Der Basel-Report – Teil 2

Polizei gegen Antifaschisten, am 24. November 2018 in Basel: Ermittelt die Staatsgewalt nur in eine Richtung? Roland Schmid

Wer eskaliert wen? Die Basler Staatsgewalt ausser Kontrolle

Hat das Vorgehen der Polizei überhaupt erst dazu geführt, dass die Anti-Nazi-Demonstration vor zwei Jahren eskalierte? Ein Polizeibericht und Videoaufnahmen werfen Fragen auf. Doch wer sich in Basel über einen Einsatz der Polizei beschwert, gerät selber ins Visier der Strafermittler. Der Basel-Report, Teil 2.

Von Anja Conzett und Daniel Faulhaber («Bajour»), 25.11.2020

Im Februar 2016, zweieinhalb Jahre vor der Demonstration gegen die Pnos, wird in Kleinbasel die Matthäus­kirche besetzt. Die Besetzer, eine Gruppe von Flüchtlings­helferinnen und Asyl­suchenden, die mit einer Ausschaffung nach Italien rechnen müssen, erbeten Kirchen­asyl, was ihnen gewährt wird.

Die Sache geht fast drei Wochen lang gut, dann räumt die Polizei die Kirche.

Die Reaktion: eine Solidaritäts­demo für die Geflüchteten. Zweimal versucht der Umzug eine der Brücken nach Grossbasel zu überqueren. Dort steht das Rathaus. Die Polizei verhindert das.

Beim zweiten Mal setzt die Polizei Gummi­schrot ein. Aus nächster Nähe, heisst es vonseiten der Demonstrantinnen. Video­aufnahmen bestätigen das. Eine ältere Frau wird im Gesicht getroffen.

Fünf Personen reichen daraufhin Anzeigen gegen die Polizei ein, wegen Unverhältnis­mässigkeit und der unnötigen Gefährdung sowie Verletzung von Zivilisten. Daraufhin werden sie von der Staats­anwaltschaft als Auskunfts­personen eingeladen.

Die Personen kommen der Einladung nach und geben Auskunft, im Glauben, damit eine polizei­interne Untersuchung des Gummischrot­einsatzes in Gang zu setzen. Stattdessen erhalten die Ankläger kurz darauf einen Straf­befehl wegen Landfriedens­bruchs und mehrfacher Störung von öffentlichen Betrieben.

Die Staatsanwaltschaft hat die Aussagen der Anklägerinnen gegen die Polizei als Beweis­mittel gegen sie benutzt. Sie seien an einer unbewilligten Demo gewesen und hätten sich strafbar gemacht. Die Betroffenen wurden nicht darauf hingewiesen, dass es aufgrund ihrer Aussagen zur Eröffnung eines Verfahrens gegen sie kommen könnte.

Das Gericht spricht alle fünf Angeklagten frei und kritisiert das Vorgehen der Staatsanwaltschaft.

Der Polizei wiederum wird nichts vorgeworfen. Die Untersuchung des Mittel­einsatzes wird schnell eingestellt.

IX. Der Mitteleinsatz

Gummischrot ist ein umstrittenes Mittel. In Deutschland ist der Einsatz weitgehend verboten, in Rumänien, Irland, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und Österreich komplett. In der Schweiz und in Basel gibt es klare Regeln, wann Gummi eingesetzt werden darf.

Diese besagen:

  • Es muss eine Mindest­distanz von 20 Metern eingehalten werden, die unterschritten werden darf, wenn es sich um eine Notwehr­situation handelt.

  • Es muss rechtzeitig eine Androhung erfolgen, damit die betroffenen Personen noch von sich aus den polizeilichen Anordnungen nachkommen können.

  • Der Einsatz muss verhältnismässig sein.

An diese Vorschriften müssen sich Polizisten halten. Auch an einem Tag wie dem 24. November 2018 – einem Tag, an dem die Gewerkschaften auf dem Theater­platz demonstrierten, die LGBTQI-Vertreter auf dem Claraplatz, sich die Pnos noch dazu auf dem Messe­platz kundtat und zwei Gegen­demonstrationen aufmarschierten, um den Rechts­extremen entgegenzutreten –, an einem Tag wie einem Pulverfass.

