwei Sätze wert.

Hochgerüstete Polizisten: Gummischrot kam gegen die bewilligte Demo ebenso zum Einsatz wie Reizgas. Stefan Bohrer/Keystone

Rita: Was ist das überhaupt für eine Haltung der Polizei­vorsteherin: «Sonst hätten sie die Stadt kurz und klein geschlagen»? Das ist eine Vorverurteilung und Diskriminierung sondergleichen. In den letzten Monaten habe ich dieses Argument mehrfach gehört. Zweimal wegen Demos, die von der Polizei angegriffen wurden und wo klar war, dass nichts passiert wäre, wenn sie uns hätten laufen lassen.

Was waren das für Demonstrationen?
Rita:
Die erste war jene vom 25. November, dem Tag gegen Gewalt gegen Frauen. An diesem Tag finden in Basel immer kleinere oder grössere Demos statt, manchmal bewilligt, manchmal nicht. Ich habe jahrelang im Bereich häusliche Gewalt gearbeitet und habe immer daran teilgenommen. Das sind keine Demonstrationen, die darauf ausgelegt sind, die Stadt in Schutt und Asche zu legen. Und es geht um ein Thema, von dem die Stadt ja auch sagt, dass man sich damit beschäftige. Aber diesmal wollten sie uns nicht laufen lassen. Schon gar nicht am Weihnachts­markt vorbei!

Was passierte dann?
Rita: Wir sind über die Wettstein­brücke gezogen, 300 Personen vielleicht. Zwar sieht einen kaum jemand auf dieser Route. Aber immerhin konnten wir laufen. Die Stärke von Frauen- und Genderqueer-Demos ist, dass man eine gewisse Präsenz hat: Man legt es nicht auf eine militärische Auseinander­setzung an, lässt sich aber auch nicht einfach wegjagen. Vor einem Adventsmarkt stoppten sie uns – das durfte sich nicht vermischen. Kurdinnen tanzten, es wurden Reden gehalten. Und gerade, als wir dachten, jetzt gehen wir alle nach Hause, griff uns die Polizei an. Aus heiterem Himmel knallten sie massiv mit Gummischrot rein, auf Kopfhöhe. Ich bekam selbst ein Geschoss an die Mütze. Meine Freundin bekam ebenfalls eines gegen den Kopf.

Im Netz existiert ein Video, das zeigt, wie Basler Polizisten an einer Demonstration aus zwei, drei Metern Distanz in eine Menschen­menge hinein­schiessen. War das die Szene?
Rita:
Nein, das war an der zweiten Demo, von der ich erzählen wollte. Der Frauendemo vom 8. März.

Aus welcher Distanz schoss die Polizei am 25. November Gummi­geschosse in Ihre Richtung?
Rita:
Aus fünf Metern vielleicht, höchstens zehn. Sie marschierten in unsere Richtung und schossen. Die grossen Gummi­geschosse. Dann haben sie Tränengas in einem Ausmass eingesetzt, wie ich es in meinen jungen Jahren das letzte Mal erlebt habe. Wir hatten das Glück, dass ein Restaurant in der Nähe war, das uns Obdach gab. Dort konnten wir uns die Augen spülen. Das Restaurant war voller Nebel.

Was war der Anlass für den Polizei­einsatz?
Rita:
Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration. Das ist aber keineswegs illegal. Deswegen riskieren sie schwerste Verletzungen. In dieser Stadt herrscht im Moment – und spätestens seit Stephanie Eymann als Sicherheits­direktorin – das Narrativ, dass nur eine bewilligte Demo eine gute Demo ist. Alles andere, dieses elementare Grundrecht des Protests, der Meinungs­äusserungs­freiheit, ist verboten, ist kriminell und gehört darum niedergemacht. Ich brauchte nach diesem Abend selbst wieder einen Moment, mich zu sammeln und zu sagen: «Hey nein, es ist nicht verboten, unbewilligt zu demonstrieren. Es ist nicht illegal.»