Ob der Mitteleinsatz bei der Anti-Pnos-Demo gerechtfertigt war, ob die Polizisten die Regeln eingehalten hatten, als sie mit Gummi auf die Gegen­demonstration schossen, wird seit längerem in allen Punkten infrage gestellt, unter anderem von der «Wochenzeitung».

Die Staatsanwaltschaft schreibt in die Anklage­schriften gegen die Demonstrantinnen, die Polizei habe sich gegen die Gefahr wehren müssen, überrannt zu werden. Das ist die zentrale Begründung für den Mitteleinsatz.

Was auf den Video­aufnahmen der Polizei ganz klar zu sehen ist: Die Gruppe war laut, sie war wütend. Aber auch: Die Gruppe hat sich nicht bewegt. Nichts deutet auf einen Angriff hin.

Das wirft die Frage auf: Wäre die Situation auch eskaliert, wenn die Polizei nicht mit Gummi geschossen hätte?

X. Das Ablenkungsmanöver

Nicht nur Angeklagte, Strafverteidiger und unbeteiligte Beobachterinnen des Geschehens erheben Zweifel am Vorgehen der Polizei. Sondern auch Polizisten selbst, die an diesem Tag im Einsatz waren.

«Diese Eskalation wäre nicht nötig gewesen. Die Demonstranten verhielten sich bis zu dieser Zeit friedlich. Sie hielten unsere Mindest­distanz ein, waren für eine gewalttätige Auseinander­setzung meiner Meinung nach nicht gerüstet, keine Steine bereit­gestellt, kein Pyromaterial dabei, kein Laser sichtbar.»

Das Zitat stammt aus dem Polizei­rapport, der der Republik und «Bajour» vorliegt. Der Beamte war während des Gummischrot­einsatzes an vorderster Front dabei. Im Rapport sagt er aus, die Situation sei eskaliert, nur weil dieser eine betrunkene Mann über die Trennlinie getreten sei. «Weil die Polizei zwingend einen Angriff von Links­extremisten gegen Demonstrations­teilnehmer der Pnos verhindern musste.»

«Die Stei wäre nid gfloge, wenn mir nid Gummi gä hätte»: Aussage eines Polizisten nach der Eskalation. Roland Schmid

Gummischrot auf mehrere hundert bis zu diesem Zeitpunkt friedliche Demonstrantinnen, weil ein einzelner Betrunkener vor dem Absperrband herumtänzelt?

Auf einer Videospur, die das Geschehen aus dem Hotel im Messeturm filmt, sind mindestens drei Beamte zu hören, die sich über den Gummieinsatz unterhalten.

Beamter 1: Gummi, Gopferdammi!

Beamter 2: Ebbe, dass sie abglänggt sind. Dass sie hinde ab chönd, die andere (die Teilnehmenden der Pnos-Kundgebung).

Beamter 1: Jä, das findi aber nid guet, hey.

Beamter 3: Worum bin ich immer dört, wos nid abgoht?

Beamter 1: Das begriffi nid ganz, wieso das Ablänkmanöver, das isch nid guet, hey.

Beamter 1: Ebbe jo.

Beamter 2: Was?

Beamter 1: Jo sie händ zerscht Gummi gschosse, ich weiss nid worum. Ich find das kei so guets Ablänkmanöver, um ehrlich z syy.

Beamter 2: Doch, dass die andere hinde use könne.

Beamter 1: Jojo, aber jetzt lueg, was abgoht. He? Stei fliege, jetzt warti nur no, jetzt …

Und nach ein paar Minuten:

Beamter 1: Das Gummischrot, das bini dr Meinig, das isch kontraproduktiv gsi. Die Stei wäre nid gfloge, wenn mir nid Gummi gä hätte.

Beamter 2: Händ si zerscht Gummi gä?

Beamter 1: Hejo.

Beamter 2: Wieso?

Beamter 1: Als Ablänggig, dass d Pnos fut chönd.

Beamter 3: Ych find das heikel, muess dr ganz ehrlich sage. Das isch jetzt knapp uffgange, sagi (lacht).

Gewalteskalation vonseiten der Polizei als Ablenkungs­manöver, damit die Pnos wegkann? Ein Demonstrant verliert permanent einen Teil seines Augen­lichts – wegen eines Ablenkungs­manövers? Und eine junge Frau muss vor diesem Hintergrund acht Monate ins Gefängnis?

Ist das noch verhältnismässig?

Ein pikantes Detail: In den Zusammen­schnitten der Staats­anwaltschaft, die bei den Prozessen gezeigt werden, sind die Ausschnitte der Aufnahmen aus dem Hotel im Messeturm – und nur genau diese Ausschnitte – ohne Ton.

Das Gericht geht beim Prozess, der mit acht Monaten unbedingt endet, nicht auf die Frage ein, ob die Polizei die Situation unrechtmässig eskaliert hat. Die Frage, von wem zuerst Gewalt ausgegangen sei, sei nicht «match­entscheidend», sagt der Richter in der Urteilsverkündung.

«Ein faires Verfahren beleuchtet alle Umstände der Geschehnisse», sagt Straf­verteidiger und SP-Grossrat Christian von Wartburg. «Auch der Polizei können bei ihren Einsätzen Fehler unterlaufen. Mich stört aber sehr, dass ein Einsatz selbst dann nicht sorgfältig analysiert wird, wenn gewichtige Anhalts­punkte vorliegen, dass dieser möglicher­weise unverhältnis­mässig oder fehlerhaft war.» Besonders stossend erscheine ihm, wenn gleichzeitig die Reaktion von Personen, die von einem solchen möglicher­weise problematischen Einsatz betroffen waren, akribisch untersucht und dann auch verfolgt werde.

Für von Wartburg ist klar, dass der Polizei­einsatz vom 24. November 2018 gründlich untersucht werden müsste. «Was es braucht, ist eine unabhängige und paritätische Stelle, die Unter­suchungen führt, bei denen am Ende nicht zwingend harte disziplinarische Massnahmen stehen sollen, sondern eine kompromisslose Aufarbeitung des Geschehenen.»

Immerhin zeichnen sich hier kleine Fortschritte ab. Ein Vorstoss zur Schaffung einer solchen Stelle wurde vom Basler Kantons­parlament Mitte Oktober an die Regierung überwiesen. Diese muss nun Stellung nehmen.

XI. Die Beweismittel des Basler Nachrichtendiensts

Sicher ist: Die Basler Strafverfolgung und ihr angeschlossene Behörden haben in der Vergangenheit einen problematischen Umgang mit dem von der Verfassung geschützten Recht auf freie Meinungs­äusserung und Versammlungs­freiheit gepflegt.

Nachweislich auch die Fach­gruppe 9 – der kantonale Nachrichten­dienst. Dieser hat eine unrühmliche Geschichte. 2008 wird bekannt, dass er Grossräte mit Migrations­hintergrund fichiert hat. Daraufhin wird ein in der Schweiz einmaliges Kontroll­organ eingesetzt, das die Arbeit des Nachrichten­diensts fortan überwacht. Dieses stellt 2010 fest, dass der Nachrichten­dienst automatisch sämtliche Personen verzeichnet, die in Basel eine Demonstration anmelden.

In einer Demokratie sind das unhaltbare Zustände. Das Kontroll­organ über den Staats­schutz Basel-Stadt unterbindet die Praxis. Doch die drei unabhängigen juristischen Fachleute, aus denen sich das Gremium aktuell zusammen­setzt, stellen 2018 bei Stichproben fest, dass sich der kantonale Nachrichten­dienst offenbar nicht an diese Anweisung gehalten hat und weiterhin Bürgerinnen als potenzielle Gefahr für die innere und äussere Sicherheit des Landes verzeichnete – Bürger, deren einziges Vergehen darin liegt, von ihrem Grundrecht zu demonstrieren Gebrauch zu machen.

Aufnahmen des Nachrichten­diensts tauchen auch in der Prozess­reihe «Basel nazifrei» immer wieder als Beweis­mittel auf. Das ist nicht unproblematisch, da der Nachrichten­dienst keine aktive Rolle in der Straf­verfolgung einnehmen darf. Die Verwendung seiner Beweis­mittel zur Identifikation von Täterinnen beschäftigt inzwischen auch das Kontroll­organ. «Wir kennen das Problem, aber die Lösung kennen wir noch nicht», sagt Markus Schefer, Staatsrechts­professor an der Universität Basel und Leiter des Kontrollorgans.

Die nachrichtendienstliche Zusammen­arbeit mit der Straf­verfolgungs­behörde bezeichnet Schefer als «alles andere als befriedigend». Das Problem, sagt er, sei hier aber nicht einfach ein nachrichten­dienstliches – «es ist vor allem auch ein strafprozessuales».