Am 1. Mai in Zürich verlor ein junger Mensch sein Augenlicht wegen Gummi­geschossen. In der Republik dokumentierten wir zahlreiche vergleichbare Fälle. Die Polizei hält die empfohlenen Mindest­abstände offensichtlich nicht ein. Das zeigt auch das Beispiel Basel. Würden Sie jungen Leuten überhaupt noch raten, eine unbewilligte Demo zu besuchen ohne Schutzbrille?
Rita: Nein, nicht wirklich. Die Polizei sagt zwar: Verstärkte Transparente, Schutzbrillen – das seien Hinweise dafür, dass man randalieren wolle. Doch damit betreibt die Polizei eine Opfer-Täter-Umkehr. Denn das sind Schutz­massnahmen. Ich bin 55 und an einem Punkt, wo ich mir überlege, nur noch mit Schutzbrille an eine Demo zu gehen. Mein Augenlicht ist mir etwas wert. Und ich will auch nicht nochmals eine Nacht lang mit brennendem Reizgas in den Augen verbringen, das sich nicht abwaschen lässt.

Saali: Auch die Klimademo vom 11. Februar wurde aus wenigen Metern Entfernung mit Gummischrot zusammen­geballert, ohne dass vorher etwas passiert wäre. Ausser dass sich junge Leute das Recht genommen hatten, zu demonstrieren.

Was geht eurer Meinung nach hier vor?
Rita:
In Basel hat die SVP eine Anti-Demo-Initiative lanciert, die das Demonstrations­recht stark einschränken will. Man darf nicht vergessen: Basel gilt zwar als linke Stadt, aber es ist mit Syngenta, Roche und Novartis auch die Stadt, die drei der weltweit grössten Konzerne beheimatet. Offensichtlich will man seine Ruhe haben. Und die Regierung macht mit: Über 270 Demonstrationen hätten in Basel 2021 stattgefunden, informierte die Polizei Anfang 2022. Das bedeute einen grossen Mehr­aufwand für die Kantons­polizei. Doch die Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zeigte später, dass es gerade mal ein bisschen mehr als ein Dutzend Demonstrationen pro Jahr gibt in Basel. Der Rest ist alles andere an Protest, was sich im öffentlichen Raum halt so abspielt; auch die Mahnwache einer Einzel­person mit einem «Recht auf Leben»-Schild vor dem Kantonsspital.

Saali: Es ist zäh, dass ich als Anarchist inzwischen aufzeigen muss, dass unsere Polizei nicht professionell ist. Das ist die Mindest­kritik, die man an der Polizei haben kann: Ihr haltet euch nicht an eure eigenen Vorgaben, an eure Regeln, euren Auftrag, euren Amtseid. All das, was ihr an Auflagen bekommen habt, um in dieser Stadt zu funktionieren, stampft ihr gerade in den Boden. Unter anderem: Mindest­abstand bei Gummigeschoss­einsatz. Oder: Einsatz von Gummischrot nur als letztes Mittel; und nicht auf Kopfhöhe. Deeskalierend wirken. Ihr habt den Auftrag, einer Demo das Recht einzuräumen, stattzufinden, ob angemeldet oder nicht. Und einen Ablauf zu gewähren, der es ermöglicht, dass die freie Meinung geäussert werden kann.

Rita: Wo sind eigentlich die Liberalen? Die sollen die Grundrechte verteidigen. Das ist ja ihre Errungenschaft.

Saali: Die Grundrechte werden in Basel gerade sehr leichtfertig aufgegeben. Man hält eine kaputte Glasscheibe für weitaus gefährlicher für die Demokratie als das mit Gewalt­einsatz stark eingeschränkte Demonstrations­recht. Die Verhältnismässigkeit ist in Basel verloren gegangen. Was ist ein ausgeschossenes Auge wert? Verträgt eine Gesellschaft keine besprühte Wand, auf der «Scheiss Kapital» draufsteht? Solche Fragen stellt die Politik nicht mehr. Aber eine Polizei­vorsteherin muss sich doch überlegen: Welchen Schritt geht eine Polizei in der Eskalation, und was bedeutet das für die Zukunft?

Rita: Das kann man nicht genug betonen: Wer sich in Basel weiter das Recht nimmt, mit politischen Botschaften auf die Strasse zu gehen, muss damit rechnen, körperlich schwer verletzt zu werden, angeklagt zu werden, stundenlang verhaftet, auf der Wache gedemütigt zu werden. Sie sprechen in Basel von einer Strategie der Deeskalation. Im Gegenteil. Es ist eine Eskalations­strategie. Sie radikalisieren die Leute. Und dann heisst es bei der Frauendemo, die im Nachgang zum 8. März stattfand, sie sei «fast friedlich» gewesen.