Der Grund: Der Nachrichten­dienst darf keine Auskunft darüber geben, wie er zu seinen Informationen kommt – nicht der Polizei, nicht der Staats­anwaltschaft, nicht der Justiz. «Der Richter weiss nicht, woher diese Beweis­mittel stammen, unter welchen Umständen sie entstanden sind. Und der Angeklagte kann das Beweis­mittel gar nicht infrage stellen – auch für ihn stellen die Bedingungen, unter denen das Beweis­mittel entstanden ist, eine Blackbox dar. Das darf nicht sein», sagt Schefer. «Ich bin erstaunt darüber, dass Straf­gerichte solche Beweis­mittel offenbar durchaus zulassen.»

Schefer beobachtet die Prozesse nicht nur aus der Perspektive des Kontroll­organs: «Das liegt jetzt wirklich nicht in diesem Mandat. Aber für mich als Aussen­stehenden entsteht der Eindruck, es werde hier mit ganz besonderer Akribie ermittelt.»

Doch das sei eine Frage, die man jemand anderem stellen müsse, sagt Schefer.

Die Frage: «Wo legt die Staats­anwaltschaft ihre Schwerpunkte?»

XII. Die Prioritäten

Gleich nach dem Artikel des Landfriedens­bruchs, der die Basler Justiz derzeit beschäftigt, folgt im Schweizer Straf­gesetz­buch ein anderer Tatbestand, der für die Aufarbeitung der Ereignisse des 24. November 2018 relevant sein könnte: Artikel 261bis – Diskriminierung und Aufruf zum Hass.

Darin heisst es unter anderem, dass bestraft wird, «wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung zu Hass oder zu Diskriminierung aufruft» oder «wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herab­setzung oder Verleumdung dieser Personen oder Personen­gruppen gerichtet sind».

Der Tatbestand dürfte Tobias Steiger, der die Pnos-Kundgebung vom 24. November organisierte, bestens bekannt sein. Schliesslich fordert die rechts­extreme Gruppierung, für die er die Sektion beider Basel führt, dessen Abschaffung.

Steiger, der sich mit gestreckter Faust neben dem Ku-Klux-Klan-Führer David Duke hat ablichten lassen, sagte im Frühling gegenüber einem Journalisten, dass es nur gerecht wäre, Juden zu sterilisieren, da diese im Zusammen­hang mit Covid-19 versuchen würden, die Weltbevölkerung zu dezimieren. Als der Journalist das nicht veröffentlicht, publiziert Steiger den Gesprächs­verlauf selbst.

Steiger hält an der Pnos-Kundgebung eine Rede. Die Aufzeichnung liegt der Republik und «Bajour» vor. Sie dauert dreissig Minuten.

Darin spricht er davon, dass Zionisten den Ersten Weltkrieg angezettelt hätten. Und auch den Zweiten Weltkrieg, der eine «selbst inszenierte Verfolgung» gewesen sei, um Palästina zu unterwerfen.

«Sie schaffen die Zustände wie in der Endzeit, damit ihr Messias kommen kann und sie, das auserwählte Volk, die Oberkaste darstellen. Und der Rest der Welt soll von acht Milliarden auf 500 Millionen reduziert und durchmischt werden mit afrikanischen und anderen Kulturen. (…) Die Juden heiraten nur unter sich und bleiben intelligent. Bei den anderen predigen sie freie Liebe, jeder mit jedem, bunt gemischt. Gopferdammi. Und so werden wir dümmer, das ist ihr Plan.»

Diese hasserfüllten Aussagen haben das Straf­gericht Basel-Stadt bislang nicht beschäftigt. Die Staats­anwaltschaft bestätigt, dass bei ihr Anzeigen vorliegen. Und verweist darauf, dass diese von Dritten eingereicht wurden.

Das ist erstaunlich. Denn der Verstoss gegen die Rassismus­strafnorm ist – wie der Landfriedens­bruch – ein Offizial­delikt. Die Strafverfolgungs­behörde muss den Fall also von Amtes wegen verfolgen, wenn sie davon erfährt. Dass die Rede Steigers der Straf­verfolgung vorliegt, kann angesichts des Polizei­aufgebots und der daraus resultierenden Dokumentierung in diesem Fall als gegeben gelten.

«Und so werden wir dümmer, das ist ihr Plan»: Der rechtsextreme Veranstalter der Pnos-Demo vom 24. November 2018 (Bild), der offen gegen Juden hetzte, blieb bislang unbehelligt. Roland Schmid

Warum hat die Staats­anwaltschaft nicht von sich aus ermittelt? Und warum liegt dem Gericht noch keine Anklage­schrift gegen die Pnos-Redner vor, während die Gegen­demonstrantinnen teilweise schon verurteilt sind?

Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten.

  • Die Basler Staats­anwaltschaft gewichtet die Verfolgung bei mutmasslicher Rassen­diskriminierung weniger dringlich als die Verfolgung mutmasslicher Teilnehmer einer unbewilligten Demonstration, die eskaliert.

  • Oder die Basler Staats­anwaltschaft erachtet es nicht als straf­rechtlich relevant, wenn jemand einer ethnisch-religiösen und historisch beispiellos verfolgten Minderheit unterstellt, dass sie die Menschheit um 7,5 Milliarden dezimieren will.

Da das Verfahren hängig ist, äussert sich die Staats­anwaltschaft nicht dazu.

Sicher ist: Bei den vorliegenden Anklage­schriften der Gegen­demonstranten erwähnt die Staats­anwaltschaft die Pnos nicht namentlich. Stattdessen ist lediglich die Rede von einer politischen Partei – als handle es sich dabei um eine CVP oder eine FDP.

XIII. Das Urteil

Der Staatsanwalt ist nicht zugegen, als der Richter das Urteil acht Monate unbedingt verliest. Während er seinen Entscheid damit begründet, dass eine politische Gesinnung nicht straf­mildernd sein kann, ruft einer der Angehörigen: «Du bist es, der ein Gesinnungs­urteil fällt.»

Der Mann wird des Saals verwiesen, der Richter fährt fort: «Gesinnungs­urteile haben wir nicht, stattdessen werden hier Rechts­güter geschützt …» Viel weiter kommt er nicht. Dieses Mal ist es eine Frau, die ruft: «Die verdammte Pnos wird hier geschützt, nichts weiter!»

Auch sie wird des Saals verwiesen.

Der Anwalt der Angeklagten drückt sich diplomatischer aus. Die Prozesse bezeichnet er in seinem Plädoyer als eine «gezielte Repression gegen Kreise, die zwar stark in der Zahl, aber schwach in Mitteln seien».

Es ist nicht das erste Mal, dass der Basler Staats­anwaltschaft vorgeworfen wird, selektiv zu sein, wenn es darum geht, Demonstrantinnen wegen Landfriedens­bruchs anzuzeigen. Bei mehreren Demonstrationen, bei denen es zu Ausschreitungen kam, waren lokale Politiker zugegen, die auch offen dazu standen. Gegen sie wurde nie Anklage erhoben.

XIV. Der Widerstand

«Kein Zweifel: Die Repression geht ganz gezielt gegen Junge», sagt Frank Blass. Er ist Teil des Grauen Blocks: eines Zusammen­schlusses älterer Männer und Frauen, die schon 1968 und in den 1980er-Jahren auf die Strasse gingen. Und die sich im Nachgang zu den «Basel nazifrei»-Prozessen neu organisiert haben.

Auch der Graue Block hat am 24. November 2018 gegen die Pnos demonstriert, stand ebenfalls da, als die Gummi­geschosse der Polizisten mit Bierbüchsen und Steinen erwidert wurden.

Deshalb sind am 22. November 2019 ungefähr 60 von ihnen auf dem Polizei­posten aufmarschiert, um zu deklarieren, dass auch sie an dieser Demonstration teilgenommen haben. «Wir sind empört, wir sind entsetzt», sagt Blass. «Die Demonstration wurde von uns allen getragen – vom Kind bis zum 80-Jährigen war alles dabei –, das Gummi galt uns allen. Aber ermittelt wird dann nur gegen die Jungen.» Die Staats­anwaltschaft widerspricht dieser Darstellung und weist sie als «haltlose Behauptungen» zurück. Sie sei verpflichtet, Straftaten zu verfolgen, unabhängig davon, welche Person oder welche Gruppierung sie begangen hätten.

Ein Jahr ist seit der Selbstdeklaration vergangen. Seither treffen sich die Jungen und die Alten regelmässig zu Sitzungen. Was die Alten beitragen: Erfahrung. Und Mittel.