Was war passiert?
Rita: Das Nicht­friedliche war eine abwaschbare Kreide­sprayerei auf einem Schaufenster. Manchmal wünschte ich mir, bei ihrem ständigen Gerede, jemand würde exemplarisch eine Ecke der Stadt mal wirklich in Schutt und Asche legen. Damit sie mit ihrer Kriegs­rhetorik mal sehen, was das eigentlich heisst. Stattdessen verhaften sie in Vollmontur Kinder, die einen Kreidespray auf sich tragen. Letztlich geht es auch um die Definitions­macht, was Gewalt ist. Gewalt ist eben die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit. Kreidespray auf einer Mauer – das ist noch nicht einmal Sach­beschädigung.

Fafa: Nach einer Frauendemo verhafteten tatsächlich sechs Polizisten in Kampfmontur eine 14-Jährige, führten sie in Handschellen ab, weil sie einen ungeöffneten, noch verpackten Kreidespray im Rucksack hatte. Sie war eine Schulkollegin meiner Tochter. Das geht unter den Jungen wahnsinnig rum: «Pass dich besser an, oder du wirst gedeckelt.»

Saali: Und wir müssen dafür täglich die Plakate anschauen, mit denen die SVP Basel vollkleistert. Wenn ich Unmengen an Geld hätte, würde ich vermutlich auch nicht auf die billigste Variante zugreifen, meine Botschaft zu verbreiten, eine Sprühdose. Dann würde ich die Stadt zukleistern mit meinen Meinungen. Die Perspektive der Kids trifft in Basel auf kein Verständnis: «Wie können wir uns artikulieren?» Die Inhalte, auch an den Demos, werden nicht zum Thema. Da wird nur geschaut: Wurde irgendwo ein Auto demoliert? Hat irgendwer einen Sticker geklebt? Wenn du etwas mit Inhalt füllst, fangen die Leute an zu reflektieren. Das haben die Behörden im Nachgang zu «Basel nazifrei» gelernt, denn da ist ihnen das Narrativ entglitten.

Was ist damals passiert?
Saali: Da hiess es auch: Dank Gummi­geschossen konnte Schlimmeres verhindert werden. Dabei war gar nichts passiert, bis die Polizei losschoss. Ausser dass Leute gegen Nazis demonstrierten. Sie haben gegen die Pnos demonstriert, eine rechts­extreme Partei. Einer der bekanntesten Pnos-Menschen, Tobias Steiger, hat dort vor Ort unbehelligt eine Rede gehalten, welche das jüdische Magazin «Tachles» als «die unverschämteste antisemitische Rede der vergangenen Jahrzehnte» bezeichnete. Doch die Polizei attackierte lieber die Gegen­demonstranten, statt die Rede zu unterbinden. Und die Staatsanwaltschaft hatte kein Interesse, einer Strafanzeige des Schweizerischen Israelitischen Gemeinde­bundes gegen Steiger nachzugehen. Nach über einem Jahr wurde dann plötzlich öffentlich, dass die Basler Staats­anwaltschaft extrem eifrig darin ist, Menschen zu verfolgen, die friedlich gegen Nazis demonstriert haben, aber absolut kein Interesse daran hat, Rechts­extreme zu verfolgen, die öffentlich antisemitische Reden halten.

Und jetzt?
Fafa: Es wird juristisch gegen den Polizei­einsatz vorgegangen. So viel ist schon mal klar.

Saali: Vielleicht sollten wir als Grauer Block wieder zum Polizei­posten gehen – mit der Zahnbürste schon dabei. Man solle uns prophylaktisch verhaften. Wir seien potenzielle Gewalt­täter. Das können wir schliesslich alle von uns sagen, egal, wo wir politisch stehen. Wenn dies das Kriterium ist, kann jeder Polizist jede Person, die in eine Bank reinläuft, angreifen und verhaften. Sie könnte ja eine Bank­räuberin sein. Und da sind wir beim 1. Mai in Basel: Es ist völlige Willkür, wenn du sagst: Wir schreiten prophylaktisch ein und behaupten, das könnte ja eine potenziell gewalttätige Demonstration sein. Aber das Absurde an diesem Fall ist ja, dass Basel tatsächlich ein Gewalt­problem hat: Das Gewalt­problem ist die Polizei.

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