Überhaupt ist die Bewegung «Basel nazifrei» stetig gewachsen. Auch über die Kantons­grenzen hinaus. Die Solidarität mit den Angeklagten von Basel ist gross, breit – und bemerkens­wert gut organisiert.

In Zürich hat sich eine Bewegung formiert, die mit einem spektakulären Spenden­aufruf 500’000 Franken sammeln will – die Höhe der Basler Prozess­kosten. Es sei offensichtlich, dass es hier um eine Kriminalisierung der «antifaschistischen Bewegung» gehe, sagt ein Initiator, und darum, die Leute abzuschrecken, überhaupt auf die Strasse zu gehen.

«Ein solcher Prozess kostet richtig viel Geld, und deswegen müssen wir uns organisieren», sagt der Aktivist und klickt durch die Website, wo man bequem via SMS, Kreditkarte, Twint oder Postcard spenden kann. Diese Woche soll zusätzlich ein Crowdfunding anlaufen.

Bei fast allen Prozessen versammeln sich Demonstrantinnen vor dem Strafgericht. Am Montag, an dem die 28-jährige Frau acht Monate unbedingt erhält, sind es über 80 Personen und sechs verschiedene Gruppierungen, die sich auf Transparenten solidarisch bekennen: Klima­jugend, Antifaschisten, radikale Feministinnen, der Revolutionäre Aufbau, «Basel nazifrei» und der Graue Block.

Es scheint, als hätten die Prozesse und die harten Urteile die Szene nicht entmutigt, sondern mobilisiert.

Natürlich sei es nicht immer einfach, es raube Zeit und Energie, die man auch anders nutzen könnte, sagen Leo und Mira. Beide sind Angeklagte in den Prozessen und heissen eigentlich anders. «Aber wir versuchen, die Repression, die wir erleben, in politische Energie umzuwandeln.»

Kommenden Samstag, 28. November, wird in Basel wieder demonstriert. Dann jährt sich die Demonstration gegen die Pnos zum zweiten Mal. Trotz der laufenden Verfahren und des damit verbundenen Risikos, noch härter angegangen zu werden, wollen Leo und Mira hingehen.

«Es geht nicht um uns. Es geht darum, dass niemand still sein kann, wenn in unseren Städten menschen­verachtende Ideologien propagiert werden, die für so viel Gewalt in dieser Welt verantwortlich sind. Wenn Nazis aufmarschieren, gibt es keine Neutralität und kein Wegschauen», sagen sie.

Von 2018 auf 2019 hat die Zahl der Demonstrationen in Basel um mehr als ein Drittel zugenommen – von 97 auf 133. Eine Entwicklung, die sich weit über die Grenzen des Stadt­kantons abzeichnet.

Ob Black Lives Matter, Frauen, Kurdinnen, Abtreibungs­gegner oder -befürworterinnen, Klima­jugend, Arbeiterinnen, Antifaschisten oder Menschen, die ihre Freiheit wegen einer Masken­pflicht bedroht sehen – die Strassen sind bewegt, wie sie es seit Jahrzehnten nicht waren.

Die Proteste werden angesichts der Weltlage in absehbarer Zeit vermutlich nicht weniger, sondern mehr. Und man muss sich fragen, wem gedient ist, wenn die Antwort wie in Basel lautet: möglichst viel Repression und Kriminalisierung.

Zur Kooperation mit «Bajour»

Am Prozess, an dem die 28-Jährige zu acht Monaten unbedingt verurteilt wurde, waren unabhängig voneinander zwei Journalisten akkreditiert. Anja Conzett für die Republik und Daniel Faulhaber für «Bajour». Als das ungewöhnlich harte Urteil feststand, entschieden Conzett und Faulhaber, ihre Recherchen zusammen­zulegen und einen gemeinsamen Hintergrund­beitrag zu schreiben, der in beiden Medien erscheint. Daniel Faulhaber ist Preisträger der Kategorie Newcomer des Zürcher Journalisten­preises, seit sechs Jahren Journalist in Basel, seit 2019 bei «Bajour». Er hat mehrere Prozesse in der Reihe «Basel nazifrei» besucht und war an der Demonstration vom 24. November 2018 als freier Reporter vor Ort.

Der Basel-Report

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